„Perfect Days“: Ein Held, der Toiletten putzt
Wie oft er schon in Cannes war, weiß Wim Wenders nicht mehr. Nun feiert sein Film „Perfect Days“ Premiere. Der Regisseur entdeckt sich mit seinem Helden noch einmal neu.
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Der Regisseur hat den Überblick
verloren. In den zahlreichen Interviews, die in diesen Tagen zu lesen und zu
hören sind, fragt sich Wim Wenders, ob er 15-, 16- oder 17-mal in Cannes gewesen
sei. An seine Preise wird er sich sicher noch erinnern können: 1984 gab es für
das Roadmovie Paris, Texas die Goldene Palme, den Preis für die Beste
Regie erhielt er 1987 für Der Himmel über Berlin; für seinen zweiten
Engelfilm In weiter Ferne, so nah! 1993 den Großen Preis der Jury. 2003
wiederum verteilte er die Palmen selbst als Jurypräsident.
Zu Fuß, per Bahn und Flugzeug ist
Wenders an die Croisette gereist. Gern wäre man dabei gewesen, als er in
seinem allerersten Jahr 1976 mit dem umgebauten Möbelwagen aus seinem Film Im
Lauf der Zeit (für den er den Fipresci-Kritikerpreis bekam) vor dem Festivalpalast vorfuhr und sein Team vom Sicherheitspersonal zunächst abgewiesen wurde, weil es sich nicht um eine Limousine handelte.
Auch diesmal ist er wieder mit dem Auto da, um zwischen den Premieren seiner
beiden Cannes-Filme Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen.
Zu Beginn des Festivals stellte
Wim Wenders in einer Spezialvorführung seinen in 3-D gedrehten Porträtfilm Anselm – Im Rausch der Zeit über den Künstler Anselm Kiefer vor, jetzt, am Ende
des Festivals, präsentiert er seinen Spielfilm Perfect Days, eine in
Tokio spielende japanische Produktion. Es ist Wim Wenders‘ zehnte Einladung in
den Wettbewerb von Cannes.
Mit aufmerksamer Kamera begleitet er seinen Helden Tag
für Tag bei dessen Arbeit: Der Mittsechziger Hirayama (Koji Yakusho) reinigt in
Tokio öffentliche Toiletten. Viele wurden von bekannten Architekten entworfen: gläserne Bauten, deren Scheiben sich beim Schließen verdunkeln, innovative
Holz- und Betongebilde. Jeden Morgen setzt sich Hirayama im grünen Arbeitsanzug
mit seinem Van in Bewegung. Den Wagen hat er umgebaut zum Putzmobil mit Regalen
für Reinigungsmittel, mit Halterungen für Feudel und Besen. Ein selbst gebastelter Spiegel hilft ihm, auch die unteren Ränder der Toilettenschüssel zu
kontrollieren.
Nach der Arbeit entspannt sich Hirayama in einem
öffentlichen Bad, anschließend geht er zu einer Imbissbude. Dort kennt man ihn,
der Kellner begrüßt ihn, serviert ihm sein Lieblingsessen. Im Hintergrund
verfolgt die Kundschaft – Hirayama scheint nicht der einzige Stammgast zu sein
– Übertragungen von Baseballspielen auf dem Fernseher.
„Just a perfect day/You make me forget myself, I thought I was someone
else, someone good“ – während Hirayama durch Tokio fährt, hört er Lou Reeds
Song Perfect Day. Der Mann mit den
gelassenen Gesichtszügen scheint mit sich und seinem Lebensrhythmus im Einklang
zu sein. Vielleicht verweisen die Textzeilen auf eine Vergangenheit, auf eine
andere Art von Leben, wovon dieser Film aber gar nicht weiter erzählen muss.
Eine entspannte Weiterentwicklung der Wenderschen Helden
Anders als frühere Wenders-Helden,
etwa Wilhelm (Rüdiger Vogler) aus Falsche Bewegung (1975) oder Travis
(Harry Dean Stanton) aus Paris, Texas, wirkt Hirayama nicht getrieben,
er scheint nicht mehr auf der Suche zu sein. Perfect Days ist ein in
sich ruhender Film über einen in sich ruhenden Helden.
Plötzlich steht Hirayamas Nichte
vor seiner Tür. Für einige Tage lässt er das junge Mädchen am Rhythmus seines
Alltags teilhaben, nur im öffentlichen Bad geht man getrennte Wege. Beiläufig,
lose, in aller Freiheit tupfen Wim Wenders und sein Co-Drehbuchautor Takuma
Takasaki weitere Begegnungen, Situationen hin: ein verliebter Arbeitskollege,
eine melancholische Barbesitzerin (inbrünstig singt sie im Kimono auf Japanisch
House of the Rising Sun), eine Frau, die auf der Nachbarbank im Park zu
selben Zeit wie Hirayama ihr Lunchpaket verzehrt.
Man könnte Hirayama als eine
entspannte Weiterentwicklung der Wenderschen Helden sehen. Er ist auch eine Art Alter Ego, mit dem der Regisseur seine persönlichen Vorlieben
ausleben kann. Auch Hirayama fotografiert, mit einer analogen Kamera macht er
Aufnahmen von Bäumen. Auch er hört US-amerikanische Rockmusik, auf
Audiokassetten. In einem Antiquariat kauft er sich Bücher, unter anderem
Patricia Highsmith. Wenders‘ Film Der amerikanische Freund war eine
Verfilmung von Highsmiths Ripley’s Game.
In Cannes wurde Wim Wenders in
einer Vorführung von Ozu Yasujiros Klassiker Nagaya Shinshiroku –
Erzählungen eines Nachbarn (1947) in der Reihe Cannes Classics gesichtet.
Wenders verehrt Ozu, in seinem filmischen Tagebuch Tokyo-Ga (1985)
suchte er dessen Schauspieler Ryu Chishu und Kameramann Yuharu Atsuta auf. In
Innenräumen verwendete Ozu stets eine sehr niedrige Kameraposition. Dem
Publikum sollte das Gefühl vermittelt werden, sich in Augenhöhe mit den auf dem
Boden sitzenden Menschen zu befinden.
Diese Perspektive übernimmt auch
Wenders, wenn er Hirayama in seiner kleinen Wohnung beim Lesen, Einschlafen
oder beim Anschauen seiner Fotos beobachtet. Vielleicht blickt Wenders mit
diesem Film indirekt auch auf sein Leben, auf Tokio, die Stadt, die er immer
wieder bereiste. Es ist kein nostalgischer Blick. Ein Regisseur entdeckt sich
mit seinem Helden noch einmal neu.