Neuer Enteigungsvolksentscheid in Berlin: „Wir zeugen die verweigerte Arbeit nun selbst“
„Enteignung ist machbar“ – so schien es nach dem fulminanten Start der Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) und ihrem deutlichen Erfolg beim Volksentscheid im September 2021. Erstmals seit 1946 gab es in Deutschland eine Mehrheit für die Vergesellschaftung einer ganzen Branche. Doch trotz der Abstimmung passierte: nichts. Der Senat ignorierte das Votum und zeitweise wirkte es, als sei die Luft raus. Vier Jahre nach dem Referendum startet Berlins Mietenbewegung nun erneut durch und kündigt einen zweiten Volksentscheid an. Diesmal mit einem fertigen Gesetz, das zur Abstimmung gestellt werden soll. Der Freitag sprach darüber mit dem Historiker und Mietenaktivisten Ralf Hoffrogge, der die Vergesellschaftungs-Initiative mit angestoßen hat. Jüngst legte Hoffrogge zudem mit dem Buch „Das laute Berlin“ ein Resümee der Berliner Mietenbewegung vor. Darin erklärt er, warum diese neben Hochs auch immer wieder Flauten durchlebt.
2021 stimmte eine klare Mehrheit der Berliner*innen für die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Vier Jahre später hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ nun ihren eigenen Gesetzesentwurf vorgestellt. Warum ist das überhaupt notwendig?
Die Mehrheit der Berliner*innen hat unseren Volksentscheid angenommen. Und wenn der Mehrheitswille demokratisch festgestellt ist, muss die Volksvertretung auch danach handeln – so dachten wir zumindest. Weder das Abgeordnetenhaus noch der Senat haben in den vergangenen Jahren dann aber wirkliche Schritte in Richtung Vergesellschaftungsgesetz unternommen. Wir machen die verweigerte Arbeit nun selbst.
Wie wurde die Arbeit konkret verweigert?
Der Kompromiss des damaligen rot-rot-grünen Senats war, dass man eine Expertenkommission einsetzt, die den Volksentscheid nochmal prüft. Er hätte stattdessen ein Gesetzgebungsverfahren einleiten müssen – tat er aber nicht. Die Kommission hatte dann letztlich eine Art vorgezogene Verfassungsprüfung vorgenommen. Immerhin mit bestmöglichem Ausgang: Die hochkarätig besetzte Runde bestätigte 2023 Vergesellschaftung als grundsätzlich verfassungskonform – und sprach auch dem Land Berlin dafür die Kompetenz zu. Daran war zuvor der Berliner Mietendeckel gescheitert.
Während die juristische Grundlage stand, verschob sich mit der neuen Berliner Regierung das politische Kräfteverhältnis.
Franziska Giffey hatte 2023 die Wahl: Volksentscheid umsetzen oder ihren Posten für die CDU räumen. Sie hat sich für Letzteres entschieden. Der neue schwarz-rote Senat hat dann eine Kampfansage an DWE gemacht und bekräftigt, dass er den Volkswillen nicht umsetzen will. Es wurde lediglich an einem „Rahmengesetz“ gearbeitet, das nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver ist.
Wir wollten diese Regierung mit ihrem Zynismus nicht davonkommen lassen
Uns wurde klar, dass wir das Gesetz selber schreiben und neu abstimmen lassen müssen. Wir wollten diese Regierung mit ihrem Zynismus nicht davonkommen lassen.
Die letzten Monate haben nun DWE-Expert*innen und eine beauftragte Kanzlei den Gesetzesentwurf erarbeitet. Was waren Herausforderungen – bei der Anwendung des Grundgesetz-Artikel 15 handelt es sich schließlich um ein Novum?
Die Herausforderung ist ein wasserdichtes Gesetz zu einem Grundgesetz-Artikel, der noch nie angewandt wurde. Ein paar Aspekte unseres Volksentscheids haben wir nach tieferer Auseinandersetzung auch geändert. Früher wollten wir beispielsweise alle Konzerne mit mehr als 3000 Wohnungen vergesellschaften. Nach Beratung belassen wir nun den Unternehmen je 3000 Wohnungen zum „Selbstbehalt“. Das mindert die Zahl der vergesellschafteten Wohnungen – diese würde trotzdem noch bei rund 220.000 liegen. Unsere Jurist*innen haben insgesamt sehr viel Detail- und Übersetzungsarbeit geleistet.
Auch bezüglich der Entschädigungszahlungen ist die Initiative klarer geworden. DWE geht davon aus, dass diese 40 bis 60 Prozent des Marktwerts der Immobilien betragen, also etwa zwischen 8 und 18 Milliarden Euro. Wäre das nicht eine enorme Belastung für den Berliner Haushalt?
Ich sehe die Belastung nicht – das Gesetz ist haushaltsneutral. Die Konzerne bekommen bei der Vergesellschaftung Schuldverschreibungen. Das sind Wertpapiere, die die Abzahlung der Entschädigungen im Laufe der nächsten 100 Jahre regeln. Das Geld kommt aus den laufenden Mieteinnahmen, die dann aber zumindest sozial sind. Berlin hat somit keine Dauerbelastung. Durch die Vergesellschaftung wird die Stadt reicher.
Ein alter Kritikpunkt, der auch jetzt wieder zu hören ist, lautet: Die Initiative schaffe keinen neuen Wohnraum …
Da könnte man sich genauso gut beschweren, dass eine Fliegenklatsche keine Mäuse fängt. Vergesellschaftung sichert leistbare Mieten für zweihunderttausend Haushalte, und zwar über Generationen. Wer alle Berliner Mieten sichern will, braucht einen Mietendeckel oder eine vergleichbare Marktregulierung. Wer neuen Wohnraum schaffen will, muss neu bauen – aber in öffentlichem Eigentum, denn teure Luxuslofts nützen uns gar nichts. Der Markt wird das Problem nicht lösen – wir brauchen Gemeineigentum.
Wann wird dafür die Unterschriftensammlung für den Gesetzesvolksentscheid beginnen?
Aktuell haben wir nur den Entwurf für ein Vergesellschaftungsgesetz. Ein zweiter Teil wird noch ausgearbeitet. Dort geht es darum, wo die vergesellschafteten Wohnungen hinkommen: in eine Anstalt Öffentlichen Rechts, die demokratisch organisiert und auf Gemeinwohl ausgerichtet ist. Wenn dieser zweite Teil fertig ist und wir Feedback gesammelt haben, können wir über die formale Anmeldung des Volksentscheids sprechen. Danach gibt es wieder zwei Sammelphasen für Unterschriften und eben die Abstimmung. Bei alldem wollen wir gründlich vorgehen.
Im nächsten Jahr wird in Berlin auch das Abgeordnetenhaus neu gewählt – die Sammlung der Unterschriften könnte sich mit dem Wahlkampf überschneiden. Welche Rolle wird darin die Kampagne spielen?
Wir haben jetzt schon den Punkt erreicht, wo die Mietenfrage und das Schicksal des DWE-Volksentscheids die Agenda bestimmen. Linke und Gründe wetteifern mit eigenen Vorhaben: die Linke mit dem Sicher-Wohnen-Gesetz, die Grünen mit dem Bezahlbare-Mieten-Gesetz. Und das alles ein Jahr vor der Wahl. Es wird ein Mieten- und Vergesellschaftungswahlkampf. Die Parteien müssen sich zu DWE positionieren. Wir werden sie nicht vom Haken lassen.
Der Gesetzesvolksentscheid wäre theoretisch nach Annahme gültig. Macht es für DWE trotzdem einen Unterschied, wer regieren wird?
Ein neuer Senat könnte nach der ersten Sammelphase unser Gesetz übernehmen und selbst verabschieden – so etwas deutet sich gerade beim Baum-Volksentscheid an. Das würde die zweite Sammelphase, die Abstimmung und damit unglaublich viel Zeit und Geld sparen. Und es wäre auch eine Versöhnung nach dem bisherigen Auseinanderfallen von parlamentarischer Demokratie und Volkswille.
Wenn unser Gesetz angenommen wird, befinden sich die Wohnungen am nächsten Tag im Gemeineigentum
Ansonsten gilt: Wir sind eine außerparlamentarische Bewegung und nehmen die Politik in die Pflicht. Sollte der Senat sich weiter weigern, stimmt die Bevölkerung ab. Und wenn unser Gesetz angenommen wird, befinden sich die Wohnungen am nächsten Tag im Gemeineigentum – selbst, wenn die AfD regieren würde.
Am Ende geht es um die Frage, ob demokratische Mehrheiten in dieser Stadt noch zählen. Was würde passieren, wenn etwa eine SPD-CDU-Regierung eine Umsetzung verweigert und die Behörden anweist, nicht tätig zu werden?
Das wäre eindeutig illegal und das Ende des Rechtsstaats. Unser Gesetz enthält sogar Strafbestimmungen, um solche Sabotage zu ahnden. Das Gesetz gilt also – nicht der Senat, einzig das Abgeordnetenhaus könnte den gesetzlichen Rahmen ändern. Beim Volksentscheid zum Erhalt des Tempelhofer Felds von 2014 wird ja immer wieder darüber geredet, ein Volksgesetz nachträglich rückabzuwickeln. Aber auch das wurde sich lange nicht getraut.
Dieser Umgang mit dem Wählerwillen und der daraus entstehende Zynismus können auch ein Problem sein. Wird es schwierig, den Kampfgeist der Berliner*innen erneut zu wecken, wenn man eigentlich schonmal für das Vorhaben abgestimmt hatte?
Es wird kein Selbstläufer und für uns alle eine Kraftanstrengung. Ich bin aus einem traurigen Grund aber optimistisch. Der Berliner Senat hat seit dem gekippten Mietendeckel nichts geleistet für günstigere Mieten in der Stadt. Die Berliner*innen wissen das – und sie wissen auch, dass sie um ihren Volksentscheid betrogen wurden. Daher denke ich, dass DWE wieder Zustimmung findet.
Zugleich braucht es Aktive, die Unterschriften zu sammeln und wieder an die Haustüren gehen. Wie ist der Stand der Berliner Mietenbewegung?
In meinem Buch „Das laute Berlin“ beschreibe ich das als Wellenbewegung: Immer, wenn der Mietendruck zu groß wird, entstand eine Berlinweite Bewegung. Auf den beiden Höhepunkten standen dann auch Volksentscheide. 2015 der Mietenvolksentscheid und von 2018 bis 2021 „Deutsche Wohnen und Co“ enteignen. Dazwischen gab es Flauten – normal bei einer Bewegung von Ehrenamtlichen. Das letzte Tal war geprägt von Corona, der Nichtumsetzung des DWE-Volksentscheids sowie dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das das Vorkaufsrecht in Berlin einschränkte. Seit dem Winter 2023/2024 sehe ich wieder einen Anstieg der Aktivitäten. Mittlerweile gibt es etwa eine stadtweite Vernetzung von Vonovia-Mieter*innen.
Wie steht es um die DWE-Kiezteams selbst?
Die DWE-Kiezteams haben Corona überlebt und können wieder hochfahren – Sie haben Unterstützung durch eine bewegungseigene Denkfabrik, die gerade ein eigenes Gesetz ausgearbeitet hat. Solch langfristige und stadtweite Strukturen hat noch nie ein Volksentscheid aufgebaut, und auch nicht die Berliner Mieterbewegung, in der ich seit 2013 aktiv bin. Wir haben eine Flaute erlebt, aber DWE hat sich professionalisiert und extremes Beharrungsvermögen bewiesen.
Welche Bedeutung hat die Initiative für Berlin?
Dass es diese Forderung nach Vergesellschaftung gibt, ist nicht selbstverständlich. Die Berliner Mieterbewegung war lange sehr kleinteilig. Diese Kämpfe unter einen Hut zu bekommen, haben nicht Parteien oder Verbände geschafft, sondern Volksentscheide.
Anstatt nur Recht zu haben, will dieser neue Stil lieber Interessen durchsetzen
Dazu kommt ein neuer Politikstil: DWE hat in Berlin das Community-Organizing verbreitet. Als ich angefangen habe, linke Politik zu machen, ging es oft um Diskursverschiebungen – der Alltag der Menschen spielte kaum eine Rolle. Anstatt nur Recht zu haben, will dieser neue Stil lieber Interessen durchsetzen. Das sind tiefgreifende Veränderungen – Veränderungen, die auch ausstrahlen.
Es gibt mittlerweile andere Vergesellschaftungsprojekte, etwa „Hamburg Enteignet“, oder „RWE & Co. enteignen“. Unter welchen Bedingungen kann so etwas funktionieren?
Die Klimabewegung hat das Thema Vergesellschaftung sehr dankbar aufgenommen und viel diskutiert. Hier wurde jedoch bisher kein richtiger Hebel gefunden. Es reicht nicht, ein gutes Konzept zu haben – man braucht auch ein Druckmittel. In unseren Fall war das der Volksentscheid. Da haben wir als Stadtstaat aber auch Vorteile, da beispielsweise München alleine so etwas nicht machen könnte. Hier braucht es noch Überlegungen: Wie kann man demokratisches Gemeineigentum schaffen, ohne auf das Mittel des Volksentscheids zurückzugreifen?
Der Kampf um mehr Gemeineigentum wird auch vom Erfolg von DWE abhängen. Wie blicken Sie auf die nächsten Monate?
Ich bin neugierig und hoffnungsvoll. Zwischendurch hatte ich wirklich schlechte Laune – das Gesetz ließ auf sich warten, der Senat blockierte, viele waren frustriert. Aber jetzt sind wir wieder richtig da. Und das sendet ein spürbares Signal: Die Berliner*innen lassen sich ihren Volksentscheid nicht nehmen.