Palästina-Shirt, fehlende Krawatte und Brüste: Die größten Kleiderskandale im Bundestag

„Dann würde ich Sie bitten, die Sitzung zu verlassen, bitte“ fordert Bundestagspräsidentin Julia Klöckner die Angeordnete Cansın Köktürk kürzlich auf, bevor diese mit Wut im Bauch aus dem Plenarsaal des Bundestages stürmt. „Palestine“ stand auf dem Sweatshirt der Abgeordneten der Linkspartei. Offenbar ist der Name eines Landes Provokation genug für Klöckner, um die Politikerin vor die Tür zu setzen. Köktürk aber ist nicht die Einzige, die aufgrund eines unliebsamen Kleidungsstückes schonmal für übersprudelnde Emotionen auf der großen Bühne der deutschen Politik sorgte. Hier eine kleine Auswahl der größten Aufreger im Parlament.

1. Hosen ja, aber Hosenanzüge nein

Eine der ersten Debatten-Lawinen, in der es um angemessene Kleidung auf dem politischen Parkett des deutschen Bundestages ging, löste die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer aus. Als erste Frau wagte sie es im Jahre 1970, den Plenarsaal in einem Hosenanzug zu betreten. Warum? Weil ein Hosenanzug kein Rock ist. Denn den trug Bothmer nicht nur normalerweise, sondern den hatte sie auch zu tragen, wäre es nach Richard Jaeger (CSU) gegangen, dem damaligen Vizepräsidenten des Bundestags. Der hatte erklärt, er würde keiner Frau erlauben, das Plenum in Hosen zu betreten, geschweige denn an das Rednerpult zu treten. Die 54-jährige von Bothmer besorgte sich daraufhin eine Hosenanzug, beige, für ihre Rede.

Was folgte, war eine Welle der Empörung, die durch die Reihen der konservativ alt-männlich geprägten Geister schwappte. Lenelotte von Bothmer musste sich unter anderem als „würdeloses Weib“ beschimpfen lassen.

2. Kapitalistisches Teufelszeug (Ost): Untragbare Jeans

Einen grundsätzlich festgelegten Dresscode gibt es für den Bundestag nicht, allerdings wurde durch so manche Abweichler schon häufig darüber diskutiert, was im Bundestag als angemessen gilt. Bis heute wird die Würde des Hauses als Maßstab für die Kleiderwahl im Bundestag herangezogen. Wer oder was stört, muss raus. Was diese Würde des Hauses verletzt, hängt wohl von den Zeiten ab, in denen man sich bewegt. So war die Jeans in der DDR beispielsweise zuerst noch hoch verpönt und galt als „kapitalistisches Teufelszeug“. Damit war sie also weder außerhalb noch innerhalb der parlamentarischen Mauern der DDR tragbar.

3. Heute ein Muss, damals ein Skandal (West): Joschka Fischers weiße Sneakers

Einen der denkwürdigsten Auftritte, der sich in den Köpfen der Menschen festsetzte, legte Joschka Fischer bei seiner Vereidigung als erster Grünen-Minister einer Landesregierung 1985 hin, als er in die Hallen des hessischen Landtags in Wiesbaden trat. Zwischen Nadelstreif-Anzügen, Pullundern und fein-karierten, ordentlich gebundenen Krawatten tauchte der zukünftige Außenminister in lässig übergeworfenem Jackett und blauer Jeans auf, unter der die strahlend-weißen Nike Turnschuhe hervorlugten. Normal? Nein, 1985 ein Skandal! Fast noch Skandal mehr als die erste rot-grüne Koalition auf Länderebene.

Heute ist übrigens klar, dass die Turnschuhe gar nicht Fischers Idee waren, sondern die seiner Fraktion. „Die Mehrheit war der Meinung, das muss sein. Dem hab’ ich mich gebeugt“, sagt Joschka Fischer. Ihm gelang die Reise nach Berlin in das Amt des Grünen Außenministers trotzdem. Sein historisches Schuhwerk hingegen landete neben den hohen Hacken der Spice Girls in einer gläsernen Vitrine des Offenbacher Schuh-Museums als unangefochtene Hauptattraktion.

4. Männlicher Dresscode im Bundestag: Nicht ohne Krawatte!

Ob rot, blau oder grau, ob gepunktet, gestreift oder kariert, auf feiner Seide oder Polyester – die Krawatte ist ein allgegenwärtiges Mittel zum Ausdruck männlicher Seriosität und Ordnung. Und also auch der Würde des Hauses. Aber selbst in den eigenen Reihen der grauen Bundestagseinheitsgarderobe wurde sie von so manchem immer wieder kritisch beäugt – von den Rebellen nämlich, den Krawattenverweigerern des Parlaments. Andrej Hunko von den Linken und Sven-Christian Kindler von den Grünen wurden 2010 deswegen entfernt aus ihren Ämtern der Schriftführenden.

Die Würde des Hauses wäre angegriffen durch diejenigen, die sich dem Schlips verweigern. „Es ist aber fraglich, ob so manche Blümchen-Krawatte wirklich die Würde des Hauses hebt“, bemerkt Kindler in einem Interview gegenüber der Deutschen Welle nach seiner Ablösung.

5. Gerhard Schröders ganz eigene Krawatten-Geschichte

Auch dieser Vorfall scheuchte die Herren des Parlaments zum Debattieren um die Kleiderordnung auf und stellte die Frage nach der Notwendigkeit des Schlipses. Der Erste, der sich diesem jedoch entsagte und damit für höchste Empörung sorgte, war der heutige Alt-Kanzler Gerhard Schröder, als er bei seiner ersten Rede als Bundestagsabgeordneter im Jahre 1980 darauf verzichtete. Schröder erzählte in einer Rede 2008 von dieser Begebenheit: Als Juso-Vorsitzender habe er auf eine Krawatte verzichtet, sein Anblick habe jedoch Annemarie Renger auf den Plan gerufen, die damalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Sie habe ihn in der hinteren Reihe angesprochen: „ Genosse Schröder, wenn morgen die Wahl des Bundeskanzlers ist, bindest Du Dir aber eine Krawatte um, wie es sich gehört.“ Und so sei Schröder am folgenden Tag korrekt gekleidet zur Wahl des Bundeskanzlers Helmut Schmidt erschienen.

„Heute ist mir klar“, so Schröder, „dass in dieser kleinen Begebenheit mehr enthalten war als ein Streit um Stil- und Geschmacksfragen. Es ging Annemarie Renger nicht um Äußerlichkeiten. Für sie war die korrekte Kleidung Ausdruck des Respekts vor einem Verfassungsorgan des demokratischen Deutschlands. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie waren zu achten. Sie strahlten für Annemarie Renger eine eigene Würde aus, die nicht verletzt werden durfte. … Denn sie hatte in der Weimarer Republik erlebt, wie die demokratischen Institutionen – und die Frauen und Männer, die diese vertreten hatten – missachtet, verleumdet und bekämpft wurden.“

6. Kopfdeckungen nein …

Cansın Köktürk war nicht die Einzige, die Julia Klöckner in ihrer noch kurzen Laufbahn als Bundestagspräsidentin bislang auf die Gepflogenheiten der heiligen Hallen aufmerksam machte. Vor nicht allzu langer Zeit war ihr Marcel Bauers schwarze Baskenmütze ein Dorn im Auge. Nachdem sie ihn aufgefordert war, sich dieser zu entledigen oder den Saal zu verlassen, räumte der Linken-Abgeordnete das Feld, kehrte später jedoch zurück – mit Mütze auf dem Kopf. Daraufhin verwies Parlamentsvizepräsidentin Andrea Lindholz den Abgeordneten der laufenden Plenarsitzung.

Die Würde des Hauses verbiete nun einmal alle Art von Kopfbedeckungen. Eine Ausnahme gäbe es nur aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen.

7. … Fußballtrikots ja!

Der Bundestag hat also schon so einige unliebsame Kleidungsstücke gesehen, die sich je nach Auslegung gegen die Würde des Hauses richteten. Ob nun Dorothee Bär, die 2015 aus Solidaritätsbekundungen ein Trikot des FC Bayern München unter ihrem Jackett trug, weil der Verein eine 0:3 Niederlage gegen den FC Barcelona kassiert hatte, oder einige Abgeordnete der Linken, die auf ihren T-Shirts die Aufschrift „Weg mit §219a“ trugen, um gegen das Werbeverbot von Schwangerschaftsabbrüchen zu protestieren.

8. O Schreck I: Frauen tragen BHs! Auch die im Bundestag

Die Würde des Hauses sah der Ältestenrat auch im Jahre 2023 verletzt, als die Grünen-Abgeordnete und Transperson Tessa Ganserer sich in einer Sitzung des Familienausschusses im transparenten Blümchen-Oberteil zeigte. Ihr schwarzer BH schien durch – zu viel für die Gemüter.

Was dann folgte, ware ein regelrechter Shitstorm an Menschenfeindlichkeit, gepaart mit jeder Menge Transphobie, brach in den sozialen Medien über die damals 46-jährige Grünen-Abgeordnete herein. So ist die Wahrung der Würde im Bundestag nicht gelungen, im Gegenteil.

9. O Schreck II: Sogar Kanzlerinnen haben Brüste!

Nicht ganz um die Würde im Bundestag ging es bei einer anderen Brust-Debatte, wohl aber um die Würde der Kanzlerin. Denn die trug bei einer Operngala in Oslo ein Abendkleid mit einem tiefen Ausschnitt, der zeigte, dass Angela Merkel tatsächlich Brüste hat. Ist das ok? Die Zeitungen waren unterschiedlicher Meinung. „Wie eine Königin“ sei Merkel aufgetreten, so die B.Z., die Welt hingegen fragte: Wieviel Dekolleté darf eine Kanzlerin zeigen?

Der Ausschnitt von Frau Merkel spaltet die Nation, stellte der Stern fest. Über die Flachheit der Brüste männlicher Abgeordneter lässt sich so schnell nichts finden.

10. Auf keinen Fall Eier

Verboten ist ansonsten auch das Mitführen von Fahnen jeglicher Form und Farbe oder das Mitnehmen von Spielzeugwaffen und Eiern – ein präventives Verbot, damit diese nicht als Wurfgeschosse gegen unliebsame Redner:innen eingesetzt werden können. Wobei man sich lebhaft vorstellen kann, wie in so manchem Disput die ein oder der andere wohl gern mal eine Wasserpistole zücken würde.

Was im Bundestag als „würdevoll“ gilt, scheint vor allem eine Frage des Zeitgeists und der politischen Orientierung zu sein. Mal reichte ein Hosenanzug, mal ein T-Shirt mit Schriftzug, mal das bloße Fehlen einer Krawatte, um einen kleinen Kleiderskandal zu entfachen. Die Würde des Hauses ist dabei weniger ein klar definierter Maßstab als vielmehr eine dehnbare Chiffre für das, was gerade als unpassend gilt. Wer also modisch vom Protokoll abweicht, läuft Gefahr, aus dem Rahmen – oder gleich aus dem Saal – zu fallen.