Prozess um Sean Combs: Der mutmaßliche Pate
Jahrzehntelang, so beginnt die Anklageschrift gegen Sean Combs, habe dieser „Frauen und andere um ihn herum missbraucht, bedroht und
genötigt, um seine sexuellen Bedürfnisse zu erfüllen, seinen Ruf zu schützen
und sein Verhalten zu verbergen“. Dafür habe Combs sich „Angestellter,
Ressourcen und des Einflusses des vielschichtigen Geschäftsimperiums bedient,
das er anführte und kontrollierte“. Im Zuge dessen habe Combs eine kriminelle
Unternehmung erschaffen, „deren Mitglieder und Partner“ an Verbrechen „wie Menschenhandel
zur sexuellen Ausbeutung, Zwangsarbeit, Entführung, Brandstiftung, Bestechung
und Behinderung der Justiz“ beteiligt gewesen seien.
Diese Sätze klingen, als sei der Mann, der früher besser
unter den Künstlernamen Puff Daddy und P. Diddy bekannt war und ab Montag in
New York als Angeklagter vor Gericht steht, ein Mafiapate. Und genau dieser
Eindruck ist offenkundig beabsichtigt: Punkt eins der Anfang April noch einmal erweiterten Anklageschrift (PDF) wirft dem
mindestens einstweilen ehemaligen Musikproduzenten, Rapper und Multiunternehmer
„bandenmäßige Verschwörung“ vor, mithin die Bildung einer kriminellen
Organisation. Es ist so etwas wie die Grunderzählung, in die die Anklage
eingebettet ist.
Anders, als es bei sogenannten Rackeetering-Anklagen in den
USA sonst der Fall ist, soll die Bandenbildung hier nicht zum gewerbsmäßigen
Begehen von Straftaten wie Schutzgelderpressung, Drogenhandel oder illegalem
Glücksspiel gedient haben, zu dem also, was man mit organisierter Kriminalität
üblicherweise verbindet. Das Unterfangen soll allein der Befriedigung der
„sexuellen Bedürfnisse“ eines Einzelnen – nämlich Sean Combs – gedient haben,
wie es am Beginn der Anklageschrift noch sehr höflich umschrieben ist. Die
anderen vier Anklagepunkte, darunter Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung,
ebenso wie die anfangs unterstellten weiteren Straftaten, wirken geradezu wie
bloße Geschäftsmethoden, damit Combs bekam, wonach ihm angeblich war.
Diese juristische Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft von
New York ist neuartig, jedenfalls für einen mutmaßlichen MeToo-Fall, um den es
im Kern bei der Anklage gegen Combs geht. Drei namentlich nicht genannte Opfer
sind in der Anklageschrift aufgeführt. Seit der ursprünglichen Erhebung der
Anklage und der Festnahme Combs‘ im September 2024 ist diese sukzessive
erweitert worden um einzelne konkrete Vorwürfe gegen Combs, die letztlich alle
auf Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt hinauslaufen – deren Ermöglichung,
Durchführung und Vertuschung. Hinzu kommt eine mittlerweile unüberschaubare Zahl
an Zivilklagen gegen Combs, mehr als 60 sollen es sein, in denen ihm
Klägerinnen und Kläger die Verübung vergleichbarer Delikte vorwerfen; ob diese
Klagen substanziell gerechtfertigt sind, ist nicht Gegenstand des anstehenden
Strafprozesses. Sean Combs streitet alle Vorwürfe ab.
Mit dem Grundvorwurf organisierter Kriminalität stützt die
Anklageschrift gegen Sean Combs in einem Strafverfahren eine These, die seit
MeToo diskutiert wird: MeToo-Vergehen – nicht alle sind strafbewehrt, fast alle
sind schwer zu beweisen – wurde oft etwas Systemisches nachgesagt. Männer (es
waren fast nur Männer), zumal berühmte, einflussreiche und vermögende, würden
sich patriarchale Strukturen zunutze machen, die ihnen Macht über insbesondere
Frauen ermöglichen würden.
Die Anklage gegen Combs unterstellt sogar, dass er eigens eine Organisation erschaffen habe, die es ihm ermöglichte, die mutmaßlichen
Verbrechen zu begehen. Nun ist es so, dass Combs früh verschiedene Firmen gegründet hat, etwa 1993
Bad Boy Entertainment respektive Bad Boy Records, die sich zunächst vor allem
um Musik drehten, seine eigene und die von anderen. Das war ab den
Neunzigerjahren im Musikgewerbe gar nichts Außergewöhnliches: Gerade
erfolgreiche Musiker oder Bands betrieben von nun an eigene Plattenfirmen, die
großen Majorlabels brauchten sie bloß noch zum Vertrieb ihrer Musik. Folgt man
der Logik der Anklageschrift, boten die veränderten Strukturen der
Musikindustrie Combs aber geradezu ideale Voraussetzungen, um sie in einem
verbrecherischen Sinne umzufunktionieren. Combs‘ Lockstoffe waren Ruhm und
Reichtum, und Menschen sind ihnen gefolgt, auch Frauen, mindestens eine der in
der Anklage als Opfer aufgeführten Frauen hatte jahrelang eine Beziehung mit Combs.
Die Anklage gegen ihn besagt, dass spätestens ab 2008 –
so weit reicht die früheste ihm zur Last gelegte Tat zurück – dessen
Firmengeflecht Teil einer verbrecherischen Infrastruktur wurde. Zu der sollen
auch weitere Mitarbeitende gehört haben, die man als wohlhabender Star wie Combs so hat,
Hausangestellte etwa oder persönliche Assistentinnen. Auch von diesen Menschen
darf man annehmen, dass sie nicht in die Dienste Combs‘ eingetreten sind mit
dem Willen oder Vorsatz, Teil einer kriminellen Vereinigung zu werden. Von Combs‘
einstigen oder aktuellen Mitarbeitenden ist niemand angeklagt.