Posthum | Osteuropaschwärmerei war nicht sein Thema

Ich bin kein großer Politologe“, hat er einmal über sich gesagt. Auch dass er „kein Wirtschaftsexperte“ sei und ein „jämmerlicher Fotograf“. In jedem Fall war Martin Pollack, der im Januar gestorben ist, ein großer Reporter, und was ihn als solchen vor allem auszeichnete, war seine Demut gegenüber seinen Gegenständen und besonders seinen Gesprächspartnern, die aus echter Bescheidenheit rührt. Für die nachgelassenen Reportagen, Schnipsel, Erinnerungen, die der Residenz Verlag jetzt posthum auf den Markt gebracht hat, ist Zeiten der Scham ein passender Titel.
Pollacks großes Thema war der europäische Osten. Lange vor den Wendejahren hatte der Österreicher Slawistik studiert, eine Zeit lang auch in Warschau, und Polnisch gelernt, was ungewöhnlich war für seinen Jahrgang 1944, der sich kulturell und politisch nach Westen orientierte. „Es war Protest“, hat Pollack seinen Fokus erklärt: In der Familie aus „eingefleischten Nazis“, in der er groß wurde, war der Osten das Reich der Untermenschen gewesen.
Epochal wurde sein Bericht über meinen Vater, den Kriegsverbrecher Gerhard Bast, der auf der Flucht vor der Gerechtigkeit ermordet wurde, als der kleine Sohn noch keine drei Jahre alt war. Über 250 Seiten hält der Autor darin den Spagat zwischen dem unausweichlichen Urteil über den Vater und dem ehrlichen Blick auf sich selbst. Der Sohn folgt dem Leiter einer SS-Einsatzgruppe konsequent in seine grausamen Entscheidungen, spürt dessen Opfern nach, alles ohne den Hochmut des Nachgeborenen und frei von Selbstmitleid. Aber doch mit Rücksicht: Veröffentlicht hat Pollack den Bericht erst, als niemand mehr lebte, der sich davon verletzt fühlen konnte. Und damit nur ja kein Leser auf die Idee kommt, sich in moralischer Gewissheit zu suhlen, hat Pollack dann in einem weiteren Buch das gleiche Verfahren auf den Tod seiner Tante angewandt, die, obwohl ganz und gar unschuldig, 1945 als Deutsche slowenischen Partisanen zum Opfer fiel.
Als junger Rebell war Pollack bei den Trotzkisten. Die waren in Westeuropa die Einzigen seiner Generation, die linken Zeitgeist mit echtem Interesse am kommunistisch regierten Osten verbanden. Aber vieles, was er sah und erlebte, konnten ihm die Ideologen nicht erklären. So entwickelte er seine Reporterhaltung, die er auch als Spiegel-Korrespondent in Wien und Warschau durchhielt: immer auf der Suche nach Geschichten, nie nach Begriffen. Keinen Eindruck, den er gewann, kein Gespräch, das er führte, mochte er wegblenden, nur weil es schlecht zu einer vorgefassten Meinung passte. Selbst als sich in Polen 1989/90 die Ereignisse überschlugen, hielt Pollack sich vom allgemeinen Trubel fern und suchte, ganz unaufgeregt, inmitten der Haupt- und Staatsaktionen nach den kleinen Details.
Mit schrulliger Präzision
Später, als freier Schriftsteller, hat Pollack (in Kaiser von Amerika) mit fast schon schrulliger Präzision die Schicksale von Auswanderern des 19. Jahrhunderts aus der heutigen Westukraine recherchiert und beschrieben. Die Texte sind alle ohne Fazit und Pointe, und doch liest man sie fasziniert wie eine True-Crime-Geschichte. Bei überraschenden Funden hält er auch länger inne – wie bei der Geschichte von den galizischen „Engelmacherinnen“, die sich diesen Titel ursprünglich nicht durch Abtreibungen verdienten, sondern weil sie Pflegekinder verhungern ließen oder auf andere Art umbrachten.
Ostschwärmerei und Mitteleuropakult bietet Pollack kein Futter. Seinen Imperativen: Interessiert euch! Schaut genau hin!, diente er auch als Herausgeber der Reportagen polnischer Kollegen und als Übersetzer, vor allem seines Freundes Ryszard Kapuściński. Versuche hingegen, ihn zum Fest- und Gedenkredner zu machen, scheiterten. Im Reich der Abstraktion war Pollack, auch davon legt der Band über die Zeiten der Scham ungewollt Zeugnis ab, nicht zu Hause. Statt zwischen künstlichen Buchsbäumen an Rednerpulte zu treten, hackte er lieber Holz auf seiner Streuobstwiese im Südburgenland, seinem Rückzugsort.
Zeiten der Scham Martin Pollack Gerhard Zeillinger (Hrsg.), Residenz Verlag 2025, 288 S., 28 €