Porträt | Schneewittchens Farben: Salome Surabischwili will mitregieren
Als Salome Surabischwili, die Französin georgischer Herkunft, im November 2018 zur ersten Präsidentin in Tiflis gewählt wurde, geschah das nicht, um eine Frau an die Macht zu bringen – sondern um einen Mann zu verhindern. Genauer gesagt: zwei Männer. Der erste war der Gegenkandidat von Surabischwili, Grigol Waschadse, der wiederum ein Verbündeter des zweiten war: Michail Saakaschwili. Bei dem handelte es sich um einen Ex-Regierungschef Georgiens, verurteilt wegen Korruption und damals im niederländischen Exil. Und weil die Georgier fürchteten, mit Waschadse käme Saakaschwili zurück, stimmten sie für Surabischwili.
Saakaschwili ist heute in einem georgischen Gefängnis und liegt womöglich im Sterben. Eine Freilassung zu erwirken bleibt Surabischwili verwehrt. Sie hat als Staatsoberhaupt weitgehend repräsentative Pflichten. Womöglich will sie in diesem Fall auch nichts unternehmen, denn die einstige Allianz zwischen ihr und Saakaschwili endete nicht gut.
Als Surabischwili für ihr Amt vereidigt wurde, trug sie Schneewittchenfarben: weißer Rock, rote Bluse, schwarz wie Ebenholz das Haar. In diesem Outfit wirkte sie so elegant, frisch und dynamisch, dass man glaubte, sie werde ihre Rolle mit ebensolcher Power ausfüllen wie etwa Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon oder Neuseelands Premierministerin Jacinda Arden. Doch so kam es zunächst nicht. Surabischwili, die am 18. März 71 Jahre alt wird, sagte oft freundliche und kluge Sätze, vor allem zu Georgiens Zugehörigkeit zu Europa und dem Wunsch, EU und NATO beizutreten. Überdies war sie jenen, die ihr, der unabhängigen Kandidatin, 2018 zum Amt verhalfen – der Regierungspartei Georgischer Traum – selten im Weg. Vor allem nicht Parteigründer und Milliardär Bidsina Iwanischwili. Eine feministische Erfolgsgeschichte schrieb sie nicht, ganz im Gegenteil. Sie blieb stets im Schatten der Männer, zumindest im eigenen Land.
Bis Russland die Ukraine angriff. Vielleicht war es die Tatsache, dass Russland 2008 auch in Georgien interveniert hatte, vielleicht hatte es damit zu tun, dass Surabischwilis persönliches Verhältnis zu Russland gestört war, weil ihre georgischen Eltern 1921 vor der Macht der Sowjets die Flucht nach Paris antraten. Dort wuchs Surabischwili ohne Kontakt nach Georgien auf und doch – so erzählte sie es in Interviews – sei ihr Mutterland stets als Sehnsucht präsent gewesen. Jedenfalls machte sie den russischen Angriffskrieg zum Hauptthema ihres politischen Daseins. Einen Monat nach Kriegsbeginn sandte sie eine Videobotschaft an die Ukraine. „Wir, die Georgier, unterstützen Sie und sind mit Ihnen in diesem Kampf gegen die russische Aggression.“ Die Ukraine sei nicht schnell zu besiegen, sie habe Widerstand gezeigt und das bedeute, die „Supermacht Russland“ sei nicht stark genug. Und: „Wir wissen, dass Sie nicht nur für Ihre, sondern auch für unsere Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen sowie für unseren gemeinsamen Weg nach Europa.“
Das war ein klarer Bruch mit Mäzen Bidsina Iwanischwili und der Regierungspartei. Die hat zwar die bisherigen UN-Resolutionen zur Verurteilung Russlands mitgetragen, doch direkte Kritik an Moskau gab und gibt es nicht. Womöglich wollte sich Surabischwili mit den Statements zur Ukraine auch als Politikerin zu erkennen geben, die ihrem Förderer intellektuell überlegen ist. Ihr Lebens- und Berufsweg kennt so viele Stationen, dass man für die Aufzählung etliche Seiten Papier bräuchte. 1973, nach einem Studium am Institut für politische Wissenschaften in Paris, ging sie an die Columbia University in New York, wo sie ein Aufbaustudium bei dem Politologen und Politikberater Zbigniew Brzeziński abschloss. Einst war der ein vehementer Kritiker der Politik des Präsidenten Richard Nixon (1969 – 1974) und seines Außenministers Henry Kissinger. In deren Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion sah er Anbiederung. Später verurteilte er die Tschetschenien-Kriege in den 1990er-Jahren, warnte vor Wladimir Putin und setzte sich für eine NATO-Erweiterung ein. Brzeziński hat Surabischwilis politische Ausrichtung maßgeblich geprägt.
Nach dem Studium diente sie Frankreich als Diplomatin in den USA, Italien, dem Tschad und bei der UNO, dann bei der NATO in Brüssel und der OSZE in Wien. 2003 wurde sie französische Botschafterin in Tiflis und – auf Bitten Saakaschwilis – von 2004 bis 2005 georgische Außenministerin, bis es zum Zerwürfnis mit Saakaschwili kam. Dass dann ausgerechnet die Partei Georgischer Traum sie ein paar Jahre später ins Präsidentenamt hievte, kann man als Fähnchen-in-den-Wind-Hängerei sehen. Oder als Fortsetzung diplomatischer Abwägungen. Vielleicht wartete sie auf ihre Zeit. Vor einer Woche jedenfalls stand sie im Wind von New York, im Hintergrund die Freiheitsstatue, und richtete eine Botschaft an die Tausende, die in ihrem Land gegen das „Agenten-Gesetz“ demonstrierten, das als Vehikel der Regierungspartei gesehen wird, Meinungsfreiheit wie auch Opposition zu unterdrücken. Sollte das Parlament dies absegnen, so Surabischwili, werde sie ein Veto einlegen. Inzwischen jedoch wurde der Gesetzentwurf gekippt.
Surabischwili hat die Regierung mit ihrem Lob des ukrainischen Widerstands oft so in Rage versetzt, dass die ihr drohte, sie wegen einer angeblich nicht genehmigten Reise vors Verfassungsgericht zu bringen. Ob sie aus dem jetzigen Konflikt als Siegerin hervorgeht oder, wie im kaukasischen Politikbetrieb üblich, vor dem Knockout aufgibt – wer weiß es? Schneewittchen besiegte die böse Stiefmutter mit Hilfe der Zwerge. Ein Prinz wurde eigentlich nicht gebraucht.