Pierre Boulez: Nachlass des Komponisten wird versteigert – WELT

Der Mann, von dem es immer noch das Gerücht gibt, er habe 1967 die Opernhäuser in die Luft sprengen wollen (was er so nicht gesagt hat), der aber tatsächlich davon fantasierte, chinesische Rotarmisten zu verpflichten, um den deutschen Kulturbetrieb aufzumischen, bewohnte seit 1959 eine Villa halbhoch über Baden-Baden.

Nicht weit weg vom Rundfunksender, mit dessen Musikabteilung und dessen Orchester er die Entwicklung der musikalischen Avantgarde nicht nur in Deutschland maßgeblich beeinflusste (was ist in Baden-Baden schon weit weg vom Südwestfunk). Umgeben von 4000 Quadratmetern Park, vier Etagen, 20 Zimmern, mehr als 500 Quadratmetern Wohnfläche.

Boulez-Villa in Baden-Baden
Die Villa des verstorbenen Komponisten Pierre Boulez in Baden-Baden
Quelle: dpa

Elegant voll gestellt und inszeniert muss man sich jenes hochherrschaftliche Bürgerhaus aus dem späten 19. Jahrhundert vorstellen, das Pierre Boulez, als Dirigent, Komponist, Kulturpolitiker und Intellektueller eine der Leitfiguren der Nachkriegsgeschichte, seit 1959 als Lebensmittelpunkt diente. Aus Protest gegen die Algerien- und die Kulturpolitik des André Malraux hatte er Frankreich verlassen.

Aber nicht zu sehr und nicht zu weit weg. Nach Baden-Baden halt. Kurz hinter der Grenze und unmittelbar in ein unfassbar unscheinbar aussehendes Epizentrum der zeitgenössischen Musik, ohne dessen Möglichkeiten und dessen musikalische Offenheit die Weltkarriere des Netzwerkers aus Montbrison möglicherweise anders verlaufen wäre.

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Daniel Barenboim

2016 ist Boulez in Baden-Baden gestorben. 81 Jahre wurde er alt. Einen direkten Erben gab es nicht. Der Nachlass war weitgehend ungeregelt. Was mit der Villa geschehen sollte, war im Badischen lange umstritten. Eine musikalische Begegnungsstätte wäre angemessen gewesen.

Eine Gedenkstätte nach Art von Richard Wagners Bayreuther Villa Wahnfried auch (nicht nur, weil Boulez einer der Motoren eines neuen Wagner-Klangs war). Die Nachlassnehmer brauchten aber für die französischen Erbschaftsteuer Geld. Und Baden-Württemberg war mit Gedenkstätten leicht überversorgt. Fast zehn Jahre ist das her.

Pierre Boulez‘ „Salon Piano á Baden-Baden“
Pierre Boulez‘ „Salon Piano á Baden-Baden“

Jetzt werden beim Auktionshaus Artcurial Teile der boulezschen Kunstsammlung versteigert. Man hätte, was am 7. Juni in Paris zum Verkauf steht, lieber in der Villa an der Kapuzinerstraße (einer Sackgasse übrigens) hängen sehen und an den Regalen voller Bücher und Schallplatten vorbeistreifen wollen. Weil sich alles dann prima gefügt hätte zu einem Porträt des vielleicht wirklich letzten großen Interdisziplinären der zeitgenössischen Musik, den realistischen Träumer, rationalistischen Fantasten, der Musik immer neue Räume öffnete, sie mit immer neuen Netzen verband mit dem, was vor allem Literatur und Kunst im 20. Jahrhundert bis in die späten 70er hinein bewegt.

Einer, der Klang als Raumkunst betrieb, Komposition auf der einen Seite (bei Boulez, dem großbürgerlichen Bürgerschreck, hat alles immer zwei Seiten, die sich bedingen, die sich in ihm gerieben und seine Kreativität vielleicht erst entzündet haben) in allen Dimensionen intellektuell kontrollierbar machte, aber auf der anderen Seite offen hielt für das Spielerische, den emotionalen Ausdruck.

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Boulez’ beinahe lebenslange Auseinandersetzung mit Paul Klee (der wohl der musikalischste aller Maler des 20. Jahrhunderts war wie Boulez vielleicht der malerischste Komponist zumindest dessen zweiter Hälfte) spiegelt sich nicht nur in seiner Sammlung und in dem spät erst auf Deutsch erschienenen Klee-Großessay „Le Pay fertile“ („Das Fruchtfeld“), sondern vor allem auch im eigenen, gar nicht mal extrem umfangreichen Werk.

Man wird schon ein bisschen melancholisch beim Blättern, beim Scrollen durch den Katalog. Durch das Erbe eines um Kunst kreisenden Lebens – „Ein Leben im Rhythmus der Kunst“ ist die Auktion überschrieben, was vielleicht dann doch etwas übertrieben ist. „Gegenüber der bildenden Kunst“, hat Boulez einmal gesagt, „sind wir schließlich auch dadurch im Nachteil, dass wir keine spekulativen Interessen befriedigen können. Niemand kann in ein Konzert gehen und darauf hoffen, dass das, was er von dort mitnimmt, 20 Jahre später viel mehr wert ist. Dazu kommt die Zeit. Wenn einem ein Bild nicht gefällt, geht man weiter zum nächsten. Das geht bei einem Konzert nicht. Man kann höchstens hinausgehen und so seinen Zorn demonstrieren.“

Pierre Boulez auf einer übermalten Fotografie von Arnold Newman
Pierre Boulez auf einer übermalten Fotografie von Arnold Newman
Quelle: Arnold Newman

Gegenstände, die ihm irgendwann zuliefen, sind da jetzt versammelt, ein paar Möbel (Tische von Andrée Putman, jeweils um 2000 bis 3000 Euro), ein exquisiter Dirigierstab (2000 bis 3000 Euro) – möglicherweise ein Missverständnis, Boulez lehnte Dirigierstäbe als Symbol ab, als Machtinstrument, er dirigierte mit bloßen Händen, wer das einmal gerade bei Proben gesehen hat, vergisst es nie, versteht, wie man Klang modellieren kann im Entstehen. Gemälde, Zeichnungen, Fotos (Césars geradezu serialistisch verpixeltes Boulez-Porträt – 400 bis 600 Euro), Plakate.

Erinnerungen an Kollegen, denen Boulez sich nahe fühlte – Strawinsky-Zeichnungen von Giacometti (40.000 bis 50.000 Euro) und Cocteau (4000 bis 5000 Euro), Tinguelys Satz von zwölf Skizzen für einen Strawinsky-Brunnen (25.000 bis 35.000 Euro). Cartier-Bressons Fotografie von René Char, auf dessen Texten Boulez’ Meisterstück „Le Marteau Sans Maître“ basiert (1500 bis 2500 Euro). Nettigkeiten wie Hockneys Postkarte von einem Wasserglas auf einem Wagner-Foto (1500 bis 2500 Euro) und Großes wie Bacons „Etude d’après Velasquez. Portrait du Pape Innocent X.“ (15.000 bis 20.000 Euro).

Robert Strübin, „Pierre Boulez Structures IA, PG. 1-2, 11 Mesures - 1961“
Robert Strübin, „Pierre Boulez Structures IA, PG. 1-2, 11 Mesures – 1961“
Quelle: Collection Pierre Boulez

Immer wieder Klee – die neue Fassung von „Schaffendes Haupt“ aus dem Jahr 1917 (50.000 bis 70.000 Euro). Die zeichnerische Übertragung der boulezschen „Structures“ des komponierenden Künstlers Robert Strübin (4000 bis 5000 Euro). Und Bilder der Portugiesin Maria Helena Vieira da Silva (ein Gemälde ohne Titel von 1949 etwa: 30.000 bis 40.000 Euro).

Melancholisch wird man beim Blättern durch den Katalog aber auch, weil er mehr ist als ein bloßer Katalog. Eine Biografie, eine Würdigung, eine Hommage mit Essays und Werkanalysen, die – kaum sieben Jahre ist Boulez jetzt tot – schon wieder überfällig ist. Und weil – es sind nicht nur Bilder seines Lebens eingestreut, sondern auch Fotos aus der Baden-Badener Villa, die zeigen, wo hing, was jetzt versteigert wird – der Katalog dokumentiert, was verloren ging in der Kapuzinerstraße.

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Source: welt.de