Patchwork: Urgs, ich muss meinen Stiefsohn in jener Schule holen
Ich liebe es, meinen Stiefsohn von der Schule abzuholen, und ich versuche, das möglichst zu vermeiden: weil ich es hasse. Das liegt an zwei Dingen, die in der Schule gleichzeitig passieren und die viel über den Stiefmutter-Urgs in dieser Gesellschaft aussagen. (Urgs ist Stiefmuttersprache und bedeutet: Urgs, ihr habt mir mal wieder die Stiefmutter-Keule reingehauen.)
Vor der Schule wappne ich mich. An der Straße gibt es eine kleine französische Bäckerei, dort setze ich mich noch eine Viertelstunde rein und esse einen Macaron, Himbeergeschmack. Ich sage mir: Es sind nur Kinder, sie können nichts dafür, dass sie Stiefmütter komisch finden. Sie alle haben Hänsel und Gretel vorgelesen bekommen, und Aschenputtel, und Schneewittchen, und welches Kind will schon vergiftet werden? Oder in den Wald geschickt? Ich lasse das Mandelbaiser auf meiner Zunge zergehen und sammele daraus die Energie, es mit dem Anti-Stiefmutter-Ort Schule aufzunehmen.
Dann gehe ich über die Straße und öffne das Schultor, ich ziehe meine Schultern ein. Die Klasse meines Stiefsohns ist im zweiten Stock. Sobald ich die Tür unten öffne, kribbelt mein Bauch und ich werde schneller, denn ich höre ihn oben rufen und lachen, sein Lachen hallt durch das Treppenhaus, und ich lächele, mir wird warm, ich freue mich auf ihn und das gemeinsame Wochenende. Ich renne also die Stufen hoch, an Kindern vorbei, blicke um die Ecke und sehe ihn im Flur umherrennen, seine Augen werden groß und strahlen, er ruft: „Hallo, Elsa!“, rennt zu mir und umarmt mich einmal richtig doll, dann lässt er mich los und rennt zurück, um seinen Schulranzen zu holen. Die Luft glitzert kurz und duftet nach Jasmin.
Auf diesen Glücksmoment folgt leider unmittelbar der tiefe Fall. Das „Hallo, Elsa!“ sorgt für fragende Gesichter, und grundsätzlich ist ein neuer Klassenkamerad dabei, der dann fragt: „Hä, wer ist das?“ (Hä, das ist Normfamiliensprache, und bedeutet: Auf das strahlende Hallo beim Abholen in der Schule folgt stets Papa oder Mama, also „Hallo, Mama!“, und auf keinen Fall ein Name.) Daher also das „Hä, wer ist das?“, und darauf mein Stiefsohn: „Meine Stfmtr“. „Stfmtr“, das ist Stiefkindsprache und bedeutet „Stiefmutter“, wobei sowohl das ief als auch das utt so viel wie möglich verschluckt werden muss, denn je mehr ieeef in Verbindung mit „Mutter“ gebracht wird, desto mehr ziehen sich die Augenbrauen der Klassenkameraden zusammen.
Ich hasse diese zusammengezogenen Anti-Stiefmutter-Gesichter. Sie ziehen unweigerlich auch meine Augenbrauen zusammen, und dann sehe ich diese Jungs böse an, und sie blitzen böse zurück, und schon duftet hier nichts mehr nach Jasmin, sondern der Flur stinkt nach ranzigen Jungssocken und matschigen Salamipausebroten gemischt mit nie gewaschenem unidentifizierbarem Turnbeutelinhalt.
Wir flüchten dann die Treppe hinunter, mein Stiefsohn und ich, und sobald wir die Salamisocken hinter uns haben, gehen wir wieder aufrecht, reißen die Arme hoch und rufen: Hoch die Hände, Wochenende! Wir lassen die ieeefs und die Augenbrauen hinter uns und kaufen uns beim Späti Kaugummi in Tütchen, das auf der Zunge prickelt. Er erzählt mir von den Noten, beschwert sich über strenge Lehrer, wir diskutieren über den Ärger und das Lob, die er bekommen hat, überlegen, welchen Film wir abends sehen wollen und welches Buch er ausleihen will. Wenn er alt genug ist, leihen wir mal Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft aus: Das Urgs, das sind die anderen.