Ostdeutschland: Wer füllt Dirk Oschmanns Leerstellen?
Es sei „Zeit für ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein“, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) kürzlich dem Tagesspiegel. Sein sachsen-anhaltinischer Kollege Reiner Haseloff (CDU) legte wenig später nach – die Ostdeutschen sollten sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen. Woidke wie Haseloff dürften bei ihren Einlassungen die Wählerschaft aus der Generation derer, die von den Transformationsjahren im Osten geprägt wurden, fest im Blick haben.
Diese Generation der heute zwischen 40- und 60-Jährigen verschaffte CDU und SPD in der Vergangenheit in ihren Hochburgen Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg satte Mehrheiten. Die Vorgänger Woidkes und Haseloffs, Manfred Stolpe (SPD) und Wolfgang Böhmer (CDU), agierten souverän als Landesväter, sie spielten virtuos auf der Klaviatur ostdeutscher Erfahrungen und Mentalitäten, indem sie deren Prägungen in der DDR aufgriffen. Sie präsentierten sich politisch als Kümmerer dezidiert pragmatisch und unideologisch, vermittelten so Halt und Orientierung in unruhiger Zeit. Doch all das ist lange her.
Björn Höckes Heimat
Inzwischen werden die einst hegemonialen Regierungsparteien im Osten von der AfD verfolgt und in Umfragen oder bei Wahlen auch schon mal überholt. Wie eng es für jene werden kann, die die AfD gern als „Altparteien“ beschimpft, war jüngst im brandenburgischen Landkreis Oder-Spree zu verfolgen: Dort kam es zu einer Stichwahl zwischen dem Landratskandidaten der SPD und jenem der AfD. Das Ergebnis ging bei geringer Wahlbeteiligung knapp zugunsten des SPD-Kandidaten aus, der sich mit Ach und Krach auf etwas mehr als 51 Prozent rettete. Dass dies so war, ist wohl Briefwählern aus dem Speckgürtel Berlins, der einen Teil des Landkreises ausmacht, zu verdanken.
Das knappe Ergebnis bedeutet aber auch: Der Tag, an dem die AfD den ersten Landrat oder den ersten Oberbürgermeister in Ostdeutschland stellen wird, ist nicht mehr allzu fern. Dies wird gravierende Folgen für die politische Kultur und das gesellschaftliche Klima vor Ort haben, wo die AfD dann einen Zipfel Macht in Händen hält – mit dem Ziel, mehr davon zu bekommen. Die demokratische Zivilgesellschaft ist darauf nicht gut vorbereitet.
Ostdeutsche Lebensleistung
Die in Ostdeutschland seit Langem offen rechtsextrem agierende Partei hat sich das Narrativ von der Lebensleistung der Ostdeutschen angeeignet und es zu einem regional-nationalistischen Stolz-Diskurs erweitert; allen, die nicht in ihre Vorstellung von Homogenität passen, tritt sie dabei mit Ablehnung gegenüber. Der Fraktionsvorsitzende der AfD in Erfurt, Björn Höcke, spricht viel und gern von Thüringen als Heimat. Dass er aus dem Westen kommt, scheint niemand zu interessieren, wenn er, wie vor Jahren auf dem Erfurter Anger, die Schönheit der Landeshauptstadt und die Thüringer Bratwurst preist. Es erscheint absurd, funktioniert aber: Westdeutsch sozialisierte Politiker wie Höcke und Alexander Gauland reden der zeitgeschichtlichen Erfahrung der Menschen im Osten in den Parlamenten und auf Marktplätzen nach dem Mund, parallelisieren das heutige Krisenbewusstsein vieler mit der Endphase der DDR und betätigen sich als politische Endzeitpropheten.
Schon in den ostdeutschen Wahlkämpfen des Jahres 2019 spielte die AfD nicht ungeschickt mit der Rhetorik des Umbruchs im Osten, auf Plakaten warb sie mit dem Spruch „Vollende die Wende“. Höcke ließ vernehmen, das Meinungsklima im Lande sei so rigide wie in der DDR, wo am Montagmorgen die Schulkinder vom Klassenlehrer einvernommen wurden, ob zu Hause Westfernsehen geschaut werde. Wie damals müsse man den Kindern einbläuen, über politische Gespräche am familiären Küchentisch zu schweigen. Das trifft auf Resonanz im Osten. Im Kontext des Ukraine-Krieges nimmt die AfD Anleihen an die Terminologie der Friedens- und Entspannungspolitik der 1980er Jahre. In Umfragen wird die Partei im Osten hierfür mit Werten von 20 Prozent und mehr belohnt.
Der Osten – eine westdeutsche Erfindung?
Auf die Anerkennung ostdeutscher Erfahrungen und auf kulturelle Repräsentation warten viele in Ostdeutschland bis heute. Allerdings werden die Karten für die Bewertung der fortwirkenden geschichtlichen Umbrüche mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit neu gemischt. Ob DDR-Vergangenheit, Treuhand, Aufbau und Elitenwechsel Ost oder die Frage, weshalb die extreme Rechte diesmal in Gestalt der AfD im Osten so stark ist – neue Akteure stellen alte Fragen neu.
Wie stark Wut und Regression die Debatte zumindest mitbestimmen, lässt sich am Erfolg des Buches des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann ablesen. Sein Der Osten: eine westdeutsche Erfindung führt die Bestsellerliste des westdeutschen Magazins Spiegel seit Wochen an. Oschmann wiederholt im Tonfall einer essayistischen Anklageschrift noch einmal all das, was über das Ost-West-Verhältnis seit drei Jahrzehnten zu Recht gesagt wird: Es fehlt an Anerkennung und Augenhöhe in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Verantwortung dafür, dass Ostdeutsche bis heute Benachteiligung und, nach Oschmanns Ansicht, pauschale Stigmatisierung erfahren, schreibt er allein den Westdeutschen zu. Seiner These, die Westdeutschen führten sich im Osten bis heute als Konquistadoren auf, stimmen seine zahlreichen Leser nur zu gern zu. Denn der Autor entlastet die Ostdeutschen in seiner Suada von der Mitverantwortung für das, was ihnen angeblich nur passiv widerfuhr. Ob Anschluss nach Artikel 23 des Grundgesetzes statt deutsch-deutsche Konföderation, rasche Währungsunion oder die Blanko-Übernahme westdeutscher Gesetze nach dem 3. Oktober 1990: den Anteil, den die Ostdeutschen am Gang der Geschichte hatten, lässt Oschmann unerwähnt – etwa den häufig blinden Glauben an die Versprechungen Helmut Kohls oder die Verwechslung des Werbefernsehens West mit der Realität des Kapitalismus.
Jenseits von Jena und Leipzig
Dass sich der Autor offen zu seiner einseitigen und grobkörnigen Darstellung der Situation im Osten bekennt, soziologische Erkenntnisse, wo sie ihm argumentativ passen, nutzt und deren politischen Nutzen zugleich verwirft, tut dem Erfolg des Buches keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Lesungen mit Oschmann sind überfüllt. Groß ist das Bedürfnis der Zuhörerschaft in Fragerunden nach den Lesungen, dem Autor zu bestätigen, was er in seinem Buch schreibt: dass man den Ostdeutschen bis heute übel mitspiele. Endlich sagt es mal einer, so der Tenor. Oschmanns Buch mobilisiert noch einmal alle Entfremdungs- und Ohnmachtsgefühle der Generation der Transformationsjahre gegenüber dem Westen und schafft ein wütend regressives Grundrauschen beim ostdeutschen Publikum.
Dieses Verharren in der Rolle des Opfers westdeutscher Arroganz gibt Ressentiments Raum und versperrt den Ausgang aus der Misere ost- und westdeutscher Aggregatzustände. Erstaunlich ist auch, dass Fragen sozialer Gerechtigkeit und der Tarifangleichung Ost in der Debatte über das Buch ebenso abwesend sind wie jene Zeichen ostdeutscher Aufbrüche, die es in Regionen jenseits von Jena und Leipzig sehr wohl gibt. Das beklagte einseitige Bild von der ostdeutschen Provinz als Hochburg des Rechtsextremismus lässt die kreativen soziokulturellen Initiativen in Städten wie Döbeln, Aschersleben oder Saalfeld gar nicht erst sichtbar werden.
Identitätsdebatten im Laboratorium
Die Anrufung eines neuen ostdeutschen Selbstbewusstseins durch Politiker wie Dietmar Woidke ist nicht ohne Ambivalenz. Das Feld ostdeutscher Identitätsdebatten ist umkämpft und vermint. Die AfD wird nicht von dem Versuch ablassen, ostdeutsche Selbstverständigungsdebatten politisch zu okkupieren. Die Partei und ihr politisches Vorfeld hat Ostdeutschland zum Laboratorium erklärt, um auszutesten, wie weit sie mit ihrer Strategie der Aushöhlung der Demokratie gehen kann. Dass sie dabei die kollektiven Erfahrungen, aber auch politische Imaginationen eines Teils der Ostdeutschen anspricht und politikferne Nicht-Wähler mobilisiert, ist als Indiz zu verstehen, wie schwer sich die etablierten Parteien tun, auf das Krisenbewusstsein und die Gefahr der Radikalisierung eines Teils der Ostdeutschen zu antworten.
Der Schlüssel dafür, die Entleerung der Demokratie im Osten zu stoppen, liegt ganz offenbar nicht in den Händen eines ostdeutschen Bestsellerautors und seiner vereinfachten Darstellungen der Lage. Sondern bei jenen, die sich im Osten für Demokratie engagieren unter Bedingungen, von denen man sich in Berlin, oder Frankfurt am Main und Hamburg keinen Begriff macht.