Protokoll | Berichte aus Gaza: „Wir fliehen weiterhin von Tod zu Tod“

Aus dem Süden des Kriegsgebietes beschreibt Rami Abu Reda, wie seine Tochter versucht, trotz allem ihr Abitur zu machen. Im Norden hofft Deeb Elqumssan, noch rechtzeitig in den Süden zu kommen


Laya macht in einem Internetcafe in Gaza ihr Abitur

Foto: Foto: Rami Abu Reda


Seit einer Woche begleitet Rami Abu Reda seine Tochter Laya jeden Tag zu den Abiturprüfungen. Dass sie überhaupt stattfinden können, erscheint Laya wie ein lang erhofftes Wunder. Seit Kriegsbeginn wurden sie immer wieder verschoben. Für einen Platz im Internet-Café zahlt man 25 Dollar. Eine Garantie, dass die Verbindung hält, gibt es ebenso wenig wie eine Garantie, den Tag zu überleben.

Rami Abu Reda schreibt seinen Bericht in einem kleinen Café in al-Mawasi im äußersten Süden des Gazastreifens, nahe der Grenze zu Ägypten.

„Zusammengehalten wird es von einem Dach aus gewelltem Plastik und Blechwänden mit Stoff als Tapete. Die vertriebenen Schüler legen ihre Abiturprüfungen elektronisch ab und versuchen, eine Zukunft zu gestalten, die an seidenen Fäden hängt oder jetzt im Moment von Stromausfällen bedroht wird.

Im angrenzenden Saal des Cafés erschallt Jubel, der Auftakt einer Hochzeit; das Lachen des Brautpaares und der Tänzer vermischt sich mit der Angst der Schüler, die ihre Köpfe über die Bildschirme beugen. Draußen rufen Verkäufer: ,Kaltes Wasser … ein Schekel.‘ Freude umarmt Trauer, das Paradoxe wird zum Schicksal der Vertriebenen: am selben Ort, im selben Moment. Das ist Gaza, wo Hochzeiten und Prüfungen, Krieg und Handel in einer einzigen Szene zusammenfließen, als ob der Kreislauf des Lebens darauf besteht, weiterzugehen, notgedrungen über die Ruinen hinweg.“

Und Laya? Schon vor der Prüfung war es ihre größte Angst, sich nicht konzentrieren zu können. Sie berichtet:

„Wie könnte ich mich vom Druck fernhalten, wenn ich doch mitten in ihm lebe? Der Lärm ist überall. Ist doch einmal Gelegenheit für eine Privatstunde, gehe und stehe ich stundenlang in der Hitze. Unter diesen Bedingungen zu lernen, saugt dir die Seele aus dem Leib.“

Zur gleichen Zeit steht Gaza-Stadt im Norden noch unter Beschuss. Von Deeb Elqumssan, einem Freund und Kollegen, hatte ich tagelang nichts gehört. Zuletzt hauste er in und vor den Trümmern seines halb zerstörten Hauses im Scheikh-Radwan-Viertel im Zentrum von Gaza-Stadt, ein alleinerziehender Vater von zwei kleinen Söhnen. Der Älteste, neun Jahre alt, konnte mit seiner Mutter verletzt nach Ägypten evakuiert werden.

Erstmals meldete sich Deeb Elqumssan wieder Mitte September via Facebook. Er sei erschöpft nach einer Woche vergeblicher Versuche, Aufforderungen der israelischen Armee zur Evakuierung zu folgen. Alle Plätze in Fahrzeugen oder auf Eselskarren seien vergeben. Bis zu 6.000 Schekel (1.500 Euro) koste ein Platz. Das sei unbezahlbar. Deeb Elqumssan schreibt:

„Ich verließ die Überreste meines Hauses. Bis in den Süden werden wir es nicht schaffen. Es gibt auch nicht annähernd genügend Platz für so viele Menschen dort. Ich wurde vor vier Tagen unter Beschuss aus meinem Haus nach Al-Nasr vertrieben. Wie durch ein Wunder überlebten wir, denn als wir unser Ziel erreichten, wurde das Haus gegenüber bombardiert. So fliehen wird von Tod zu Tod, es gibt kein anderes Schicksal. Er verfolgt uns in jedem Moment.

Ich habe einen Platz im Süden auf dem Grundstück eines Freundes reserviert und warte weiter auf die Gelegenheit, dorthin zu gehen. Im Süden ist es trotz aller Schwierigkeiten besser, als unter Beschuss in Gaza-Stadt zu bleiben. Doch auch im Süden herrscht Mangel an Trinkwasser, schon das ist ein Riesenproblem. – Es gibt keinen Grund mehr, in Gaza standhaft zu bleiben. Es liegt fast alles in Trümmern. Es gibt auch keine konkrete Perspektive oder ein wirkliches Ziel. Der Tod wäre vielleicht leichter für uns, als auf das Ende dieses verdammten Krieges zu warten.“