Querfront: Ihr Weltdeutungsangebot

Ihr Weltdeutungsangebot – Seite 1
„Normale
Menschen wollen keinen Krieg“ war auf einem Plakat der Berliner Demonstration Aufstand
für den Frieden
zu lesen. Ein schöner Satz, und auch wahr. Allerdings tobt unter normalen
Menschen gerade ein Krieg der Worte um den Frieden in der Ukraine. Welcher
Frieden ist gemeint? Ein gerechter Frieden? Ein Diktatfrieden?
In
der liberalen Öffentlichkeit ernten Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer, Alice
Weidel und Björn Höcke für ihre Haltung zum Ukraine-Krieg erbitterten
Widerspruch.
Doch treten Wagenknecht-Linke und nationale Rechte im Kreis von Gleichgesinnten
auf, schlägt ihnen Begeisterung entgegen. „Von deutschem Boden darf nie wieder
Krieg ausgehen“, rief Höcke im Oktober vergangenen Jahres in Gera, und die
besorgten Bürger jubelten. Auch Wagenknecht kann sich über fehlenden Zuspruch
nicht beklagen. Warum ist das so? Der Wunsch nach einem Ende des Krieges allein
kann es nicht sein. Dafür gibt es zu viel politisch Ungesagtes.
Was
also bieten AfD und Wagenknecht-Linke, was andere nicht bieten? Es ist ihr
Weltdeutungsangebot, mit dem sie den Anspruch erheben, sie könnten die
verwirrende Gegenwart auf einen Schlag verständlich machen. In dieser
diagnostischen Handreichung steht die Rolle des Schurken unverrückbar fest: Es
ist, wer sonst, der scheinheilige Westen, seine imperiale Arroganz, sein
missionarischer Liberalismus. Putin habe zwar auch Schuld am Krieg, aber nur
ein klein bisschen. Schon seltsam. Eigentlich müsste Sahra Wagenknecht einen
völkischen Rechten wie Höcke aus ganzem Herzen verachten. Doch reden die beiden
über Putins Angriffskrieg, klingt es so, als zögen sie an einem Strang.
Der
Weg zum Weltdeutungsangebot führt über die Sprache. Sahra Wagenknecht ist eine
brillante Rednerin. Im Gegensatz zum fransigen Flokatideutsch alter BRD-Linker
sind ihre Sätze von schlagender Klarheit. Spricht Wagenknecht über die Ukraine,
wählt sie eine Form dichter Beschreibung, eine unterkühlte, stakkatoartige
Aufzählung westlicher Missetaten. Endlos ist für sie die Kette der Demütigungen
gegenüber Russland. Maßlos war die Osterweiterung der Nato; bodenlos die
Heuchelei, mit der die USA im Irakkrieg das Völkerrecht brach und den Nahen
Osten ins Chaos stürzte. Und bei den Maidan-Protesten 2013 hatte Washington
ebenfalls seine Hand im Spiel.
Schuldverkleinerungsdiskurs
Die
rhetorische Wirkung bleibt nicht aus. In Wagenknechts blame game entsteht nach
wenigen Sätzen ein historisches Tableau, bei dem die militärische Eskalation
mit Händen zu greifen ist. Der kommende Krieg liegt hier schon in der Luft und
wartet nur darauf, von jemandem begonnen zu werden. In einem Interview aus dem Februar bemerkte Wagenknecht: „Teile des politischen Establishments der USA haben es geradezu darauf angelegt,
dass der Konflikt militärisch eskaliert. Es war immer klar, dass Russland nicht
hinnehmen wird, dass die Ukraine ein militärischer Vorposten der Vereinigten
Staaten wird.“ Auch wenn Wagenknecht einräumt, dass Putin das Völkerrecht
gebrochen hat, schrumpft sein damaliger Handlungsspielraum fast gegen Null. Der
imperiale Westen, scheint sie sagen zu wollen, hat jenes Ungeheuer des Krieges
gemästet, das von Russland entfesselt worden ist. Putin ist schuldig im Sinne des
Völkerrechts. Allein verantwortlich ist er in dieser Lesart nicht.
Wie
sehr es Wagenknecht um die Schuldfrage geht, zeigt auch ihre empathiearme Rede
vom Krieg. Sie leugnet nicht das Grauenhafte und Unmenschliche; die
systematische sexuelle Gewalttat der russischen Armee bezeichnet sie als „Übergriffe“,
diese seien „grässlich“ und „schauerlich“. Mit maskenhafter Ungerührtheit betont
sie, dass „Kriege immer mit Kriegsverbrechen verbunden sind, das ist doch nicht
nur in diesem Krieg so“. Deshalb sei es „müßig“, darüber zu sprechen, „welche
Seite mehr Verbrechen begeht“. Diese anonymisierende Sicht erklärt auch die
viel kritisierten Passivkonstruktionen in ihrem Manifest: „Frauen wurden vergewaltigt,
Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert.“ Als Markus Lanz im ZDF von Wagenknecht wissen wollte, ob Putin eine Kriegsrede gehalten
habe, bejahte sie seine Frage: „Er befindet sich ja auch im Krieg.“ Was heißt
das? Ist Putin der Krieg tragischerweise nur zugestoßen?
Unterm
Gejohle des Publikums hat der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke unlängst
Sahra Wagenknecht aufgefordert, sie möge bitte in seine Partei eintreten, man
heiße sie dort sehr willkommen. „Diese Frau ist auf einem guten Weg.
Machen wir gemeinsam Deutschland zur Friedensmacht.“ Höcke weiß, wie man einen Keil in die Linke
treibt, Platz ist ja genug. Ebenso gut hätte er den russischen
Rechtsextremisten Alexander Dugin zitieren können, der Wagenknecht
für ihre Leidenschaftlichkeit lobt und den taktischen Schulterschluss zwischen
Linken und Rechten fordert, weil der Liberalismus nur querfrontmäßig überwunden
werden könne.
Höcke scheint jedenfalls Gefallen gefunden zu haben an
Wagenknechts Schuldverkleinerungsdiskurs, und dann sagt er Sätze wie diesen: „Der Zweite Weltkrieg hat viele Väter, der Ukraine-Krieg hat auch viele Väter.“
Wieder geht es um Schuldminimierung, auch für Höcke ist Putin nur ein „Beteiligter“ im Spiel der Mächte. Nach dem Fall der Berliner Mauer habe der
Westen Russland ausgebeutet und die Nato ihre Macht bis an die Schmerzgrenze ausgedehnt. Als Putin „nach langem, langem Zögern auf die Offensive einer raumfremden Macht reagierte“ und sich „dem letzten
entscheidenden Schritt entgegenstellte“ – der Nato-Mitgliedschaft
der Ukraine –, sei er geächtet worden und gelte als Aggressor.
Deutschland in der Opferrolle
Allerdings räumt auch Höcke ein, dass Putin das Völkerrecht gebrochen
hat. Doch so oft, wie er dabei auf den Nazijuristen Carl Schmitt anspielt,
scheint der Skandal für ihn nicht allzu groß zu sein, denn unterm abstrakten
westlichen Völkerrecht liegt für deutsche Rechte bekanntlich die konkrete
heilige Erde. So rechtfertigte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland die
Krim-Annexion 2014 mit der Erklärung, Putin habe den Verlust seiner „Keimzelle“, des „heiligen Kiew“, nie verwunden und sich deshalb „auf
eine alte russische, zaristische Tradition besonnen: auf das Einsammeln
russischer Erde“. Auch die Vereinigten Staaten hätten Texas nicht durch
eine Volksabstimmung von Mexiko gewonnen. Nur postheroische Gemüter, meinte Gauland, hätten
dafür kein Verständnis.
Was
lernt man aus allem? Die Wagenknecht-Linke und die nationale Rechte malen das
big picture einer Systemkonfrontation, in der Wladimir Putin einen Krieg führt,
der ihm vom Westen mehr oder weniger aufgezwungen worden ist. Deutschland, die
Nation in der Mitte Europas, erscheint dabei als Opfer, das zwischen die
Mühlsteine einer globalen Auseinandersetzung geraten ist, von der seine
Interessen in keiner Weise berührt werden („nicht unser Krieg“). An seiner
Opferrolle sei Deutschland allerdings nicht unschuldig. Es hat sich, so ruft
Höcke in Gera und Dresden allen Reichsbürgern zu, nie aus seiner Vasallenrolle
befreit, es ist „nicht souverän“ und darf kein „Brückenbauer“ zwischen West und
Ost sein. Auch für Alice Weidel „droht Deutschland zwischen den Großmächten
zerrieben zu werden“. Und für Oskar Lafontaine („Frieden statt Nato“) ist
Deutschland seit Langem ein bedauernswerter Vasall, ein subalterner Teil des
amerikanischen Protektorats. „Dass Deutschland kein souveränes Land ist, wurde
wieder deutlich, als US-Kriegsminister Lloyd Austin in Ramstein zu einer
Konferenz einlud, in der die Vasallenstaaten ihren Beitrag zum Ukraine-Krieg
liefern mussten“, sagte er im August 2022.
Pflichtschuldig, in seiner ganzen
selbst verschuldeten Unmündigkeit, übergibt Deutschland dem US-Sieger die
verlangte Opfergabe und zerstört im Gegenzug die eigene Wirtschaft. Aus dem
Mund von Björn Höcke klingt der Vorwurf so: „Die US-amerikanische Regierung hat
der deutschen Regierung den wirtschaftlichen Selbstmord befohlen, und Scholz
und Co. führen den Befehl aus“. Eine Spur zurückhaltender intoniert Sahra
Wagenknecht den links-rechten Opfernationalismus; auch in ihrer Sicht profitiert
die kapitalistische Vormacht Amerika davon, dass Deutschland seine nationalen
Interessen einer verheerenden Ukraine-Politik opfert. „Und wer ist der lachende
Dritte?“, fragt sie rhetorisch und gibt
direkt die Antwort: „Die USA, deren Frackingindustrie mit jedem
Flüssiggastanker aktuell 200 Millionen Dollar Gewinn einstreicht und die eine
Reindustrialisierung erleben (…) Wir zerstören unsere Industrie und unsere
Mittelschicht, das ist doch Wahnsinn!“
Russland als der große Andere
Vielleicht
kann man es so sagen: Beim Kampf um eine gemeinsame Wählerschicht benutzen AfD
und Wagenknecht-Linke den ukrainischen Unabhängigkeitskrieg als
Projektionsfläche für eine radikale, von ihrem jeweiligen Weltbild abgesicherte
Gesellschaftskritik, die mal die sozial Deklassierten, mal die kulturell
Verunsicherten ins Visier nimmt. Gleichsam arbeitsteilig suchen sie nach
Gegenentwürfen zu einem Liberalismus, dessen Zustand Wagenknecht als schreiend
ungerecht und Höcke als empörend dekadent empfindet.
An
dieser Stelle kommt Russland ins Spiel. Wenn nicht alles täuscht, dann ist die
Heimat der kommunistischen Weltrevolution für Wagenknecht immer noch eine vage
Hoffnung, das große Andere zu den Klassengesellschaften des unheilbar
kapitalistischen Westens. Zugleich räumt sie ein, dass im Land ein unsympathischer „Oligarchenkapitalismus“ herrscht, doch das sei in der Ukraine kaum anders.
Über Putins Neoimperialismus scheint die Antiimperialistin nur ungern zu
reden. Täte sie es, würde ihre Behauptung unglaubwürdig, die USA trügen die
Hauptschuld am Krieg.
Anders
Björn Höcke. Er hat an Putins eurasischer Ideologie einen Narren gefressen,
weder am Oligarchenkapitalismus noch an der kryptofaschistischen Synthese aus
Kirche und Polizeistaat nimmt er groß Anstoß. Wie zuvor Wagenknecht, bezeichnet
er den Ukraine-Krieg als Stellvertreterkrieg, genauer: als „existenzielle
Auseinandersetzung der russischen Zivilisation mit einer raumfremden Macht“.
Die raumfremde Macht, man ahnt es, ist der Liberalismus, es ist das sittlich
verwahrloste „Regenbogenimperium“ mit Amerika als Kernland und Deutschland als
wichtigstem Brückenkopf in Europa. Von dieser Verschwörungserzählung angeregt, hat sich ein Thüringer AfD-Abgeordneter
bereits erkundigt, „welche Rolle die jüdische Komponente im Ukraine-Konflikt“ spielt.
Westliche Doppelmoral
In
Höckes Endkampf zwischen Gut (der Osten) und Böse (der Westen) erscheint Putin
als Aufhalter, als last man standing auf der Bühne der Weltgeschichte.
Heldenhaft wirft er sich der drohenden liberalen „Einheitszivilisation“
(Homoehe, Diversity, Gendersternchen) entgegen und leistet Widerstand gegen die
Verwandlung abendländischer Völker „in die gesichtslose Masse von perfekt
durchmaterialisierten Konsumfaschisten“.
Am Schluss seiner Rede in Gera beschenkt Höcke sein Publikum mit privatem
Bonusmaterial und verrät, wie er sich „persönlich“ entscheiden würde, hätte er
die Wahl zwischen dem kalten Liberalismus des Westens und der metaphysischen
Wärme des seelenverwandten russischen Ostens – er ginge, kein Witz, in den
traditionellen Osten („Dostojewski!“). Nur fürs Protokoll: Der Vordenker einer
im Deutschen Bundestag vertretenen Partei fühlt sich zu einem russischen
Großinquisitor hingezogen, der die Wahrheit durch Lügen ersetzt und mit
Rachejustiz, Staatsterror, Geschichtsfälschung, Gehirnwäsche, Zensur, Straflagern
und Ermordung von Oppositionellen alles freie demokratische Leben
zerquetscht. Den christlich-orthodoxen Segen spendet ihm ein selbst gesalbter,
satanisch verlogener Patriarch, der im Namen Gottes das Töten heiligspricht.
Allerdings wird man
mit moralischer Empörung solch weitverbreiteten
Querfront-Provokationen nicht beikommen. Man muss die Systemfragen aufgreifen
und versuchen, eigene Antworten auf die „unterirdische“ Schnittmenge zwischen
linker und rechter Liberalismuskritik zu finden. Zunächst einmal: Es hat der
Debatte nicht geschadet, dass Wagenknecht, wenngleich mit durchschaubarer
Absicht, auf die Scheinheiligkeit des Westens im Umgang mit dem Völkerrecht
aufmerksam gemacht hat, auf die Doppelmoral beim Ruf „Recht vor Macht“. Damit
ist sie nicht allein. Selbst sendungsbewusste Westler müssen zugeben, dass die
dreiste Lüge, mit der die Vereinigten Staaten ihre Irak-Intervention als „Demokratisierungsprojekt“ verkauften, dem Liberalismus im Ansehen der Welt
bleibenden Schaden zugefügt hat. Nun soll sich Wladimir Putin für Kriegsverbrechen in der Ukraine vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Keiner der für die völkerrechtswidrige Irak-Invasion verantwortlichen US-Politiker ist je zur Verantwortung gezogen worden.
Unvergessen ist auch die
Finanzkrise 2008, der größte Crash seit der Großen Depression in den
Dreißigerjahren. Das spektakuläre Finale der neoliberalen Weltanschauung war
kein Naturereignis, sondern verdankte sich einer politisch gewollten
Deregulierung, die Bankern einen Freibrief ausstellte und sie anschließend
straflos davonkommen ließ. Auch der Globale Süden musste dafür bezahlen, und
so wuchs der Zweifel daran, ob der freilaufende Kapitalismus des Nordens
tatsächlich die höchste Gesellschaftsstufe in der Entwicklung der Menschheit
darstellt.
Kein Zweifel, es ist die westliche
Doppelmoral, die den naturbelassenen Antiamerikanismus von Höcke und
Wagenknecht mit empirischem Material versorgt. Doch ausgerechnet Wagenknechts
Parteigenosse Paul Schäfer zeigt, wie man es vermeidet, im Ukraine-Krieg daraus
die falschen, nämlich moralisch obszönen Schlüsse zu ziehen. Schäfer kennt das
westliche Sündenregister auswendig, auch er klagt über Amerikas
Scheinheiligkeit und verweist auf die oft ebenso unkluge wie herablassende
Haltung europäischer Politiker gegenüber der Russischen Föderation. Der größte
Fehler der Nato-Mitgliedstaaten sei es gewesen, dass sie es nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion versäumt hätten, zusammen mit der OSZE eine
gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln. Doch all die
Versäumnisse, Kränkungen und Unterlassungen änderten nichts am wahrhaft
Ungeheuerlichen: „Kriegerische Gewalt“, so Schäfer in seinem Aufsatz über Das Elend linker Legenden,
ging „ausschließlich von Russland aus“, auch wenn Putins hierzulande gern
nacherzählten Geschichtsfälschungen etwas anderes behaupteten. „Wenn manche
Linke nun von Geopolitik und Stellvertreterkrieg sprechen, verwischen sie den
Unterschied von Tätern und Opfern.“ Für Wagenknecht und Höcke sind die USA das
Herz der Finsternis. Für Schäfer sind sie die einzige Macht, die imstande ist,
die Souveränität der Ukraine zu schützen.
Unrealistischer Realismus
In
dieser unklaren Gemengelage, könnte man meinen, bieten nur Liberale eine
überzeugende Antwort auf die Systemkritik von links und rechts. Kein Wunder,
dass sie triumphieren, denn die Ukraine, sagen sie, verteidigt ja „unsere
Werte“, und nachdem der Westen eine Weile im freiheitsvergessenen Dämmer versunken
sei, kenne nun jedes Kind den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur. Mit
einem Wort: Für Liberale besteht Realpolitik einzig und allein darin, in einer
Welt rivalisierender Blöcke das Bewährte zu verteidigen – den Westen, seine
Werte und den freien Markt sowieso. Putins Panzer haben das Völkerrecht überrollt.
Wer jetzt immer noch vom kosmopolitischen Paradies träume, der werde in der
Hölle des Realen erwachen.
„Unsere
Werte“: Nach dem Schock des Krieges ist dieser Realismus nur allzu
verständlich, aber realistisch ist er nicht. Er unterschlägt, dass der Westen
den Konflikt zwischen Demokraten und Autoritären auch in sich selbst austrägt;
sogar im Herzland des Liberalismus, in den USA, sind Systemsprenger am Werk.
Zunächst also müssten liberale Realisten sich fragen, warum im freien Westen
rechte Führerinnen und Führer als Erlöser gefeiert werden – Trump, Le Pen,
Meloni e tutti quanti. Wovon sollen sie erlösen – von „unseren Werten“?
Herausfinden müsste man auch, warum sich Länder des Globalen Südens im
Ukraine-Krieg gegenüber dem transatlantischen Bündnis auffallend neutral
verhalten, darunter auch demokratische Staaten. Warum verteidigen sie nicht „unsere Werte“? Weil sie den Appell an Völkerrecht und Menschenrechte für
scheinheiliges Getue halten angesichts westlicher Gleichgültigkeit gegenüber
anderen Kriegen, zum Beispiel dem im Jemen? Weil sie den Krieg in der Ukraine
törichterweise als Konflikt zwischen den Imperialisten des Nordens
missverstehen? Wenn ja – wie kommen sie darauf?
Es
gibt noch mehr Fragen, die liberale Realisten angesichts der Weltordnungskrise
beantworten sollten, falls sie das Feld nicht der Wagenknecht-Linken oder den
nationalen Rechten überlassen wollen. Was genau versteht „der Westen“ unter
seinen fabelhaften universalistischen Werten? Gelten sie immer und überall oder
nur jeweils dann, wenn sie mit eigenen Interessen harmonieren? Wie begründet er
sie gegenüber jenen, für die die Menschenrechte nichts anderes sind als Lock-
und Botenstoffe zur Eroberung neuer Märkte?
Und weiter: Wie lässt sich ein
globales Rechtssystem demokratisieren, das derzeit so transparent ist „wie eine
Schüssel Spaghetti“, wie es die Juristin Katharina Pistor formuliert? Ein
Rechtssystem, das es den Reichsten der Reichen erlaubt, sich der Refinanzierung
ihrer Gemeinwesen zu entziehen. Oder um das Undenkbare zu denken: Wie sieht
eine Welt aus, in der ein demokratisches, über seine unverzeihlichen Verbrechen
aufgeklärtes Post-Putin-Russland dabei behilflich ist, die gefährlichste
Hypermacht der Welt zu bekämpfen – die Erderhitzung?
Es
stimmt, normale Menschen wollen keinen Krieg. Auch keinen gegen die Natur.