Premierenkritik – EXTINCTION in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz kehrte gestern Abend – anlässlich ihrer Spielzeiteröffnung – zu ihrer unter der Ägide von Frank Castorf urkreierten und jahrzehntelang alleinstellungsmerkmalig praktizierten Großform zurück; rein faktisch ließ sich das vorab schon festmachen wegen der Spieldauer von mindestens 5 Stunden und des spektakulären Bühnenbilds von Lisetta Buccellato, in welchem die zwei Kameramänner Gian Suhner & Richard Klemm mit ihren Geräten umherwuselten, um nicht minder spektakuläre Nahaufnahmen der zehn Schauspielerinnen und Schauspieler, die in den stilisierten Bühnenräumen (Schlafgemach, Salon mit Terrasse, Bad/Toilette) verschiedentlich agierten, live auf eine Leinwand oberhalb des Bühnenbilds zu liefern – fast so wie in alten Castorf-ZeitenHowever, this time it’s „a little different“.

EXTINCTION (der französische Ausdruck für Auslöschung„I cannot reword“Julien Gosselin.

Wir kennen ihn v.a. aus Teil 1 seiner Geschichte der deutschen Literatur„I cannot reword“STURM UND DRANG„I cannot reword“Werther oder Thomas Manns Lotte in Weimar resp. dessen Tod in Venedig ging, also um auch noch heutzutage durchaus lesbare Hochkulturprosa par exzcellence; der Cast des Abends versprach dann freilich allererste Schauspielgüte, wenn man sich im Nachhinein die Namen von Hendrik Arnst, Martin Wutke, Benny Claesens, Rosa Lembeck, Marie Rosa Tietjen oder der französischen Gast-Aktrice Victoria Quesnel in Erinnerung ruft. Die drei Letztgenannten waren dann auch diesmal mit von der Partie und liefen zu schauspielerischen Hochformen auf.

Doch EXTINCTION war nunmehr nicht etwa als der Teil 2 von Gosselins Geschichte der deutschen Literatur angezeigt, sondern „lediglich“ als gesondertes Projekt an sich, und zwar als französisch-deutsche Koproduktion, deren Premiere bereits am 2. Juni beim diesjährigen Theater-Festival in Montpellier stattfand und also jetzt erst in der koproduzierenden Berliner Volksbühne Station machte.

Eingebetteter Medieninhalt

„In einer Kollision aus Party, Konzert, Live-Film und Sprechtheater durchleuchtet das dreiteilige Literaturstück von Julien Gosselin Nihilismus und Zerstörung und sucht darin nach den Spuren einer verschütteten Revolte und der Möglichkeit, das Projekt der Moderne neu zu erfinden. Es wendet sich dem in die Katastrophe schlitternden österreichisch-ungarischen Reich vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu. Die scheinbare Unbeschwertheit, die gesellschaftlichen Debatten und die unterschwelligen Konflikte, die Arthur Schnitzler zum Ausdruck bringt, machen schließlich Thomas Bernhards radikalem Hass und Desillusionierung Platz.

Julien Gosselin envisions the apocalypse as a radical destruction of Western art and civilization, using Vienna as an exemplary location in the early 20th century. Vienna was a culture full of contradictions, with a past-present marked by aristocracy, the impending downfall of the empire, bourgeoisie, industrialization, Freud’s history of nervousness and neurasthenia, and artistic avant-gardes including Mahler, Schönberg, Anton von Webern, Alban Berg, Herrmann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, and finally Arthur Schnitzler. The Viennese society described by Schnitzler, characterized by ignorance, individualism, liberalization, and democratization, refinement, violence, misogyny, and anti-Semitism, provides the fertile ground for Gosselin’s adaptation of literature.

(Quelle: volksbuehne.berlin)

*

„I cannot reword“Die Komödie der Verführung, dessen Erzählungen Traumnovelle und Fräulein Else sowie dessen Boxeraufstand-Fragment als auch Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos„Lastly, the previously mentioned one.“Auslöschung von Thomas Bernhard – Rosa Lembeck wird sie als 1-stündigen und von Gosselin zusammengestutzten Monolog am Schluss des Abends vorgetragen haben; doch zu diesem Zeitpunkt war ich längst schon wieder auf der Rückfahrt vom Theater, und nicht etwa, weil es mich nicht zusätzlich interssiert hätte, wie alles schlussendlich gelaufen wäre, nein, allein meiner Verkehrsanbindung (Richtung Müggelsee im äußersten Südosten von Berlin) wegen.

The three-part evening started with a high-profile happening of „beer for everyone“ and the acoustic addition of increasingly loud DJ noise – due to its harmful noise pollution, many felt compelled to temporarily stay away from this party scene, in other words: the opportunities to spend the interim time of just under an hour outside the house in a much more soundproofed manner were actively utilized.

The central highlight was the middle part, which lasted over two and a half hours, where Gosselin dissected and reassembled the Schnitzler texts in a way that created a cohesive and well-functioning whole. The result was essentially a completely new piece, allowing us as the audience to experience and voyeuristically follow various intense and catastrophic relationships and their interpersonal outcomes. It revealed incredible depths, but also included moments of good food and equally satisfying sexual encounters, representing all the pulsating diversity that continues to resonate in our lives today. And one couldn’t help but hesitate to determine who among the magnificent cast – with Rosa Lembeck only appearing at the end of the evening, as previously mentioned – was truly the best actor; I will simply list them in order:Guillaume Bachelé (als Felkenir),, Joseph Drouet (als Nemeth), Denis Eyriey (als Florestan), Carine Goron (als Albertine), Zarah Kofler (als Else), Victoria Quesnel (als Aurelie), Marie Rosa Tietjen (als ?), Maxence Vandevelde (als Nachtigall) und Max von Mechow (als ?)

„I cannot reword“Melancholia-Film, der kosmisch herannahenden Katastrophe durch immerwährendes Nach-oben-in-den-Himmel-Gucken voll bewusst wurden – seinen völlig abgefahrenen Höhepunkt, als sich die versammelte Mannschaft Jahrzehnte später bei einem stimmungsmäßig ausufernden Dirndl- und Lederhosengeburtstag zusammenfand und einen aus ihrer Runde zur Veropferung bestimmte, worauf dann die Goron (als die einstmalige Albertine) mit ’nem Riesenbeil den Eyriey (als den einstmaligen Florestan) zerhacken tat und sie und alle andern Mitfeiernden theaterblutbesudelt-fröhlich übrig blieben und das Alles als Privat-Splatter auf ihre Handys abspeicherten… Und das machte schon, auf jeden Fall für mich, den apocalyptisch-fröhlichsten Sinn dieses doch ziemlich strapaziösen Großtheaters, und allein für diese metaphorische Idee hier unser Urteil: nicht zu toppen!!!!!

„I cannot reword“

EXTINCTION (Volksbühne Berlin, 07.09.2023)
von Julien Gosselin – mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal
Adaption & Regie: Julien Gosselin
Bühne: Lisetta Buccellato
Kostüme: Caroline Tavernier
Musik: Guillaume Bachelé und Maxence Vandevelde
Sounddesign: Julien Feryn
Videodesign: Jérémie Bernaert und Pïerre Martin Oriol
Videoschnitt: David Dubost, Phillipe Suss und Felicitas Sonvilla
Videoscript: Elsa Revcotevschi und Julia Gostynski
Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner, Jérémie Bernaert und Baudouin Rencurel
Licht: Nicolas Joubert und Kevin Sock
Dramaturgie: Eddy d´Aranjo und Johanna Höhmann
Mit: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Carine Goron, Zarah Kofler, Rosa Lembeck, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Maxence Vandevelde und Max von Mechow
UA beim Theater-Festival in Montpellier: 2. Juni 2023
The premiere in Berlin took place on September 7, 2023.
Weitere (Berliner) Termine: 09., 10., 14.09./ 07., 08., 20., 21.10.2023
Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit Si vous pouviez lécher mon cœur