Pro die Brandmauer vorexerzieren, dagegen beim Judenhass sich in Schweigen hüllen – dasjenige ist wortbrüchig

Die AfD bietet Demonstranten zahlreiche Gründe für Protest. Wenn Judenhasser marschieren, bleiben sie aber häufig stumm. Wer zum Antisemitismus unter Muslimen schweigt oder gar gemeinsame Sache mit Islamisten macht, kann im vermeintlichen Antirassismus nicht ernst genommen werden.

Es ist eine bemerkenswerte Szene, die am vergangenen Wochenende in Essen auf einem Video dokumentiert wurde. Mitten in der Innenstadt trafen zwei Demonstrationen aufeinander. Der eine Protest wurde vom Bündnis „Zusammen gegen rechts“ organisiert und richtete sich gegen die AfD sowie gegen CDU und CSU, die im Bundestag eine Mehrheit durch Stimmen der AfD in Kauf genommen hatten. Der andere Protest war unter dem Motto „Freiheit für Gaza“ angemeldet worden.

Während die Teilnehmer des Palästina-Protests die üblichen israelfeindlichen und antisemitischen Parolen riefen, blieben die Anti-AfD-Demonstranten stumm. „Wir sind antizionistisch“, war etwa mehrfach als Sprechchor in unmittelbarer Umgebung des linken Protests zu hören. Die Demonstranten bekannten sich damit offensiv gegen die Idee eines Staates, der Selbstbestimmung für Juden ermöglichen soll.

Gegenprotest? Fehlanzeige. Den Teilnehmern der anderen Demonstration fiel dazu kein einziges Wort des Widerspruchs ein. Vermutlich trauten sich einige nicht, den Mund aufzumachen – was noch verständlich wäre angesichts der Gewaltbereitschaft eines Teils der Israel-Hasser-Szene. Andere halten sich zwar für Antirassismus-Experten, haben aber einen blinden Fleck für Antisemitismus und Islamismus. Und wiederum andere stimmten insgeheim zu: Da passt Israel als angeblicher Aggressor nur zu gut ins eigene Denkgebäude.

Das war auch in Berlin zu beobachten. An einer Großdemonstration für die Brandmauer zur AfD nahm am vergangenen Sonntag auch die FDP-Kommunalpolitikerin Karoline Preisler teil. Unter dem Motto „Aufstand der Anständigen“ versammelten sich mehr als 160.000 Menschen. Preisler brachte ein Schild mit, dass an israelische Geiseln erinnert. „Ich wünschte, die Antisemiten auf der Demo würden auf die Redner hören und tolerant sein“, postete Preisler. „Doch ich habe jetzt wiederholt meinen Standort wechseln müssen. Schade.“

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Preisler richtete die Kritik nicht an die Gesamtheit der Teilnehmer. Später schrieb sie: „Das Allerbeste sind die unterschiedlichen stabilen Frauen jeden Alters, die permanent zugewandt und solidarisch auf mein Plakat reagieren.“

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die AfD bietet den Demonstranten genügend Gründe für ihren Protest. Die Partei hat sich längst zu einer in relevanten Teilen extremistischen Rechtsaußen-Kraft entwickelt. Hochrangige Funktionäre verbreiten die Fantasie einer „Remigration“ von Millionen Menschen („Wir schieben sie alle ab“), greifen in geschichtsrevisionistischer Manier die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus an („Schuldkult“, „Schlussstrich“) und vertreten häufig antiwestliche sowie prorussische Positionen. Von der Parteispitze werden sie dabei mindestens toleriert, in der Basis treffen sie kaum noch auf Widerspruch.

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Wer sich allerdings allein auf Rechtsaußen fokussiert, dabei auch noch gleichermaßen auf Konservative zielt („Ganz Berlin hasst die CDU“), beim weitverbreiteten Judenhass unter Muslimen oder beim Rechtsextremismus und Nationalismus in Migrantencommunitys („Graue Wölfe“ und andere) aber beide Augen zudrückt, ist völlig unglaubwürdig. Das Eintreten gegen Rechtsextremismus sollte unbedingt mit einem Eintreten gegen Islamismus einhergehen. Und andersherum.

Mancher schwadroniert von „1933“

Natürlich gibt es auf diesen Demonstrationen viele, die sich berechtigte Sorgen machen, weil im Bundestag erstmals eine Mehrheit durch die Stimmen von Rechtsaußen gefunden wurde. In Berlin trat etwa der Publizist Michel Friedman auf, der nach 40 Jahren aus der CDU ausgetreten ist. Andere hingegen überziehen völlig, schwadronieren von „1933“, spielen sich als Widerstandskämpfer auf und relativieren damit die Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Es ist daher absolut berechtigt zu fragen, wo die Hunderttausenden Menschen, die in den vergangenen Tagen für die Brandmauer demonstriert haben, eigentlich waren, als nach dem 7. Oktober der Judenhass auf den Straßen tobte; als den Morden, Entführungen und Vergewaltigungen israelischer Zivilisten durch palästinensische Terroristen nicht etwa Entsetzen und Verachtung entgegengebracht wurde, sondern Jubel, Rechtfertigungen, Relativierungen und Leugnungen.

„Gegen Extremismus zu kämpfen ist richtig – aber wenn Protestierende beim Prinzipienverteidigen pausieren, sobald die Demokratiefeinde nicht von rechts kommen, dann gute Nacht!“, schrieb der Islamismus-Experte Ahmad Mansour treffend auf X.

Dies ist kein neues Phänomen. In der politischen Linken ist es weitverbreitet, von bestimmten Phänomenen plötzlich nichts mehr wissen zu wollen, wenn sie nicht von Rechten verbreitet werden, sondern etwa von Muslimen. Dies gilt übrigens andersherum auch.

Als ich das Video aus Essen gesehen habe, musste ich etwa an Diskussionen um eine antirassistische Großdemonstration aus dem Jahr 2018 denken, die damals unter dem Motto „Unteilbar“ stattfand. Im Bündnis fanden nicht nur Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, jüdische Organisationen und Flüchtlingshelfer Platz, sondern etwa auch der Zentralrat der Muslime – ein Verband, dem zu diesem Zeitpunkt etwa Organisationen angehörten, die den rechtsextremen Grauen Wölfen, der islamistischen Muslimbruderschaft und dem iranischen Terrorregime nahestehen.

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Diese haben zwar den Aufruf „für eine offene und solidarische Gesellschaft, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind“ unterschrieben. Aber sie beherrschen eben sehr gut ein Spiel der doppelten Kommunikation, indem sie lediglich nach außen liberal auftreten.

2021 machte „Unteilbar“ denselben Fehler, wieder waren politisch-islamische Organisationen unter den Erstunterzeichnern. Wenig überraschend war es dann, dass auf den Demonstrationen auch „Islamophobie“ beklagt wurde – ein unter Islamisten beliebter Kampfbegriff, der weit über eine Kritik an Feindlichkeit gegenüber Muslimen hinausgeht und auf die Delegitimierung jeglicher Gegenposition zu islamisch begründeten und legitimierten Gewaltverhältnissen zielt.

Das Eintreten gegen Antisemitismus und Schwulenfeindlichkeit im „Unteilbar“-Aufruf konnte man aufgrund des Paktierens mit antisemitischen und schwulenfeindlichen Muslimbrüdern schwerlich ernst nehmen. Wenn es gegen „Islamophobie“ geht, machen Vertreter des politischen Islam eben gerne gemeinsame Sache für die „offene Gesellschaft“, die sie ansonsten bekämpfen. Zudem auffällig: Wer damals auf dieses Bündnis hinwies, stieß bei vielen Akteuren nicht auf Selbstkritik, sondern auf Gleichgültigkeit und Abwehr.

Dass in Berlin nun Zehntausende auf die Straßen gingen, die zwar Rechtsextremismus völlig zu Recht als Gefahr erkannt haben, aber zu Hause blieben, als auf den Straßen der Hauptstadt vor allem arabisch geprägter Antisemitismus laut und sichtbar wurde, zeigt, dass sich dieses Problem seit 2018 und „Unteilbar“ keineswegs verbessert hat.

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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Source: welt.de