Neue EU-Kommission: Von jener Leyens 100-Tage-Programm

Am Ende einer fast ein halbes Jahr dauernden Diskussion über die 26 neuen Kommissare stand am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg eine klare Mehrheit: 370 Abgeordnete stimmten für die neue EU-Kommission Ursula von der Leyens, 282 gegen sie, 36 enthielten sich. Damit können die Kommissare und ihre Chefin die Arbeit plangemäß am 1. Dezember aufnehmen. Von der Leyen ließ am Mittwoch im Parlament keinen Zweifel, dass für sie gerade in der Wirtschaftspolitik die Zeit drängt. Sie deutete abermals an, dass sie den Belangen der Industrie mehr Aufmerksamkeit schenken wolle als in ihrer ersten Amtszeit.

Drei unterschiedlich konkrete Vorhaben kündigte von der Leyen für die ersten 100 Tage ihres neuen Mandats an. Erstens will sie ihren Plan für einen „Clean Industrial Deal“ konkretisieren. Dieser soll darauf hinauslaufen, die Inhalte des „Green Deal“ aus von der Leyens erster Amtszeit mit der Notwendigkeit zu verbinden, die europäische Industrie wieder wettbewerbsfähiger zu machen. In Straßburg sagte die Kommissionschefin, der „Green Deal“ stehe weiter im Zentrum ihrer Arbeit. „Aber wir müssen agiler und industriefreundlicher werden“.

In einem ersten Schritt wolle sie einen „Wettbewerbsfähigkeits-Kompass“ vorlegen, der den Rahmen für die weitere Kommissionsarbeit bilden werde. Zum Clean Industrial Deal werde auch gehören, dass die neue Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera eine „moderne Wettbewerbspolitik“ in den Dienst eines „sauberen, gerechten und wettbewerbsfähigen Übergangs“ stelle. Das deutet darauf hin, dass von der Leyens Industriepolitik mit einer Lockerung der EU-Fusionskontrolle die Schaffung „europäischer Champions“ vereinfachen soll.

Forum für Automobilindustrie

Als eigenen Teil ihrer Industriepolitik will von der Leyen offenbar den Kampf um das Überleben der europäischen Autoindustrie zur Chefsache machen. Sie werde einen „strategischen Dialog zur Zukunft der Automobilindustrie in Europa“ einberufen, sagte sie in Straßburg. Sie wolle diesen Dialog persönlich leiten und nachbereiten. Ziel des neuen Forums sei, „einander zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, da sich diese Branche in einem tiefgreifenden und disruptiven Wandel befindet“.

Als zweites Vorhaben für die ersten 100 Tage will von der Leyen das von ihr mehrfach ausgerufene Ziel des Bürokratieabbaus konkretisieren. Sie schlägt vor, dass drei sehr detaillierte und deshalb von der Wirtschaft stark kritisierte Vorschriften in einem gemeinsamen EU-Gesetz („Omnibus“) zusammengefasst und vereinfacht werden. Betroffen sind das EU-Lieferkettengesetz, die Nachhaltigkeitsberichterstattung und die EU-Taxonomie. Details nannte die Kommissionschefin auch hier nicht.

Die deutsche Wirtschaft reagierte aber erleichtert. So nannte der Verband der deutschen Maschinen- und Anlagebauer (VDMA) von der Leyens Ankündigung „vielversprechend“, da gerade diese drei Regulierungen die Wirtschaft besonders belasteten. Die geplante Anpassung komme aber sehr spät, weil sich die Unternehmen schon damit beschäftigten, wie sie mit den neuen Gesetzen zurechtkommen könnten. Umso mehr dürfe es jetzt „keine Tabus geben“.

Hilfestellung für Verteidigung

Den dritten Schwerpunkt für die ersten 100 Tage bildet die Verteidigungspolitik, für welche die EU im Prinzip nicht zuständig ist. Die Kommissionschefin will aber sehr schnell ein Papier („Weißbuch“) vorlegen, in dem ausgelotet werden soll, wie sich ein europäischer Rüstungs-Binnenmarkt schaffen lässt und etwa eine gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern erleichtert werden kann. Russland gebe über 9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Rüstung aus, die EU im Durchschnitt nicht einmal 2 Prozent. Das müsse sich ändern.

Zur möglichen Finanzierung erheblich höherer Rüstungsausgaben schwieg sich von der Leyen aus. Zu einer abermaligen Schuldenaufnahme der EU, etwa zu diesem Zweck, hält sie sich schon länger bedeckt. Auch ihre generellere Ankündigung, ihre zweite Kommission werde eine „Kommission der Investitionen“, konkretisierte sie am Mittwoch nur mit der Forderung, neben neue öffentliche Investitionen müssten auch erheblich mehr private Investitionen treten.

Neues Budget soll der Wettbewerbsfähigkeit helfen

Dieser Hinweis auf neue Vorschläge zur Kapitalmarktunion verdeckt nicht, dass die neue Kommission vor allem einen größeren eigenen Haushalt anstreben wird. Der Kommissionsvorschlag für den neuen mittelfristigen Finanzrahmen der Jahre 2028 bis 2034 wird im kommenden Jahr erwartet. Geht es nach von der Leyen, könnte auch das EU-Budget künftig radikal auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet werden – indem die bisher größten Haushaltsposten Agrar- und Kohäsionspolitik aufgelöst würden und das Geld stattdessen als Zuschuss gegen Reformzusagen der Mitgliedstaaten an diese direkt ausgezahlt werden. Freiwerdende Mittel könnten in einen eigenen Topf für Wettbewerbsfähigkeit fließen.

Der Name Donald Trump fiel in von der Leyens Straßburger Rede nicht. Die Probleme, vor die der neue US-Präsident die EU stellt, erwähnte die Kommissionschefin nur indirekt. Sie wiederholte ihren Wunsch, dass in Europa „wirtschaftliche Sicherheit“ herrschen müsse. Der neue EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič werde sich vor allem um dieses Anliegen und um die „strategischen Interessen“ der EU kümmern – nicht so sehr um den freien Handel.

Mercosur auf der Kippe?

Auf eine ganz konkrete handelspolitische Herausforderung ging von der Leyen gar nicht ein: den stark gefährdeten Abschluss der Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit dem Gemeinsamen Markt von fünf südamerikanischen Staaten (Mercosur). Am Dienstagabend hatte die französische Nationalversammlung das Abkommen mit 484 zu 70 Stimmen abgelehnt, und auch der polnische Ministerpräsident Donald Tusk sagte, sein Land könne dem Abkommen in der jetzigen Form nicht zustimmen.

Theoretisch wäre die Unterzeichnung auf dem EU-Mercosur-Gipfel in der kommenden Woche in Montevideo dennoch möglich. Die EU-Kommission müsste dazu den Handelsteil des Abkommens vom politischen Teil abtrennen. Der Handelsteil könnte dann im Ministerrat mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden, also von 15 Ländern, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen. Anschließend müsste nur noch das Europaparlament den Text ratifizieren und nicht wie sonst die Parlamente aller Mitgliedsländer. Die qualifizierte Mehrheit im Rat scheint gesichert zu sein. Von der Leyen lässt aber bisher nicht erkennen, dass sie dem Abkommen auch gegen Frankreich und Polen eine Chance geben will.