Nordirland | Nostalgie, Rap und Verklärung: Hat Nordirland den Unruhen wirklich den Rücken gekehrt?

Anfang vorletzter Woche strömten Hunderte junger Leute in das Telegraph Building, einen Konzertsaal im Zentrum von Belfast, um das beliebte Arbeiterklasse-Hip-Hop-Trio Kneecap (Kniescheibe) zu sehen. Die Band rappt über Rebellion und Trotz, verwendet Bilder von Molotow-Cocktails und einem brennenden Landrover der Polizei. Einer des Trios trägt eine grün-weiß-orangefarbene Sturmhaube.

Der Song Get Your Brits Out wurde auf Spotify mehr als 2 Millionen Mal angeklickt. Er beginnt mit „Guess who’s back on the news/It’s your favourite republican hoods“ (deutsch: „Ratet mal, wer wieder in den Nachrichten ist / Es sind eure Lieblings-Republikaner“. Republikaner befürworten eine Abspaltung Nordirlands vom Vereinigten Königreich. Anm. d. Red.)

Der Auftritt könnte als eine Bestätigung des Karfreitagsabkommens angesehen werden. Während der Unruhen schossen Paramilitärs angeblichen Straftätern ins Knie. Jetzt, 25 Jahre später, haben sich Rapper ein Wort zurückerobert, das einst Furcht einflößte. Was war das, wenn nicht eine Friedensdividende?

Joe Biden und Rishi Sunak werden diese Woche Belfast besuchen, um den Jahrestag des Abkommens zu begehen, das die Unruhen weitgehend beendete. Bill und Hillary Clinton und andere Würdenträger werden folgen, alle mit ähnlichen Botschaften: Nordirland beendete 1998 einen Kreislauf des Gemetzels und strotzt nun vor wirtschaftlichem Potenzial. Vorwürfe an die Democratic Unionist Party, die Machtteilung in Stormont zu lähmen, mögen die Verhandlungen, aber nicht die Feierstimmung darüber trüben, dass Nordirland das Kapitel der Unruhen abgeschlossen hat.

Neue Popularität paramilitärischer Ikonografie

Aber hat es das? Paramilitärische Gruppen treiben in Nordirland immer noch ihr Unwesen – sie handeln mit Drogen, betreiben Erpressung, rekrutieren Jugendliche, verüben sogenannte Bestrafungsanschläge und greifen gelegentlich die Polizei an. Und Kneecap wie auch andere Künstler haben die paramilitärische Ikonografie aktualisiert und populär gemacht. Ob es sich dabei um Satire oder eine heimtückische Provokation handelt, hängt, wie so vieles in Nordirland, davon ab, wen man fragt.

„Niemand wird Kneecap vorschreiben, was wir sagen dürfen und was nicht. Davon haben wir auf dieser Insel schon lange genug, ob es jetzt die Briten, die Kirche oder die Medien waren“, sagte das Trio, DJ Próvai, Móglaí Bap und Mo Chara, per E-Mail. „Wenn wir, die wir aus West Belfast und Creggan kommen, das nicht satirisch aufarbeiten können, wer kann es dann? Die Kunst hat die Aufgabe, einen Blick auf die Gesellschaft zu werfen und ihre eigene Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte kann positiv, negativ, respektlos und alles dazwischen sein.“

Der Auftritt von letzter Woche war nicht ganz echt. Die Band spielte sich selbst für einen irischsprachigen Spielfilm, wobei die Fans als Statisten fungierten, aber der Auftritt unterstrich eine unbequeme Wahrheit. Die Unruhen sind vorbei, aber es herrscht keine Einigkeit darüber, wer sie begonnen hat, wer sie gewonnen hat und was sie bedeutet haben. In der Kunst, in der Politik und in den sozialen Medien wird ein Kampf um die Erinnerung ausgetragen. Statt mit Bomben und Kugeln wird er mit Worten, Bildern und Memes ausgetragen. Und der Sieger darf die Gegenwart gestalten.

„Es gibt Nostalgie für die Unruhen“, sagte Rosemary Jenkinson, eine Dichterin und Autorin von Kurzgeschichten aus Ost-Belfast. „All diese protokollarischen Dinge – die Dokumente. Die Gegenwart ist trocken, während die Vergangenheit Fleisch war. Es gab Humor und Gefahr, und das hat Auswirkungen“.

Sinn Féin, die republikanische Partei Nordirlands

Es besteht keine Lust auf ein erneutes Blutvergießen, und der Druck auf die DUP, den Windsor-Rahmen zu akzeptieren – Sunaks überarbeitete Version des Nordirland-Protokolls für die Zeit nach dem Brexit – verblasst im Vergleich zur Vergangenheit, so Jenkinson, deren neue Kurzgeschichtensammlung den Titel Love in the Time of Chaos (deutsch: Liebe in Zeiten von Chaos) trägt.

So wie die Menschen in Großbritannien in den Geschichten des Zweiten Weltkriegs schwelgen, sind viele in Nordirland noch immer von den Unruhen fasziniert, sagte sie. „Diese ganze Revolvermann-Sache ist eher Kult als Kultur. Es wurde romantisiert, weil wir uns unserer Identität nicht mehr sicher sind. Wir wissen nicht, ob es eine Abstimmung zur irischen Einheit geben wird. Das ist zum Teil der Grund, warum die Leute verklärt auf die Vergangenheit blicken.“

Sinn Féin wandelt auf einem schmalen Grat durch die jüngste Geschichte. Einst ein Sprachrohr der IRA, ist sie heute die größte Partei Nordirlands und scheint auf dem besten Weg zur Macht in der Republik. Sie unterstützt das Karfreitagsabkommen lauthals und verurteilt gewalttätige republikanische Dissidentengruppen, die seit 1998 sporadische Angriffe verüben.

Die Partei verteidigt jedoch die Kampagne der Provisional IRA von 1969 bis 1998 – es habe „keine Alternative“ gegeben, sagt Michelle O’Neill, die mutmaßliche erste Ministerin der Partei. Sie ehrt die IRA-Mörder als Helden, während sie die New IRA, die im Februar einen Polizisten erschoss und verwundete, als Schläger bezeichnet.

Vom Pranger zur Heiligsprechung

Republikanische Dissidenten ziehen Trost aus einem Muster der Heiligsprechung nach Konflikten. Die Iren haben die Aufständischen von Ostern 1916 zunächst an den Pranger gestellt, nur um sie später zu Gründungsvätern zu erheben. Präsident Michael D. Higgins, eine Blaskapelle der Armee und – sofern das Wetter es zulässt – ein Vorbeiflug der Luftwaffe werden am Montag bei einer Zeremonie in Dublin dem Aufstand ihre Ehre erweisen.

„Man wird von einem Haufen Terroristen im Jahr 1916 zur guten alten IRA, und in gewissem Maße passiert das jetzt wieder“, sagte Richard O’Rawe, ein ehemaliger IRA-Gefangener, der zum Schriftsteller wurde. „Die Iren sind ein sehr romantisches Volk, was ihre Geschichte angeht. Es ist fast so, als gäbe es dieses brennende Verlangen, die Dinge in einem möglichst positiven Licht zu sehen.“

O’Rawe hat in seinen Romanen Northern Heist und Goering’s Gold Ructions O’Hare, einen fiktiven IRA-Mann, zum Bankräuber gemacht. Der Autor entschuldigt sich nicht dafür, dass er seinen Antihelden, der eine Mischung aus verschiedenen Republikanern ist, mit Charisma ausstattet. „Die Bewegung war nicht voll von Typen mit großen, langen Gesichtern, die herumliefen und sagten, das Leid bin ich. Es gab großartige und lustige Charaktere.“

Die Zeit glättet Sinn Féins Version der Unruhen, so O’Rawe, der der Partei vorwirft, ihr strategisches Kalkül während der Hungerstreiks 1981 zu beschönigen. „Viele der Leute, die während der Unruhen dabei waren und sich an die grausamen Fakten erinnern würden, sind tot. Die Leute neigen dazu, die schmutzigen Dinge, die schlimmen Operationen – Bloody Friday, Enniskillen, La Mon – fast in den Müll zu werfen. Das ist eine ziemlich lange Liste. Jeder hat grausame Aktionen begangen, nicht zuletzt die Briten – Bloody Sunday, Ballymurphy – und die Loyalisten (Loyalisten unterstützen einen Fortbestand Nordirlands als Teil der britischen Monarchie. Anm. d. Red.) – McGurk’s, Rising Sun, die Sean Graham Buchmacher. Zu viele, um sie aufzuzählen.“

Kritiker der Sinn Féin sagen, dass ihre Verteidigung der Mitglieder der IRA und das Fehlen einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild in Nordirland dazu beigetragen haben, dass Dissidenten einen Mantel des Republikanismus der physischen Gewalt für sich beanspruchen.

Die Terrorismusgefahr ist nicht gebannt

Die Polizei teilte mit, sie habe „starke“ Informationen erhalten, wonach Dissidenten an diesem Osterwochenende Angriffe auf Beamte planten, und warnte vor möglicher Straßengewalt in Derry, zu der es dann tatsächlich kam. Letzten Monat hat der MI5 die Terrorismusbedrohung von „erheblich“ auf „schwer“ erhöht.

Máiría Cahill, eine Kommentatorin, die sich zu sexuellem Missbrauch durch ein IRA-Mitglied geäußert hat, sagte, die republikanische Behauptung, „der Krieg kam zu uns“, lenke von der eigenen Verantwortung ab. „Es ist so, als ob alle anderen schuld sind, außer uns, und wir uns nur wehren.“

Das Narrativ der Sinn Féin hat sich unter jungen Menschen in der Republik verbreitet. In einer Umfrage der Sunday Times gaben Menschen unter 35 Jahren an, dass sie die meisten Morde eher der britischen Armee als der IRA zuschreiben. Tatsächlich war die IRA für etwa die Hälfte der 3.700 Todesopfer verantwortlich und die britische Armee direkt für etwa acht Prozent.

Als der Guardian letztes Jahr zwölf zufällig ausgewählte Studierende des Trinity College Dublin bat, die Gesamtzahl der Todesopfer zu schätzen, reichten die Schätzungen von 50 bis 20.000. Nur ein Student schätzte die Zahl korrekt auf 3.000 bis 4.000.

In der Umfrage der Sunday Times wussten weniger als 26 Prozent der jungen Menschen von den Bombenanschlägen in Brighton, Enniskillen und Warrington. Sie erkannten eher die Sinn Féin-Politiker Gerry Adams und Martin McGuinness für ihre friedensstiftende Rolle als John Hume und David Trimble, die sich den Friedensnobelpreis teilten. Auf beiden Seiten der Grenze wurden Forderungen laut, den Unterricht über die Unruhen in den Schulen zu verbessern.

Republikaner haben Humor, Loyalisten bedrohlichen Pomp

Der Aufstieg der Sinn Féin zu einer jugendfreundlichen, TikTok-affinen Partei ging Hand in Hand mit der Neuerfindung von Adams. In den letzten Jahren hat der ehemalige Parteivorsitzende Kommentare und Tweets über Gummienten, Teddybären, Welpen und nacktes Trampolinspringen mit seinem Hund veröffentlicht. Eine gebundene Sammlung seiner Tweets zeigt ein Selfie mit einer Ziege. Er hat mehr als 300.000 Follower auf Twitter, Instagram und Facebook.

Adams‘ Rezeptsammlung „The Negotiators Cook Book“, die republikanische Gesandte unterstützte, enthält Wortspiele über „den peas process“, „die bratende Kolonne“ – in Referenz auf die fliegenden Kolonnen der IRA – und „long quiche“, eine Anspielung auf das ehemalige Gefängnis Long Kesh. Zu den Sinn Féin-Werbeartikeln gehören jetzt auch Scherzartikel wie ein Becher mit der Aufschrift Tiocfaidh ár Latte, ein Wortspiel mit dem republikanischen Sprichwort „tiocfaidh ár la“ (unser Tag wird kommen).

Die Rhetorik und die Waren der Loyalisten sind dagegen selten spielerisch. Die Ikonographie reicht von feierlich bis bedrohlich. „Es ist eine ernste Angelegenheit. Sich King Billy mit Humor zu nähern, würde nicht funktionieren“, sagt Brian Anderson, ein methodistischer Pfarrer der East Belfast Mission.

Angesichts der Frage nach der Zukunft Nordirlands im Vereinigten Königreich sei den Loyalisten nicht nach Scherzen zumute, sagte Jenkinson. „Wenn man alles zu gewinnen und nichts zu verlieren hat, kann man mit den Dingen spielen. Wenn man alles zu verlieren hat, wird man sich weniger über sich selbst lustig machen.“

Frieden in den Straßen, aber nicht in der irischen Seele

Die britische Regierung versucht, ihre eigene Geschichte umzuschreiben, und zwar in Form eines Gesetzes, das ehemalige britische Soldaten – und andere Kombattanten – vor Strafverfolgung schützen soll. Die Gesetzgebung hat Opfergruppen aufgebracht.

Damit ist das Feld frei für Künstler wie Kneecap, um paramilitärische Tropen neu zu verwenden – zum Entsetzen einiger Politiker, die befürchten, dass die vorgebliche Satire eine neue Generation für die Paramilitärs empfänglicher macht. Das Trio wies dies zurück. „Wir finden es lustig, dass ein Kunstwerk bei Politikern mehr Reaktionen hervorrufen kann als das wirkliche Leben“, sagten sie per E-Mail.

Das Karfreitagsabkommen habe zwar Frieden auf den Straßen gebracht, aber nicht den Seelenfrieden einer Gesellschaft, die nach wie vor ausgegrenzt und benachteiligt sei, sagten sie. „Wir sind dankbar, dass wir nicht das erleben müssen, was unsere Eltern und Großeltern durchgemacht haben, aber wir müssen erkennen, dass dieser ,Staat‘ viele Menschen auf allen Seiten der Trennlinie im Stich lässt.“

Das wird die Kritiker der Band, die sie als Provokateure bezeichnen, wohl kaum besänftigen. Eine ähnliche Kontroverse gab es mit der Folkgruppe The Wolfe Tones wegen ihres Songs Celtic Symphony. Die irische Frauenfußballmannschaft wurde dabei gefilmt, wie sie „ooh, ah, up the ,Ra‘“ – Worte aus dem Refrain des Liedes – sang, um die Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft zu feiern. Die Aufnahmen verbreiteten sich im Internet und lösten eine hitzige Debatte darüber aus, ob es sich dabei um eine Verherrlichung der IRA oder um reine Ausgelassenheit handelte. Die Kontroverse katapultierte das Lied an die Spitze der irischen iTunes-Charts.

Junge Leute singen den Refrain seit Jahren auf Festivals in West-Belfast, sagte Cahill, die eine Großnichte einer legendären IRA-Figur ist. „Die Tatsache, dass 10.000 junge Menschen begeistert über diese IRA-Männer und -Frauen aus der Vergangenheit singen, ist ein trauriges Zeichen dafür, wie wenig wir uns weiterentwickelt haben.“