News des Tages: »Letzte Generation«, Patriotismus, Strom und Gas

1. Mit Atomkanonen auf Spatzen

Die bayerische Justiz hat heute am frühen Morgen in sieben Bundesländern Wohnungen von Mitgliedern der »Letzten Generation« durchsuchen und Konten beschlagnahmen lassen. Der Tatvorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Wie mein Kollege Jan Friedmann aus unserem Münchner Büro berichtet , legen die Ermittler den sieben Beschuldigten im Alter von 22 bis 38 Jahren zur Last, über eine Spendenkampagne insgesamt 1,4 Millionen Euro eingetrieben zu haben, die die »Letzte Generation« überwiegend zum Begehen von Straftaten verwendet haben soll. Zwei Beschuldigte sollen außerdem versucht haben, die Ölpipeline zwischen Triest und Ingolstadt zu sabotieren, also einen Teil der kritischen Infrastruktur.

Bislang hatte ich wenig Sympathie für Umweltschutz per Heißklebepistole und apokalyptische Angstrhetorik. »Völlig bekloppt«, nannte Olaf Scholz die Aktionen der Klimaaktivisten zu Beginn der Woche in einem Gespräch mit Schülern. Die Gelassenheit des Kanzlers wirkt zwar auch leicht herablassend. Seine Herangehensweise, sein offenbar lockerer Umgang mit der »Letzten Generation« scheint mir aber richtig zu sein.

Die heutige Razzia hingegen kommt mir übertrieben vor. Unser Kolumnist Sascha Lobo spricht ebenfalls von einer »Unverhältnismäßigkeit, mit Atomkanonen auf Spatzen zu schießen«. Ihn stört unter anderem, dass die Website der »Letzten Generation« im Zuge der Ermittlungen abgeschaltet wurde. Das lese sich für manche vielleicht auf den ersten Blick harmlos. »Faktisch aber ist es ein absichtsvoller Stich ins Herz der Demokratie, nämlich die offene Debatte.«

Es komme »sehr, sehr selten vor, dass bei solcher Art Ermittlungen eine Website abgeschaltet wird, bisher wird diese Maßnahme eigentlich nur angewendet, wenn die Website das Herzstück der Illegalität bildet, etwa bei illegalen Tauschbörsen oder Online-Drogenhandel«, schreibt Lobo. »Die falsche Radikalität dieser Maßnahme gegen die ›Letzte Generation‹ wird besonders im Kontrast deutlich: Bei Razzien gegen Islamisten dagegen findet eine Website-Abschaltung nicht regelmäßig statt. Ebenso wenig bei ›Reichsbürgern‹ oder QAnon-Anhängern. Obwohl diese Gruppierungen inzwischen mehrere Ermordete verantworten, sind sogar noch Seiten online, auf denen man seine ›Reichsdokumente‹ beantragen kann.«

Es ist wichtig, auf diese offensichtliche Unverhältnismäßigkeit hinzuweisen.

2. Bundesprogramm für Patriotismus

Ja, wir leben in Zeiten zunehmender »Polarisierung und Fragmentierung« der Gesellschaft. Es ist eine Binsenweisheit, die sich auch in einem Antrag findet, den die Unionsfraktion heute in den Bundestag eingebracht hat.

Patriotismus, so heißt es darin weiter, könne »starke Integrations- und Identifikationspotentiale zum Wohle von Staat und Gesellschaft entfalten«, berichtet mein Kollege Marc Röhling aus unserem Hauptstadtbüro. Diese Potenziale sollten »auf keinen Fall den gesellschaftlichen Rändern überlassen werden«, sondern müssten »durch eine zielgerichtete Förderung durch die Staatsorgane auf eine neue Stufe gehoben werden«.

Das Ziel des Antrags: Die Bundesregierung möge ein »Bundesprogramm Patriotismus« entwickeln. CDU und CSU drängen darauf, »die ganzjährige Sichtbarkeit nationaler Symbole – insbesondere der Bundesflagge – im öffentlichen Raum« weiter zu erhöhen. Auch müsse dafür gesorgt werden, »dass die Nationalhymne häufiger bei öffentlichen Anlässen gesungen und weiter als fester Bestandteil des deutschen Liedguts gepflegt wird«. Der Antrag fordert unter anderem auch Maßnahmen, damit der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober »von deutlich mehr Bürgern als ein verbindender nationaler Erlebnismoment und nicht schlicht nur als ›freier Tag‹ erlebt wird«.

Ich muss gestehen, dass ich das Anliegen in Teilen nachvollziehen kann. 2019 habe ich zwei Monate in den USA gelebt und gearbeitet. Unser damals vierjähriger Sohn besuchte einen amerikanischen Kindergarten, in dem die Kleinen jeden Morgen zum Fahnenappell neben die amerikanische Flagge am Kindergarteneingang gerufen wurden. Für uns Eltern aus München war das zunächst sehr gewöhnungsbedürftig. Unserem Sohn gefiel das Ritual. Vermutlich kennt er die amerikanische Nationalhymne besser als die deutsche. Und das ist doch irgendwie auch seltsam.

3. Krisenabfederung für alle!

Wer dieser Tage den Energieanbieter wechselt, kann richtig Geld sparen. Denn der Gaspreis zum Beispiel ist auf dem Großhandelsmarkt, wo Versorger die Energie beschaffen, gerade so niedrig wie seit zwei Jahren nicht mehr. Dem milden Winter, den gut gefüllten Gasspeichern und den vielen Einsparungen sei Dank. »Viele Kunden aber spüren davon nichts«, schreibt Benedikt Müller-Arnold aus unserem Wirtschaftsressort . Der durchschnittliche Tarif der örtlichen Grundversorger für Gas liegt bei 15 Cent je Kilowattstunde. Das sei »mehr als doppelt so viel wie vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine«.

Benedikt fragt daher : »Muss man es einfach hinnehmen, dass niedrigere Großhandelspreise immer erst mit Verspätung bei der Kundschaft ankommen, wenn überhaupt? Ist das der Preis, den Deutschland nun zahlen muss für die jahrelange Abhängigkeit von russischem Gas und den zögerlichen Ausbau erneuerbarer Energien?«

Seine Antwort lautet: »Nein, zumindest nicht in diesen Dimensionen.« Vielmehr sollten die Menschen die Entspannung auf dem Großhandelsmarkt und den Wettbewerb der Anbieter jetzt möglichst für sich nutzen. Sie sollten prüfen, ob sie aus der örtlichen Grundversorgung oder – sobald es die Laufzeit erlaubt – aus teuren Verträgen herauskommen und in günstigere Tarife wechseln können. Das helfe nicht nur der eigenen Haushaltskasse, sondern auch dem Staat und damit allen Steuerzahlern.

Denn: »Die meisten Tarife in neuen Verträgen liegen außerhalb der Grundversorgung und damit mittlerweile unter den staatlichen Preisbremsen. Wenn Kunden solche Verträge abschließen, muss der Staat sie also nicht mehr schuldenfinanziert subventionieren«, schreibt Benedikt: »Je mehr Menschen das machen, desto weniger muss der Bund von den veranschlagten 200 Milliarden Euro ausgeben – und desto günstiger wird die Krisenabfederung für uns alle.«

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Offenbar neuer Drohnenangriff in Belgorod, Moskau meldet Zwischenfall mit US-Bombern: In der Grenzregion Belgorod soll es erneut eine Attacke gegeben haben. Im Baltikum ist ein russischer Jet wegen zwei US-Bombern aufgestiegen. Und: Selenskyj will Marine aufstocken.

  • »Von Bachmut ist nichts mehr übrig«: Die ostukrainische Stadt Bachmut ist unter russischer Kontrolle. Der britische Militärexperte Ed Arnold sagt allerdings: Inzwischen sei die Stadt nur noch ein »unbedeutender Punkt auf der Karte«. Sehen Sie hier das Video.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update



Was heute sonst noch wichtig ist

  • Koalition plant Bestandsaufnahme aller Heizungen: Strom, Gas, Fernwärme – welche Voraussetzungen brauchen all die neuen Heizungen? Geht es nach Wirtschaftsminister Habeck und Bauministerin Geywitz, sollen bald umfassende Daten bei der Planung der Wärmewende gesammelt werden.

  • Wagner-Chef fürchtet russische Niederlage im Ukrainekrieg: Bachmut ist in russischer Hand, doch die Truppen von Jewgenij Prigoschin sind aufgerieben. Nun teilt der Wagner-Chef erneut gegen den Kreml aus – und rät Putin zur Umstellung auf Kriegswirtschaft.

  • Trübe wirtschaftliche Aussichten für dieses Jahr: Im Frühling dürfte sich die Konjunktur ein wenig erholen, so die Prognose der Bundesbank. Doch das war’s dann auch schon: Die Stimmung bei den Unternehmen ist schlecht.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Das sind die 101 FDP-Fragen ans Wirtschaftsministerium: Bevor man das Gebäudeenergiegesetz voranbringen könne, brauche man noch Antworten auf mehr als hundert Fragen, hieß es jüngst von der FDP. Hier ist der Fragenkatalog. 

  • Jäger des verlorenen Schatzes: Ein Niederländer narrte einen versierten Kunstdetektiv und die Chefin des Grünen Gewölbes. Für 40.000 Euro wollte er den gestohlenen Sachsenschatz zurückbringen. Er nahm das Geld und verschwand. Wegen Betrugs steht er nun vor Gericht .

  • So lange arbeiten Sie im Vergleich: Viele Deutsche könnten mehr Wochenstunden arbeiten – darauf hoffen Unternehmen wegen der alternden Bevölkerung. Kommen Sie aktuell auf mehr oder weniger Stunden als andere? Unsere interaktive Grafik zeigt es. 

  • König im Fitnessstudio, aber auf der Waage tut sich nichts: Sie strampeln ohne Ende bei McFit auf dem Rad, doch die Hüftpolster bleiben? Eine Diät hat schnelle Erfolge, doch dann kommt der Jo-Jo-Effekt? Hier lesen Sie, woran das liegt – und was das mit den Neandertalern zu tun hat .


Was heute weniger wichtig ist

Elbsucht: Komiker Thomas Hermanns, 60, kann verstehen, dass Menschen von Berlin nach Hamburg ziehen, auch wenn er den umgekehrten Weg gegangen ist. Momentan lebt der Moderator des »Quatsch Comedy Club« in der Haupt-, von 1992 bis 2002 wohnte er in der Hansestadt. Der »Zeit« sagte er: »An einem ranzigen Januarabend in Berlin erscheint einem die freundliche Bürgerlichkeit in Hamburg schon sehr verlockend.«

Mini-Hohlspiegel


Schild in einem Lebensmittelmarkt in Bielefeld

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Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.

Cartoon des Tages


Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Thomas Plaßmann


Und heute Abend?

Die Deutsche Fußball Liga wollte über einen Investor frisches Kapital generieren. Doch nach dem Widerstand aus der Fanszene stimmten heute auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in Frankfurt am Main zahlreiche Vereine dagegen und kippen den Plan. Das Abstimmungsergebnis ist eine krachende Niederlage für die DFL-Führung um Aufsichtsratschef Hans-Joachim Watzke und die Interims-Geschäftsführer Axel Hellmann und Oliver Leki, die im Vorfeld für eine breite Zustimmung geworben hatten.

Mich erinnert der heutige Vorgang an eine Episode aus der großartigen Fußball-Serie »Ted Lasso«, die letzten Mittwoch ausgestrahlt wurde. Darin sitzt die englische Klub-Managerin Rebecca Walton (umwerfend gestylt und gespielt von Hannah Waddingham) als einzige Frau am Tisch mit lauter steinreichen Klub-Bossen, die vorhaben, mit der Gründung einer Art Superliga noch reicher zu werden. Walton erinnert sie in einer emotionalen Rede daran, dass die wahren Besitzer aller Rechte am Fußball die Fans auf den Hartschalensitzen der Tribüne sind. Oder zumindest sein sollten. (Hier können Sie das Serien-Highlight nachschauen .)

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Schön, wenn die Realität plötzlich Ähnlichkeit mit dem Drehbuch aus einer TV-Traumfabrik hat. Heute erscheint eine neue Folge »Ted Lasso«  auf Apple TV+.

Einen schönen Abend. Herzlich

Ihre Anna Clauß, Leiterin Meinung und Debatte