Oscars 2023 – Bilanz der Awards: Beste Aussichten dank »Everything Everywhere All at Once«

Oscargewinner Daniel Scheinert, Daniel Kwan: »In jedem einzelnen Menschen steckt Genialität«

Oscargewinner Daniel Scheinert, Daniel Kwan: »In jedem einzelnen Menschen steckt Genialität«


Foto: Mario Anzuoni / REUTERS

Natürlich war die Show mal wieder zu lang. Etwa zur Mitte der rund dreieinhalb Stunden langen Verleihung (nur geringfügig länger als »Avatar: Der Weg des Wassers«) fragte Moderator Jimmy Kimmel kokettierend ins Publikum, ob schon jemand das »Slapping« vermisse. Damit spielte er natürlich auf die Ohrfeige von Will Smith für Chris Rock aus dem vergangenen Jahr an, den größten Oscar-Eklat seit langer Zeit. Ein solches Spektakel gab es bei der 95. Verleihung der wichtigsten Filmpreise der Welt nicht. Aber war sie deswegen so langweilig, dass man sich eine Watsche zum Wachbleiben gewünscht hätte? Nein.

Nach dem Tumult von 2022 und viel Gezerre darum, welche Awards in der Show vergeben werden sollen und welche nicht, um Zeit zu sparen, schienen sich die Oscarproduzenten dieses Mal ganz darauf zu konzentrieren, die Wogen zu glätten. Das Kino, sagte Oscarpreisträger Daniel Kwan (»Everything Everywhere All at Once«) in einer seiner – letztlich zahlreichen – Dankesreden an diesem Abend, sei ein Ort, an dem man dem Chaos in der Welt entfliehen könne, der zum Träumen animiere. Dem Handwerk hinter dieser immer auch eskapistischen Kunst ist die Oscarverleihung gewidmet. Es kostet Mühe, und es braucht viel Hingabe, Leidenschaft und Talent, diese viel beschworene Kino-Magie herzustellen. Und deshalb war es nicht nur auffällig, dass Kimmel und viele Presenter ausführlich die Gewerke von Kamera, Kostümen, Sound und Schnitt würdigten, es war auch richtig, diese Handwerkskünste wieder mehr in den Vordergrund zu spielen.

»Hold My Hand« – das geheime Motto des Abends

Denn das Kino geht durch eine seiner wiederkehrenden Transformations- und Veränderungsphasen. Die Zukunft des Kinos, seine auf großer Leinwand abgebildete Vielfalt, scheint ungewiss. Verständlich daher, dass ein großer Gemeinschaftsgeist eine Oscarshow durchdrang, die man als sympathisch demütig empfinden konnte: Geglänzt haben die Preisträgerinnen und Preisträger mit ihren oft berührenden Ansprachen und Reden, der Gewinnersong »Naatu Naatu« aus dem Tollywoood-Spektakel »RRR« wurde mitreißend dargeboten und sorgte für Lebhaftigkeit, aber berührender, eindringlicher war der fast ungeschminkt, roh und »real« wirkende Auftritt von Lady Gaga mit »Hold My Hand« aus »Top Gun: Maverick«, den sie performte, obwohl sie aus Zeitgründen eigentlich ihren Auftritt abgesagt hatte. Aber die Oscars, bedroht von Quotendruck, Diskussionen um mangelnde Diversität und generelle Aufgeblasenheit, machten auf Gaga vielleicht den Eindruck, als bräuchten sie ihren Beistand. »Hold My Hand« – halte mein Händchen – das war vielleicht sogar das geheime Motto dieser bescheiden glamourösen, filmsolidarischen Show, auch wenn am Ende ein anderer Song den Oscar bekam.


Performance von Lady Gaga: Fast ungeschminkt wirkend – und »real«

Performance von Lady Gaga: Fast ungeschminkt wirkend – und »real«


Foto: Etienne Laurent / EPA

So war das Dolby Theater, vor dem diesmal kein provokant roter, sondern ein dezent champagnerfarbener Teppich ausgerollt war, wie ein Safe Space für die Kinogemeinde, die sich in widrigen Zeiten Mut zusprach, sich immer wieder auf das körperliche, seelische, finanzielle, vielleicht auch ruinöse, aber oft ultimativ beglückende Abenteuer Kino einzulassen: »In jedem einzelnen Menschen steckt Größe«, beschwor Daniel Kwan, zusammen mit seinem Regiepartner Daniel Scheinert der große Gewinner des Abends, den oft abgegriffen scheinenden, aber natürlich zutiefst wahren Spirit vom Film als Gemeinschaftsanstrengung: »Es spielt keine Rolle, wer wir sind. In jedem einzelnen Menschen steckt Genialität, man muss sie nur finden. Vielen Dank an die Menschen, die mein Genie freigesetzt haben.«


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»Everything Everywhere All at Once« ist auch deshalb ein so guter Gewinner, weil zukünftige Filmschaffende sowohl alles auch nichts von den Daniels und ihrem Team lernen können. Alles, weil sie mit 30 Millionen Dollar einen Filmkosmos geschaffen haben, der sich mit nichts sonst vergleichen lässt – der Wackelaugen, Hot-Dog-Finger und eine »Mitarbeiter des Monats«-Trophäe umfasst, die verdächtig einem Sextoy ähnelt. Und nichts, weil es nie wieder einen Film über eine chinesischstämmige Besitzerin eines Waschsalons geben kann, die eigentlich die Steuer machen muss, es zur Rettung der Welt aber ins Multiversum verschlägt. »Everything Everywhere All at Once« bietet keine Erfolgsformel zum Kopieren an, sondern ist die Ermutigung an alle Drehbuchautorinnen und Regisseure, ihre ureigenste, verdrehteste und verrückteste Geschichte zu erzählen. Wenn diese Geschichten erst alle ins Kino kommen – keine schlechten Aussichten, oder?

Mundpropaganda hat das Kino gestärkt

Fortsetzungen, Reboots und Sequels wird es weiterhin auch geben. Und wenn sie technisch so begeistern wie »Avatar 2« und so gnadenlos gut unterhalten wie »Top Gun: Maverick«, ist dagegen rein gar nichts zu sagen. Tatsächlich ergänzen sich Filme derartig unterschiedlicher Zuschnitte sogar. So wurde »Top Gun« zugute geschrieben, die Kinos gerettet zu haben, weil der Film die Massen ins Kino zog. »Everything Everywhere All at Once« hat auf seine Weise aber ähnliches geleistet: In den USA läuft der Film seit einem Jahr in den Kinos, und auch hier zeigen ihn Kinos immer noch. Mundpropaganda hat das Durchhaltevermögen der Kinos gestärkt und kontinuierlich Leute in den Film gebracht. Und wer auf Empfehlung einer Freundin, die sich schon von Wackelaugen und Hot-Dog-Finger begeistern ließ, ins Kino ging, wird erlebt haben: Im Kino gibt es noch was zu entdecken. Das ist das Versprechen, von dem das Kino zehrt, das die Oscars aber so gut wie nie eingelöst haben, weil sie meist geschmackvolles Mittelmaß ausgezeichnet haben. Ob »Parasite«, »Moonlight« oder »Everything Everywhere All at Once«: Die Trefferquote der Oscars erhöht sich.


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Foto:

Etienne Laurent / EPA


Ein wenig mehr hätte die Academy ihre Liebe aber noch verteilen können. Dass Steven Spielbergs »The Fabelmans« und Martin McDonaghs »The Banshees of Inisherin« gar nichts gewonnen haben, wird diesen zwei lebensweisen Filmen nicht gerecht und verkürzt das Spektrum der Filmkunst, das sie 2022 im Angebot hatte. Auch die zwei Musikfilme »Elvis« und »Tár« bieten in ihren so unterschiedlichen Registern Spektakel nach ihren eigenen Regeln. Dass es für Sarah Polley und ihren klugen und kunstvollen Film »Women Talking« am Ende für den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch reichte, macht noch am ehesten Hoffnung darauf, dass die Academy nicht vollends nach dem »The Winner takes it all«-Prinzip funktioniert und funktionieren wird.

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Und dann ist da noch der Erfolg von »Im Westen nichts Neues«. Die deutsche Filmbranche kann sich darüber freuen, mit einem Film so viele Oscars wie noch nie gewonnen zu haben. Hoffentlich fragt sie sich nach der Feierei aber auch, wie so ein Erfolg auch ohne Netflix-Geld, aus eigener Kraft möglich wäre. Wenn die Branche dieses Rätsel löst, dann ist sogar das deutsche Kino bestens gewappnet für die Zukunft.