Oliver Bätes Karenztag-Provokation: Ich kenne keine Malocherin, die sich gerne krankmeldet
Arbeit ist das halbe Leben, so heißt es. Diese Redewendung ist absoluter Quatsch. Genau so großer Quatsch wie einige Vorschläge, die es aktuell rund um Arbeit, Arbeitszeiten, Krankmeldungen und Nicht-Arbeitszeiten gibt. Allianz-Chef Oliver Bäte hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass Arbeitnehmer*innen die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen sollen, um ihre Arbeitgeber zu entlasten. Lesen Sie den Satz gern noch einmal und stellen Sie sich das konkret vor: Da ist also eine Person, die arbeitet, und diese Person wird krank. Sie soll dann ihren Arbeitgeber entlasten. Bei dieser Vorstellung frage ich mich: In welcher Welt leben wir eigentlich?
Was reiche Männer mit extrem gut bezahlten Schreibtischjobs wollen
Okay, die Antwort ist schnell gefunden. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Leistung das höchste Gut ist und in dem eine kranke Person sich gefälligst um ihren Arbeitgeber sorgen soll, statt um ihre eigene Gesundheit. Eine Gesellschaft, in der reiche Männer mit extrem gut bezahlten Schreibtischjobs Forderungen in die (Arbeits-)Welt rufen, von der sie praktisch überhaupt keine Ahnung haben. Forderungen an eine Gesellschaft, in der Arbeit mehrheitlich das verdammte ganze Leben ist.
Vor einigen Wochen habe ich in Duisburg ein Werk von Thyssen Krupp besucht und dort mit einigen Arbeitern gesprochen, unter anderem mit einem Betriebsrat. Ich habe ihn nach seinen Arbeitszeiten gefragt. Seine Antwort: Um sechs Uhr stellt er die Kaffeemaschine im Büro an und abends ist er nicht vor 23 Uhr zuhause. Seinen kleinen Sohn sieht er nicht oft.
Ein Paketbote, ein Taxifahrer, eine Busfahrerin, eine Erzieherin und ein Lkw-Fahrer
Ich denke an Daniel, den Paketboten, mit dem ich vor Weihnachten gesprochen habe. Der sagt: „Ab November wird es schlimm, bis Januar“. Der von seinem Opa erzählte, der relativ kurz nach Renteneintritt gestorben sei, so wie sein Vater. Daniel denke oft über diese Zeile der englischen Punkband Crass nach: „Do they owe us a living? Of course they do“.
Ich denke an den Taxifahrer Mustafa Yılmaz, der mir von einem schlafenden Uber-Fahrer erzählte. Der schlafend an einer Ampel im Auto saß, weil er so müde von der langen Arbeit war.
Ich denke an Momo, die Busfahrerin in Leipzig, deren Schicht manchmal morgens um 2:48 Uhr beginnt. Die ihren Job aus „idealistischen Gründen macht“, weil es ihr Freude macht, Menschen zu bewegen.
Ich denke an Anne, eine Erzieherin, die mir aus dem Alltag ihrer Kita erzählte: „Wir haben ganz oft das Motto: Hauptsache, kein RTW“, kein Rettungswagen.
Ich denke an meinen Vater, der 76 Jahre alt ist und Rentner und noch immer einige Tage im Monat arbeitet, als LKW-Fahrer. Denn was soll man machen, wenn das ganze Leben aus Arbeit besteht und die Rente kommt? Genau, weiter arbeiten.
„Das, was wir mal Sozialstaat genannt haben, steht auf dem Spiel“
Ich rufe meinen Vater an: „Wie findest du diese Vorschläge zur Lohnfortzahlung, die es gerade gibt?“ Mein Vater: „Ihr müsst jetzt gut aufpassen, dass euch die sozialen Errungenschaften, die meine und die vorherigen Generationen erkämpft haben, nicht wieder weggenommen werden. Das, was wir mal Sozialstaat genannt haben, steht auf dem Spiel.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund schließt sich auf Bluesky meinem Vater an und schreibt: „Dank uns Gewerkschaften gibt es seit 1970 die Lohnfortzahlung bei Krankheit. Das ist gut so und das muss auch so bleiben.“ Folgende Gründe sprechen für diese Lohnfortzahlung: Niemand sollte krank arbeiten müssen, sondern sich auskurieren. Erkrankte Menschen arbeiten weniger produktiv und könnten Kolleg*innen anstecken. Und: Arbeit sollte nicht das ganze Leben sein.
Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht erwerbsarbeiten wollte
In meinem Umfeld und in allen Gesprächen, die seit 20 Jahren zu Arbeitsthemen als Journalistin geführt habe (und das sind viele), habe ich nicht einen einzigen Menschen getroffen, der nicht erwerbsarbeiten wollte. Im Gegenteil, häufig traf ich Menschen, die eigentlich gern mehr oder überhaupt gearbeitet hätten (pflegende Mütter zum Beispiel) oder Menschen, die gern angemeldet gearbeitet hätten (Putzkräfte zum Beispiel). Ich habe wirklich noch nie einen Menschen getroffen, der sich gerne krankmeldet.
Meine Erfahrung ist: Menschen sind eher zu loyal den Arbeitgeber*innen oder Kolleg*innen gegenüber und schleppen sich lieber krank zur Arbeit als sich krankzumelden. Die kapitalistische Gesellschaft hinterlässt bei uns allen ihre Spuren. Wir brauchen dafür keinen reichen Schreibtischmann, der uns sagt, wenn wir krank sein dürfen und wann nicht und wann wir unseren Arbeitgeber entlasten sollen. Der Kapitalismus steckt in uns allen. In einigen weniger und in anderen mehr.
Oliver Bäte, der „Mister Efficiency“ von McKinsey
Oliver Bäte hat in Köln und New York Betriebswirtschaft studiert und lange für die Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet. Bei der Allianz schaffte er es innerhalb von sechs Jahren in den Vorstand. Im Jahr 2007 wurde er vom Institutional Investor Magazine zum „Mister Efficiency“ gewählt. Er ist sicher ein Mensch, der sich mit Geld und Effizienz auskennt, aber ein Mister Maloche oder ein Mister Menschlichkeit, das ist er beides ganz sicher nicht. Und wenn man von etwas keine Ahnung hat, sollte man sich besser zweimal überlegen, welche Forderungen man so raushaut. Gern auch dreimal.
Ich hatte eigentlich gar keine Zeit für diesen Text, weil ich an etwas anderem gearbeitet und nebenbei mein Kind betreut habe. Ich habe ihn aber trotzdem geschrieben. Genau so, wie viele trotzdem zur Arbeit gehen, auch wenn sie eigentlich keinen Bock haben. Sie gehen zur Arbeit, weil sie ihre Kolleg*innen nicht hängen lassen wollen. Sie gehen zur Arbeit, weil sie an ihr Unternehmen glauben. Sie gehen zur Arbeit, weil sie etwas bewegen wollen. Sie gehen zur Arbeit, weil sie ein gutes Leben für ihre Familie wollen. Sie gehen zur Arbeit, weil sie auch Teilhabe an der Gesellschaft bedeutet. Sie gehen zur Arbeit, weil sie arbeiten wollen. Weil Arbeit oft ihr verdammtes ganzes Leben ist. Und dabei verstehe ich alle, die keinen Bock mehr haben. Ich habe auch bald keinen mehr.