Norwegens Nationalballett: Jetzt kommt sie durch den Vordereingang
Elle Sofe Sara ist eine samische Choreographin, in deren Inszenierungen Gesang, Tanz und Film zusammenkommen. Traditionelle künstlerische Ausdrucksformen der Samen, der Ureinwohner des Nordens, fließen in ihre lebhaften Arbeiten ein. Ihr in Norwegen und europaweit tourendes Stück „Vástádus Eana – The Answer is Land“ zeigt das weibliche Ensemble in die bunten Festtagsgewänder ihrer Vorfahren gekleidet.
Die Jäger, Sammler und Fischer, deren Sápmi genanntes Land sich über Teile Finnlands, Russlands, Schwedens und Norwegens erstreckt, waren irgendwann dazu übergegangen, Rentiere nicht mehr zu jagen, sondern in Herden zu hüten, um ihr Fleisch, Leder und Felle zu verwenden und zu handeln. Die letzten Minuten von Elle Sofe Saras neuem, für das Norwegische Nationalballett geschaffenen Stück „Láhppon/Lost“ zeigen im Video auf der Rückwand eine Rentierherde, die in schnellem Lauf im Schnee einen dicht gedrängten Pulk bildet. Jan Helmer Olsen hat diese Bilder aus der Luft aufgenommen. Sie sind von bewegender Schönheit, indem sie einerseits die Wildheit der Tiere zeigen – Rentiere ziehen zwar Schlitten, sind aber nur halb zahm – und andererseits das technologisch dominierte Leben der Gegenwart spiegeln. Längst überwachen die Samen ihre Tiere mit Motorcross- Bikes im Sommer, Schneemobilen im Winter sowie mit Helikoptern aus der Luft. Wobei die Hubschrauber nur eingesetzt werden, wenn es gar nicht anders geht, denn an Lärm und Luftverwirbelungen gewöhnen sich die Rentiere schlecht.
Die Ballettdirektorin Ingrid Lorentzen hat den roten Teppich ausgerollt
„Láhppon“/Lost“ erinnert an die Verluste Lapplands und die Verlorenheit der Samen, die heute fast alle in Städten leben. Die Wikinger waren die ersten, die Leid über sie brachten. Seit dem Mittelalter dann setzte die Christianisierung ein, die alten schamanischen Priester und die Götter des Windes und der Sonne, in denen sich die enge spirituelle Bindung der Samen an die Natur ausdrückte, wurden verdrängt. Die Geschichte der Samen verzeichnet auch gute Zeiten von Handelsbeziehungen, aber Unterdrückung, Versklavung, Ausbeutung und alle Formen erzwungener Anpassung überwogen. Noch im zwanzigsten Jahrhundert mussten ihre Kinder Internate besuchen, waren die samischen Sprachen nicht akzeptiert. Heute geht es um Rechte an Lebensraum, der durch Energiegewinnungsprojekte und den Abbau von Rohstoffen infrage gestellt werden. Das ist der geschichtliche und geopolitische Hintergrund, vor dem Elle Sofe Sara als erste samische Choreographin ein Stück mit dem Norwegischen Nationalballett erarbeitet hat.
In „The Answer is Land“ hatte sie bereits Bilder geschaffen, die für diese verzögerte samische Teilhabe an der Kulturwelt stehen. Das Stück beginnt mit einer Prozession des Ensembles und des Publikums unter Megaphon-verstärkten Gesängen der Tänzerinnen, die um das Theater herum und erst danach – und nur durch die Hintertür – auf die Bühne führt. Doch nun hat Elle Sofe Sara den Vordereingang genommen, und der große Anteil samisch gekleideter Zuschauer bei der Premiere zeigt, welche symbolische Bedeutung das hat. Ballettdirektorin Ingrid Lorentzen hat ihr und dem Kooperationspartner, dem Samischen Nationaltheater von Beaivvás, den roten Teppich ausgerollt. Die ehemalige Ballerina der Company leitet das Ensemble seit 2012 und hat es bewusst zeitgenössisch ausgerichtet. Titel wie „La Bayadère“ oder „Romeo und Julia“ finden sich zwar auch im Repertoire, aber der „Schwanensee“ etwa ist von dem Schweden Alexander Ekman und setzt die Bühne unter 5000 Liter Wasser.
Dennoch hält die Company 65 Tänzer vor. Neunzehn stehen in „Láhppon/Lost“ auf der großen Opernbühne, von ihnen sind drei Gasttänzer, die Elle Sofe Sara mitgebracht hat. An ihrer Seite als Choreographin arbeitete außerdem mit Hlín Hjálmarsdóttir eine Isländerin und als Bühnen- und Kostümbildner der dänische Modedesigner Henrik Vibskov, der bereits Ekmans „Schwanensee“ ausgestattet hatte. Musikalisch sorgen Sara Marielle Gaup Beaska und Lávre Johan Eira für mehr samische Verstärkung. Sie singen Joiks, das sind die traditionellen, manchmal an indigene nordamerikanische Gesänge erinnernden Lieder der Ureinwohner, die häufig spontan und emotional auf Ereignisse reagieren. In „Láhppon/Lost“ beziehen sich Sara und Hjálmarsdóttir auf ein ganz bestimmtes historisches Ereignis, wenn auch abstrakt – und zwar auf den Kautokeino-Aufstand von 1852.

Der Ort wurde zum Schauplatz einer religiös begründeten Rebellion gegen die anti-samische christliche Strenge des Ortspfarrers und seiner befreundeten Geschäftemacher. Samen wurden nicht selten in Schnaps bezahlt und so schnell zu Süchtigen. Die sich im Gasthaus des Kolonialwarenhändlers betrinkenden Einheimischen machten Schulden, die brutal eingetrieben wurden: Männer tauchten bei den Familien auf und schlachteten deren Rentiere. Der Aufstand richtete sich gegen diese hinterhältige Praxis. Zwei der Aufständischen wurden am Meeresufer vom Henker enthauptet. Es gibt Theaterstücke und Romane über das Ereignis. Die Köpfe der getöteten Samen wurden nach Oslo zur Untersuchung durch Ärzte geschickt, die nach angeblichen ‚rassischen‘ Merkmalen suchen sollten. Erst in diesem Jahrtausend konnten die Samen ihre unerschrockenen Vorfahren bestatten. 2008 erzählte der großartige samische Spielfilm „The Kautokeino Rebellion“ davon.
Poetische Offenheit am Ende des Stücks
Elle Sofe Sara betont, sie habe das nicht nacherzählen wollen, denn obwohl der Stoff nicht in den Lehrplänen der Schulen steht, wisse jeder davon. Der Priester, der Wirt und ein dritter Mann sind aber an ihren unterschiedlich farbigen, langen, wattierten Mänteln und einem herrischen Gehabe auf der Bühne zu erkennen. Das Stück beginnt mit zwei Männern in Fellmänteln und schwarz-grün gemusterten Schals, die wie gestickte Bordüren wirken: Einer singt, der andere tanzt. Für die samischen Charaktere hat Vibskov außerdem wunderschöne weite Hosen erfunden, in denen sich blockweise Schwarz oder Weiß mit einem Blütenmuster abwechseln. Auch tritt ein Männerensemble in Reifröcken an. Frauen tanzen als ein Corps de ballet auch auf Spitze. Wie abstrakte, wolkig grau-weiß gemusterte Felle sind die eng anliegenden Oberteile und Shorts gemustert, in denen die Company als Gruppe tanzt. Ein wunderschönes Zusammenspiel aller, das sie als eine Rentierherde erscheinen lässt. Jeder passt auf jeden auf, nach außen gibt es einen Zusammenschluss, schnelle Flucht ist eine Option. Die Natur, der Lebensinhalt der Samen damals, wird in ihrer Bedeutung, ihrer Allumfassenheit wirklich fühlbar.
Vibskov zeigt, wie das Bühnenbild weitere Dimensionen schafft. Hinten links steht anfangs eine Spielfläche, die auf zwei Seiten mit hohen verrosteten Wänden aus Zaundraht umschlossen ist. Das ist die Kirche, das Gasthaus, das Gefängnis, Kautokeino. Wenn in einer Szene zuvor die Gruppe damit fertig ist, in einem langen Tanz mit rosa Peitschen den Boden zu traktieren, werden diese Peitschen im Drahtzaun aufgehängt. Nicht nur wurden Samen ausgepeitscht und gedemütigt, infolge einer Verinnerlichung nordisch-protestantischer Selbstüberwachung scheinen sie sich hier auch selbst zu geißeln. Der Rausch schüttelt sie, sie stoßen rhythmische Schreie aus, als wollten sie sich selbst vom Schnaps befreien. Dann toben sie wild über die Bühne. Die historische und zugleich reale Seite der Geschichte veranschaulichen Leinwände vorne an der Bühne, auf denen Schwarz-weiß-Filme einzelne Gesichter von Ensemblemitgliedern in Großaufnahme zeigen, als verkörperten die Darsteller sich selbst und zugleich auch die Protagonisten des Aufstands.
Lange Duette kennt das Stück auch, in denen die Choreographinnen zeigen zu wollen scheinen, wie Unfreiheit und Sucht das Miteinander bis in die Intimität belasten können. Nicht alles gelingt dem Tanz so mühelos und eindrücklich. Bevor das Video mit der kreisenden Rentierherde an die Schönheit dessen erinnert, was wir im Begriff sind zu verlieren, steht eine etwas zu lange adagio-hafte Tanzszene. Die rosa fluffigen Objekte, die vom Bühnenhimmel hängen, sind ebenso rätselhafte Gegenstände wie die aus blauen Röhren bestehenden hausdachähnlichen Konstruktionen, die wie umgekehrte Heuraufen aussehen. Aber dieses Verebben des Stücks am Ende, seine Unentschiedenheit oder poetische Offenheit hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Zukunft der Samen ungewiss ist und ihre Aufgabe in den Gesellschaften Finnlands, Schwedens oder Norwegens erst deutlicher herausgearbeitet werden müsste. Samen wird es noch heute schwer gemacht, eine Existenz als Rentierzüchter aufzubauen und die Selbstmordraten junger Samen liegen über denen anderer Skandinavier.
Source: faz.net