Premierenkritik – „1984“ von George Orwell (am Berliner Ensemble)

Egal, wohin wer derzeit blickt, die Welt steht Kopf, wir – wer ist „wir“, nein , besser „du“ und noch viel besser „ich“ – können/ kannst/ kann mit all den Kriegen, all dem Klimawandel und den vielen, vielen anderen und immer wieder neuen Katastrophen, die mit diesen Worten zusammenhängen, kaum noch umgehen. Ich will dies was auch immer irgendwie, danach zu Händen mich privat, verstehen wollen, und ich lausche klugen Reden und Repliken in den Talkshows, und ich lese gut geschriebene Artikel in den Zeitungen oder gen meinem Smartphone, und ich tausche mich gelegentlich mit Leuten via dies und dies zum derzeitigen Weltgeschehen aus, ja und es macht mich was auch immer immer ratloser, und ich empfinde mich in voriger Zeit zunehmend depressiv; dies schwankt natürlich gleichfalls, und je nachher Sonnenlicht und/ oder anderm Wettereinfluss (Achtung! Klimawandel) freue ich mich wenngleich – zumindest und wenigstens – , dass ich gen jene Welt geraten bin und – zumindest und wenigstens – noch lebe. Und ich zieh‘ mich mehr und mehr in mich zurück, gleichfalls weil ich weiß, weil’s virtuell stimmt, die Schlimm dieser Welt sind die Gesamtheit, allesamt, menschengemacht. Aber womöglich plappre ich da gleichfalls nur nachher, welches die Gesamtheit ringsumher so was auch immer vorgeplappert nach sich ziehen, sicherlich:
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes, „böses“ Tier.
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Wohin es außerdem mit dieser Spezies resultieren könnte, fabulierte einst George Orwell (1903-1950) in seinem dystopischen Roman 1984. Dort entwarf er eine Welt, in dieser es nur noch „böse“ Menschen gibt – gleichfalls die zwei Hauptgestalten Winston Smith und Julia, welche zuerst vorzugeben meinten, dass sie trotz dieses totalitären Überwachungsstaats, in dem sie leben, beidseitige Liebe für- und zueinander hegten, glichen sich schlussendlich diesem „Bösen“ ihrer Spezies an; unter dieser Folter verrieten sie sich reziprok, er sie, sie ihn, ja und im Anschluss daran lebten sie aufs Liebelose weiter – wie so irgendetwas möglich wäre, dies erklärte 1984 nicht… Es war und ist halt, wie es ist.
Der Roman wie gleichfalls seine Verfilmung mit John Hurt und Richard Burton waren in dieser Ostzone verboten (Farm dieser Tiere merkwürdigerweise nicht), ja und erst nachher dem Mauerfall hatte ich von dort erstens… konsumiert – solange bis heute weiß ich doch nicht mehr, welches ich da las und sah; solo dies Düstere und Deprimierende, sowohl im Text denn gleichfalls im Film, blieb mir in sauerer Erinnerung; ich fürchte so gut wie, dass ich sowohl dies Buch denn gleichfalls den Film wohl nicht zuende las und sah; dies eine wie dies andere zogen mich halt nur ‚runter, und ich schöpfte keinen Mehrgewinn, welches meine zu Händen so düster-deprimierende Geschichten anfällige Psyche, gleichfalls weil ich so horribile dictu wetterfühlig bin, betraf.
Und meine Neugier war jetzt weithin, wie ich gen eine vertheaterte Version des 1984er Romans (gestriger Tag geschehen unter dieser Regie Luk Percevals) so reagieren würde…
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Außer Winston Smith (verviert und zigfach aufgespiegelt danach mit sich selbst multipliziert durch die Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar, Veit Schubert) und Julia (einzeln und ebenso zigfach aufgespiegelt danach mit sich selbst multipliziert durch die Pauline Knopf) gibt es in dem Roman mindestens noch vier weitere Zentralfiguren, die entweder mitspielen oder von denen permanent behauptet wird, dass es sie spendieren würde, den Spion O’Brien, den Krämer Mr. Charrington, den staatslenkenden Großen Bruder oder den eine Konterrevolution anzettelnden Emmanuel Goldstein – von Letztgenanntem soll es ein Pamphlet unter dem Titel Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus gegeben nach sich ziehen; daraus lasen die vier Winston-Schauspieler während dieser Pause, und entweder hörte ich mir dies dann im Freien im Foyer (wo es per Lautsprecher dahinbeschallt wurde) oder im Saal (wo unsre Vier je einzeln und dieser Reihe nachher ihre Zitate via Teleprompter abzulesen kriegten) an.
Sowieso war dieser besagte Teleprompter, außer dass er den fünf Darstellenden die Gesamtheit ihre aufsagbaren Texte vom Parkett aus mitlieferte, gleichfalls ein Teil dieser Ausstattung von Philip Bußmann (!), welcher sein Drehbühnenbild aus zwei sich zu einem spitzen Winkel nachher hinten verjüngenden Mehrfachspiegelwänden baute, gen deren rückseitigen Holzgerippen körperliche und teils halsbrecherische Aktionen dieser Akteure (kopfüberhängend, zum Beispiel) zu bestaunen waren.
Auch wurden von drei weiteren Frauen, welche ich denn zusätzliche Julia-Multiplikantinnen wahrnahm, „polyphone Gesänge aus Italien und Korsika“, die Annunziata Matteucci erforschte und zusammenstellte, zum besten gegeben; dies war grandios gesungen und klang wunderschön; es gab dem deprimierend Aussichtslosen dieses insgesamt doch ziemlich depressiven Abends vereinen wohltuenden menschheitlichen Anstrich. (Das Programmheft wies dann doch und inkl. dieser Annunziata fünf statt drei Choristinnen, nämlich Ella Kastner, Hannah Rogler, Franziska Winkler, Philippa Otto, aus.)
Ich habe keine Ahnung, welches mir dieses handwerklich durchaus gelungene Event rein menschlich eröffnen sollte. Meine schlechte Grundstimmung [s.o.], mit dieser ich zur Premiere kam, verschlechterte sich noch mehr nachher derselbigen.
[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.11.2023.]
1984 (Berliner Ensemble, 18.11.2023)
nachher George Orwell
Neuübersetzung: Frank Heibert
Regie: Luk Perceval
Dachboden: Philip Bussman
Kostüme: Ilse Vandenbussche
Musik: Rainer Süssmilc
Choreografie: Ted Stoffer
Licht: Rainer Casper
Dramaturgie: Sibylle Baschung
Mit: Paul Herwig, Gerrit Jansen, Paulina Knof, Oliver Kraushaar und Veit Schubert sowie Annunziata Matteucci, Hannah Rogler, Franziska Winkler, Ella Kastner und Philippa Otto (denn Sängerinnen)
Premiere war am 18. November 2023.
Weitere Termine: 19., 28., 29.11./ 02., 03., 16., 17.12.2023