Obdachlosigkeit in Buenos Aires: Auf der Suche nach einem sicheren Ort
Auf der Suche nach einem sicheren Ort – Seite 1
13. Februar 2023, 4:00 Uhr:
Ich stehe vor dem Flughafen Jorge Newbery in Buenos Aires, in der dunkelsten
Nacht. Eben habe ich bemerkt, dass ich mein Portemonnaie mit sämtlichem
Reisegeld und allen Karten im Taxi liegengelassen habe, das mich und Lennart
hierhergefahren hat. Ich laufe dem Auto nach, panisch; aber zu spät. Mein Pass
war da auch drin. Was, wenn ich nicht mehr nach Hause komme?
Wir laufen zum Taxistand weiter
vorn, doch der Fahrer ist bereits zurück auf dem Weg in die Stadt. Dass ich
ohne Pass nicht nach Patagonien fliegen kann, sagt Lennart, dass wir unseren
Urlaub vergessen können.
Ich mache eine Szene, das erlaube
ich mir jetzt, aus lauter Wut. Eine blonde Touristin in ihren Vierzigern tritt
gegen ihren Rucksack, schluchzt, flucht, und setzt sich trotzig weinend auf die
Bordsteinkante. Es wird mir zu Hilfe geeilt. Qué pasa, was ist los?
Freundliche Argentinierinnen geben gute Tipps, trösten mich mit mir
unverständlichen Worten. Sie schicken mich zur Polizei, ich mache eine
Verlustanzeige, finde ein Foto meines Passes auf dem Handy und darf schließlich
doch in den Flieger nach El Calafate steigen. Suerte, wünschen uns die
Argentinierinnen zum Abschied: Glück.
Es ist wirklich ein Glück, trotz
meiner dummen Fahrlässigkeit aus dieser Stadt rauszukommen. Die letzten Tage
waren heiß und feucht.
Am Tag davor: Ich laufe mit Lennart
bei 40 Grad durch seinen Wohnbezirk Balvanera, ich bin erschöpft. Wir
gehen um eine Straßenecke: Da liegen aufgefaltete Pappkartons auf dem Boden,
auf denen ein Baby in Windeln liegt, daneben die Mutter mit einem weiteren Kind
auf dem Arm, mehrere überfüllte Tragetaschen stehen hinter ihnen. Ein Mann, den
ich für den Vater halte, steht ein paar Meter weg auf dem Gehsteig. Nachdem wir
an ihnen vorbei sind, drehe ich mich um, ungläubig – obwohl mir Lennart schon
erzählt hat, dass mittlerweile auch Familien mit kleinen Kindern auf den
Straßen von Buenos Aires leben. Der Vater schaut mich an; er hält meinem Blick
stand, bis ich weitergehe.
Argentinien ist durch die
Misswirtschaft des bis 2019 regierenden, unter Korruptionsverdacht stehenden
Ex-Präsidenten Mauricio Macri und die Pandemie noch tiefer in die Krise
gerutscht, eine Inflationsrate von zuletzt über 100 Prozent hat in den vergangenen
Monaten dazu geführt, dass in Buenos Aires viele Menschen ihr Zuhause verloren
haben und jetzt auf der Straße leben und schlafen. Personas en situación de
calle werden sie genannt: Menschen in Straßensituation. Auch im Flughafen
Jorge Newbery übernachten derzeit etwa 100 Menschen ohne Schlaf- und
Wohnort.
Ich reise gern, denke ich, als ich
im Flugzeug sitze und auf die spektakuläre patagonische Landschaft mit ihren
unwirklichen Farben hinuntersehe. Stimmt das?
Macht mir das Reisen Freude, oder ist es einfach eine Notwendigkeit für
mich, räumliche Veränderung in Aussicht zu haben; immer auf dem Sprung zu sein?
Seit fast 15 Jahren lebe ich zwischen zwei Städten, zwei Ländern. Ich
komme aus Österreich, in Wien besitze ich eine Wohnung, die ich zurzeit
vermiete; den Großteil des Jahres verbringe ich in Berlin. Aber ich will wieder
umziehen, auch wenn ich noch nicht weiß, wohin. Nach all der Zeit habe ich noch
immer nicht das Gefühl, in der Stadt zu Hause zu sein. Außerdem ist Berlin,
zumindest meiner Wahrnehmung nach, in den letzten Jahren härter geworden: Ich
empfinde mich selbst als abgestumpft und grausam, weil ich die vielen Menschen,
die auf den Straßen Berlins leben, einfach ignoriere. Ich fühle mich machtlos,
ich kann nichts an ihrer Lage verändern. Und auch die Tatsache, dass die
Stadtpolitik in der schon lange drängenden Wohnungsfrage noch immer nicht die
nötigen Schritte geht, macht mir Sorgen.
Wir beziehen unser winziges
Ferienhaus am Rand der Ortschaft El Calafate. Der Wind bläst Tag und Nacht,
pfeift durch Türen und Fenster. Lennart und ich passen ganz gut hierher: Wir
beide sind ortlos und nun in diese in Wahrheit unbewohnbare, karstige
Landschaft geworfen. Lennart ist ein alter Freund aus Berlin, der seit fast
fünf Jahren in Lateinamerika wohnt. In diesem Februar bin ich das letzte Mal
bei ihm zu Besuch; er will Buenos Aires demnächst verlassen. Einerseits
verdient er als Sprachlehrer zu wenig, um seinen Lebensunterhalt zu bezahlen –
der Urlaub, den wir hier im teuren Patagonien machen, ist für argentinische
Einkommensverhältnisse eigentlich unleistbar. Andererseits hat er auch nach
mehreren Jahren noch nicht das Gefühl, hier angekommen zu sein. Er will zurück;
nur wohin, weiß er noch nicht.
Home is where your heart is
– zu Hause ist da, wo dein Herz ist; ich weiß nicht genau, was diese Redewendung
bedeuten soll. Das wirkliche Reisen ist mir ohnehin das liebste, denke ich ein
paar Tage später im Bus nach El Chaltén: das ständige Unterwegssein. Nur zum
Schlafen anhalten. Morgens aufstehen und in den Bus steigen, noch lieber ins
Auto, am liebsten mache ich nicht einmal den Versuch, irgendwo anzukommen.
Vielleicht bin ich einfach selten gern an den Orten, an denen ich gerade bin;
am glücklichsten bin ich, wenn ich neben gepackten Koffern sitze.
Zu Hause ist, wo du deinen Hut aufhängst
Die stundenlangen täglichen
Wanderungen durch die überwältigende Gegend sind befreiend, nur vor der
Rückkehr in die Unterkunft werde ich immer ein wenig unruhig. Zwar versuchen
wir uns in der Ferienwohnung in El Chaltén ein Heim zu machen. Aber es gelingt
uns nicht richtig, wir sind einfach nicht gut darin. Auch gibt es nur ein
Zimmer und uns fehlt beiden ein Rückzugsort. Wir sind an Platz und Alleinsein
gewöhnt.
Ich denke an meinen Wohlfühlort.
Mein sicherer Platz, an den ich mich in meiner Vorstellung immer retten kann,
ist eine Wiese in den Bergen. Ich sitze oder liege auf einer Decke, die Sonne
scheint. Obwohl das Wetter niemals schlecht wird und keine Gefahr von außen
droht, gibt es eine kleine, gemütliche Hütte, die mir jederzeit offensteht.
Zurück in Buenos Aires sehe ich sie
ständig, wirklich überall: Familien und Paare, junge Frauen, die mit ihren
Kindern durch die Straßen wandern, sie ziehen oder tragen Plastiktaschen oder
Rollwägelchen. Menschen, die einen Ort in der Stadt suchen, an dem sie ihre
Dinge abstellen können, sich eine Weile ausruhen können; vielleicht sehen sie
sich auch nach etwas zu essen um.
Auf meinem Weg zur österreichischen
Botschaft, wo ich für meine Heimreise einen Notpass beantragen muss, liegt ein
junger Mann mit nacktem Oberkörper auf dem bloßen Gehsteig und schläft, er hat
Tattoos wie die jungen Männer in den Berliner Bars und könnte auch sonst einer
von ihnen sein. Ein Kind, vermutlich sein Sohn, sitzt zu seinen Füßen in dem
kleinen Viereck aus staubiger Erde, aus dem einer der vielen Bäume wächst, die
Buenos Aires grün und lebenswert machen. Er spielt mit zwei Steinen und schaut
mich an: ein bisschen neugierig, ein wenig ängstlich. Soll ich ihm einige
Tausend Pesos in die Hand drücken? Beschäme ich die beiden damit? Und reicht
das Geld dann noch, das ich mir mit Western Union habe schicken lassen, nachdem
ich alles Bargeld und die Bankkarten verloren habe? Das Kind ist gerade im
Grundschulalter, denke ich, während andere Kinder in sauberen Schuluniformen an
der Hand ihrer Mutter an dem Kind mit nacktem Oberkörper vorbeigehen.
Auf der Botschaft empfängt mich
eine freundliche Argentinierin, die mir gleich das Gefühl gibt, dass alles in
Ordnung kommt, dass ich wie geplant meinen Rückflug nach Berlin antreten kann.
Ich fülle die vielen Zettel ordnungsgemäß aus und gebe sie der Mitarbeiterin;
ihr österreichischer Kollege ruft mich kurz darauf zum Schalter: Sie haben zwei
Hauptwohnsitze? Ich werde darüber belehrt, dass es nicht legal ist, in Wien und
Berlin zu Hause zu sein, in sehr strengem, fast empörtem Ton, und kurz bekomme
ich Angst, dass er mir meinen Notpass jetzt vorenthalten wird. Ich will doch
einfach nur heim, denke ich, beteuere, mich bald um die Situation zu kümmern,
versuche zu lächeln, bis er mir das weiße Büchlein in die Hand drückt und sagt:
Gut aufpassen drauf.
Auf dem Weg zurück nach Balvanera
sitzt eine Frau mit ihrer Tochter auf einer Decke auf dem Gehsteig; Koffer und
Taschen stehen neben ihnen, sie haben ihren Besitz im Auge. Die Mutter ist
dabei, dem Kind die Haare zu kämmen. Sie weint nicht, flucht nicht. Es würde
auch nichts helfen; selbst wenn ein paar freundliche Menschen kommen und sie
fragen würden: Qué pasa? Sie würden keine hilfreichen Tipps für sie
haben, keine Lösung für ihr Problem.
Home is where you hang your hat. Zu Hause ist, wo du deinen
Hut aufhängst.
Am Ende bin ich gut in Berlin
gelandet, ich bin angekommen: Ich kann meinen Rucksack abstellen, meine Sachen
auspacken, kann mir etwas kochen, mich in die Badewanne legen. Was soll ich
antworten auf die Frage einer Wiener Freundin, wie es ist, wieder zuhause zu
sein?
Ich habe eine Wohnung, sie ist
ziemlich groß und gemütlich. Ich sollte mich wirklich wohlfühlen hier. Suerte.