Nächste Phase für Online-Handel in virtuellen Welten: Clinique verknüpft Metaverse mit E-Commerce

Das Clinique Lab ermöglicht Kosmetikfans, einen individuellen Avatar zu erstellen, mit dem sie die sechs Bereiche der virtuellen Welt des Kosmetikherstellers erkunden können.

Blaupause auch für die Mode? Der Kosmetikhersteller Clinique hat eine virtuelle Welt in seinen Online-Shop integriert. Dieser läuft auf der Plattform des Berliner Start-ups Journee, die erstmals das Metaverse direkt mit dem E-Commerce verknüpft. Die TW hat sich das sogenannte Clinique Lab genauer angesehen und mit Journee-Chef Thomas Lorenz über die Alleinstellungsmerkmale und nächsten Entwicklungsstufen der Plattform gesprochen, die von Experten viel Beifall erhält.

Das Metaverse erobert immer mehr die Modewelt. Jede Woche eröffnet mindestens ein namhafter Hersteller oder Händler von Bekleidung, Schuhen oder Accessoires eine virtuelle Präsenz auf Plattformen wie Roblox, Decentraland, Horizont, Fortnite oder Zapeto.

Entweder in Form eines Stores, der nicht aus Backsteinen und Mörtel, sondern Bits und Bytes besteht. Oder in Form eines Online-Games, das auf beliebten Spieleplattformen wie Fortnite oder Roblox angeboten wird. Einige wenige Unternehmen wagen den großen Wurf und entwickeln eigene kleine, aber feine virtuelle Welten.

Noch verfolgen die meisten Fashion-Anbieter mit ihren Metaverse-Projekten vornehmlich Marketing- und PR-Ziele. Sie können damit ihre Innovationskraft unter Beweis stellen. Das ist vor allem dann hilfreich, wenn es darum geht, die junge Generation als Kunden zu gewinnen oder langfristig zu binden.

Mittelfristig hat die überwiegende Mehrheit der Metaverse-Anwender aber vor allem ein Ziel vor Augen: die Erschließung eines neuen Vertriebskanals, der dem zuletzt schwächelnden E-Commerce neuen Schwung verleihen könnte. Mit anderen Worten: In der Verknüpfung von Online-Handel und virtuellen Welten liegt im Grunde der Schlüssel für ein erfolgreiches Metaverse-Engagement.

Das Clinique Lab läuft auf der Plattform Journee und ist zum Start in 36 Ländern verfügbar.

Genau diese Kombination will das Berliner Start-up Journee mit seiner gleichnamigen Web3-as-a-Service-Plattform anbieten. Diese ermöglicht Unternehmensangaben zufolge ein Einkaufserlebnis, das „zum ersten Mal qualitativ hochwertiges, live gerendertes, gamifiziertes Massen-Multiplayer-3D mit der Kraft des E-Commerce“ verbindet.

„Das ist nur mit Journee möglich. Deshalb arbeitet auch ungewöhnlicherweise ein großes US-Unternehmen mit einem Berliner Start-up zusammen, das diese Technologie zum Patent angemeldet hat“, erklärt Journee-CEO und Mitgründer Thomas Johann Lorenz.

Der Online-Entrepreneur Thomas Johann Lorenz und der Digitalkünstler Christian Mio Loclair haben Journee 2020 in Berlin gegründet.

Ob es sich hierbei wirklich um eine Weltneuheit handelt, ist freilich schwer zu überprüfen. Der TextilWirtschaft ist jedoch bei ihren mehrmonatigen Recherchen zum Thema Metaverse in der Mode noch kein vergleichbarer Case begegnet.

Es ist zwar teilweise schon möglich, digitale oder physische Güter in Metaverse-Präsenzen zu kaufen. Dafür muss man allerdings in der Regel entweder mit einer digitalen Währung wie Bitcoin oder Ethereum bezahlen, was für viele Nutzer noch eine große Hürde darstellt.

Der Seriengründer: Journee-Chef Thomas Johann Lorenz

Thomas Johann Lorenz hat vor Journee schon zahlreiche Unternehmen gegründet: Zunächst im Alter von nur 18 Jahren eine Event-Firma. Es folgten unter anderem der Veranstaltungstechnik-Anbieter Lichtwerk Berlin, die Marketing- und Event-Firma Iro, die Boutique-Strategieberatung Booom und die globale B2B-Mode-Plattform Veee.com.

2019 stieg der Diplom-Betriebswirt als Managing Partner bei Waltz Binaire ein, einem Forschungsinkubator für künstliche Intelligenz, Design und neue Technologien. Daraus ist 2020 das Metaverse-Start-up Journee entstanden, das Lorenz zusammen mit dem damaligen Managing Director von Waltz Binaire, Christian Mio Loclair, gegründet hat.

Der Online-Entrepreneur verfügt auch über Modeerfahrungen: Als Gesellschafter einer Mode- und Promotion-Agentur war er an der Entwicklung der Berlin Fashion Week beteiligt. Zudem leitete er sowohl die Geschäftsentwicklung als auch die Digitalisierung des Modemessen-Veranstalters Premium Group. Darüber hinaus war der heute 41 Jahre alte Seriengründer Mitinitiator der Fashiontech-Konferenz.

Oder man muss zum Kaufabschluss die virtuelle Welt verlassen und in einen Online-Shop wechseln. Und die Erfahrung hat gezeigt, dass Medienbrüche oft zu Kaufabbrüchen führen.

Erster Anwender des neuen Journee-Produkts ist die US-amerikanische Kosmetikmarke Clinique, die virtuelle Einkaufen in ihren Online-Shop integriert hat. Im sogenannten Clinique Lab, das zum Start in 36 Ländern und in 21 Sprachen verfügbar ist, müssen die User nur auf einen Reiter oberhalb der virtuellen Welt klicken, um sich im Online-Shop noch genauer über den virtuell präsentierten Kosmetikprodukte zu informieren und diese gegebenenfalls direkt in den Online-Warenkorb zu legen.

Virtuelle Welten: Modemarken im Metaverse

Die fotorealistische 3D-Grafik ist durchaus ansprechend und hebt sich positiv von den meisten anderen Metaverse-Angeboten ab. Eine ähnliche Präzision haben bislang nur wenige Modeunternehmen erreicht, darunter der US-amerikanische Warenhaus-Filialist Bloomingdale’s, der im September vergangenen Jahres ein digitales Kaufhaus eröffnet hat.

Darüber hinaus punktet das Clinique Lab unter anderem damit, dass es eine personalisierte Interaktion mit Clinique-Beratern ermöglicht, Produktgeschichten in Wort, Bild und Videos erzählt und geschickt den klassischen Verweildauer-Verstärkers Gamification einsetzt: Je mehr Seifenblasen man auf der Tour durch die sechs Bereiche des Clinique-Kosmos zum Platzen bringt, desto höher fällt der Rabatt im Online-Shop aus. Ferner besteht die Möglichkeit, einen eigenen Avatar zu erstellen, der sich mit anderen Store-Besucher auszutauschen kann.

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You Gov-Studie

So sieht der Querschnitt der künftigen Metaverse-Nutzer aus

Jung, männlich und technologiebegeistert: Was wie die Stereotypbeschreibung eines klassischen Gamers klingt, definiert auch die zukünftige Gruppe von Metaverse-Enthusiasten. Denn laut der aktuellen Studie „Meta-Was? – Hype oder das nächste große Ding“ des Marktforschungsinstituts You Gov zeigen insbesondere männliche Repräsentanten der Gen Z das größte Interesse an der virtuellen Parallelwelt.

„Räumliche Echtzeit-Sound-Effekte und atmosphärisches Sound-Design ermöglichen vollständig immersive Erlebnisse auf jedem Endgerät“, erläutert Journee-Chef Lorenz. Er betonte im Gespräch mit der TextilWirtschaft, dass für den Besuch der von Journee geschaffenen virtuellen Markenwelten keine Programme heruntergeladen werden müssen. „Wir wollen das Metaverse dorthin bringen, wo die Nutzer bereits sind: auf Websites“, erklärt Lorenz.

Zudem funktionierten die virtuellen Shopping-Tripps auf Smartphones genauso gut wie auf Desktop-PCs mit Breitbrand-DSL-Anschluss. „Wir müssen für mobile Endgeräte nichts herunterrechnen. Es ist egal, was für ein Handy man hat. Mithilfe der Journee-Technologie können wir im mobilen Browser etwas darstellen, was sonst nicht möglich wäre. Wir machen die Geräte leistungsfähiger als sie eigentlich sind!“ Kurz: „Es sieht gut aus und funktioniert für jeden.“

Der Code-Künstler

Christian Mio Loclair hat Human Interaction Design in Potsdam studiert. Anschließend bereiste er als Tänzer und Choreograf die Welt. Parallel zu seinen Auftritten codete der studierte Informatiker für sein Leben gern. Da es in der virtuellen Welt keine interaktiven Bühnen gab, wie sich Loclair diese vorstellte, programmierte er sie kurzerhand selbst.

Von 2011 bis 2014 hat Loclair als Software-Entwickler für die Berliner Digital-Agentur Onformative gearbeitet. 2002 gründete er das Technologie-Forschungsinkubator Waltz Binaire. Daraus entstand 2020 das Start-up Journee, das Loclair zusammen mit Lorenz aus der Taufe hob.

Clinique scheint mit dem Ergebnis zufrieden zu sein: „Im Gegensatz zu unseren Einzelhandelsgeschäften ist das virtuelle Labor eine offene Welt ohne physische Grenzen, die unendliche Möglichkeiten für Design und Storytelling bietet“, schwärmt Charmi Panchal, die als Executive Director of Global E-Commerce bei Clinique arbeitet.

Sie begründet das Metaverse-Engagement des Kosmetikherstellers damit, dass dieser seine Markencodes in neue Dimensionen bringen wollte, indem er eine Plattform nutzt, die zum „Experimentieren und zur kreativen Freiheit“ einlädt. „Journee ist der perfekte Partner, um ein Erlebnis zu schaffen, das unsere dermatologischen Wurzeln kreativ zum Ausdruck bringt“, erklärt Panchal.

Der Metaverse-Online-Shop erhält auch Lob von Expertenseite. Nach Einschätzung der ausgewiesenen E-Fashion-Spezialistin Nina Pütz geht das Clinique Lab „einen deutlichen Schritt weiter als viele seiner Vorgänger“. Der Grund: „Er bietet bietet nicht nur ein digitales Schaufenster, sondern auch eine Erlebniswelt, die ihrem Namen gerecht wird“, sagt die ehemalige Modechefin von Ebay Deutschland, die heute als CEO beim Berliner White-Label-Zahlungsanbieter Ratepay arbeitet. „Die Kunden können sich intuitiv und spielerisch Produkte ansehen, sich über deren Vorteile und Anwendungen informieren und sie direkt kaufen.“ Die technische Umsetzung sei „fortschrittlich und nutzerfreundlich“.

Besonders beeindruckt ist die Online-Managerin von der „nahtlosen Integration des Checkouts in die digitale Welt“. Das ermögliche einen reibungslosen Übergang vom virtuellen Window-Shopping zum Bezahlen der Ware. Deshalb ist Pütz überzeugt, dass der Metaverse-Online-Shop „kein Marketing-Gag ist, sondern das Potenzial hat, eine „echte Alltagsrelevanz“ zu erlangen.

Nina Pütz: „Das Clinique Lab bietet nicht nur ein digitales Schaufenster, sondern auch eine Erlebniswelt, die ihrem Namen gerecht wird.“

Lars Hofacker, der beim EHI Retail Institute den Forschungsbereich E-Commerce leitet, hebt positiv hervor, dass es bei dem virtuellen Shop keine Einstiegshürden wie einen Account gibt. Außerdem gefallen ihm die Gamification-Ansätze und die einfache Möglichkeit, die Produkte in den Warenkorb zu legen. Insgesamt sei es „schön zu sehen, wie Marken im Bereich Metaverse experimentieren und neue Online-Shopping-Erlebnisse kreieren“.

Die Entwicklung der Plattform Journee hat laut Lorenz fast drei Jahre gedauert. Am Clinique Lab habe sein Team etwa ein halbes Jahr gearbeitet. Für die kommenden Projekte rechnet der Metaverse-Experte mit einer Implementierungszeit von zwei bis drei Monaten.

Das Interesse sei groß: „Wir werden in diesem Jahr Dutzende von Cases umsetzen, da wir viele Mode- und Handelsunternehmen in der Pipeline haben.“ Der Grund: „Die Kombination aus Metaverse und E-Commerce lockt viel Geld an. Das ist spannend für jede Marke, die relevante Umsätze im E-Commerce erwirtschaftet.“

Billionen-Investitionen erwartet

Die Investment-Bank Goldman Sachs und die Wirtschaftsnachrichten-Agentur Bloomberg prognostizieren, dass der weltweite Metaverse-Markt spätestens 2024 einen Umsatz von 800 Mrd. US-Dollar (738,87 Mrd. Euro) erwirtschaftet. Das Potenzial für die Investitionen in die entsprechenden Technologien und Angebote liege in den kommenden drei Jahren bei bis zu 1,35 Billionen Dollar.

Bei der Frage nach den Kosten hält sich Lorenz bedeckt. Seinen Angaben zufolge hängt die Höhe der Ausgaben davon ab, wie lange das Unternehmen die Plattform nutzt. „Das sind meistens sechsstellige Investitionen, teilweise auch siebenstellig“, berichtet der 41-Jährige.

Sein volles Potenzial kann Journee wahrscheinlich erst dann ausschöpfen, wenn es Virtual Dressing in voller Breite anbieten kann. Dann hätten die User die Möglichkeit, ihren Avatar mit ihren Körpermaßen zu versehen, damit dieser stellvertretend für den Nutzer ein Kleidungsstück anprobieren kann. Laut Lorenz ist die Integration einer derartigen Technik geplant. Eine Vorstufe habe Journee schon mit Vogue Business und H&M ausprobiert. Dabei hätten die digitalen Zwillinge aber noch nicht die Körpermaße der Nutzer angenommen.  

Laut einer Umfrage des Marktforschers You Gov im Auftrag der TextilWirtschaft würde jeder zehnte Internetnutzer gerne in virtuellen Welten einkaufen. Davon interessieren sich 85% für den Kauf physischer Modeprodukte im Metaversum.

Journee heißt ganz korrekt Journee – The Metaverse Company und wurde 2020 von Lorenz und Christian Mio Loclair in Berlin gegründet. Der Online-Entrepreneur und der Digitalkünstler hatten zuvor gemeinsam Waltz Binaire geleitet, ein Forschungslabor für künstliche Intelligenz, Design und neue Technologien.

Das Team von Journee umfasst derzeit 85 Beschäftigte, die an den Standorten Berlin, New York, Dubai, Kapstadt und Stockholm arbeiten. Fast die Hälfte der jetzigen Belegschaft ist laut Lorenz innerhalb der vergangenen sechs Monate zu Journee gekommen. „Bis zum Jahresende wird sich unser Team erneut verdoppeln“, prognostiziert der Unternehmenschef.

Zu den Referenzkunden von Journee gehört unter anderem der schwedische Fast Fashion-Konzern H&M, für den die Berliner einen virtuellen Showroom entwickelt haben.

Zum Kundenstamm gehören unter anderem Siemens, H&M, BMW und das Magazin Vogue Business. Für sie hat Journee in den vergangenen Jahren virtuelle Welten und Projekte entwickelt. Bei H&M waren das ein virtueller Showroom, eine Metaverse-Kollektion und ein Metaverse-Konzert. Unterm Strich hat Journee schon mehr als 100 Projekt umgesetzt.

Über die Höhe des Umsatzes macht der Gründungsgeschäftsführer keine konkreten Angaben. Nur so viel: 2022 haben sich die Erlöse auf eine siebenstellige Summe verdoppelt. Für dieses Jahr erwartet Lorenz einen achtstelligen Umsatz. Bereits 2021 erreichte der Technologie-Anbieter die Gewinnzone. Ein Jahr später holten Lorenz und Loclair mehrere Investoren an Bord. Dabei handelt es sich um sogenannten Business Angels, also Privatpersonen. Capital Venture- oder Investment-Gesellschaften bleiben noch außen vor.

Journee hat in seiner kurzen Geschichte schon über 25 Preise gewonnen. Die Auszeichnungen gab es unter anderem bei den Awards Webby, Clio, Red Dot Design und New York Festivals Advertising sowie dem Deutschen Digital Award.

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