Nachruf | Zum Tod von Michail Gorbatschow: Er gab dem System den Todesstoß

Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, ist gestorben. Es war einst ein Hoffnungsträger, erst für das eigene Land, dann für dessen Gegner. Das Vermächtnis bleibt umstritten, sein „Europäisches Haus“ wurde nie bezogen

Noch einmal nahm Michail Gorbatschow an Präsidentenwahlen in Russland teil. 1996 trat er für eine sozialdemokratische Partei gegen Amtsinhaber Boris Jelzin und den KP-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow an. Er kam im ersten Wahlgang auf 0,51 Prozent oder 386.069 von 75,6 Millionen abgegebenen Stimmen, der drittletzte Platz unter zwölf Bewerbern.

Wieder einmal sollte sich die Erkenntnis des in den Personalfragen eines ganzen Zeitalters äußerst bewanderten Bertolt Brecht bestätigen, der einmal anmerkte: Schon eine Woche nach dem Tod des großen Staatsmannes fände „man für ihn nicht mehr die Stelle eines Portiers“. Bei Gorbatschow war das schon lange vor seinem Tod der Fall. Portier sein wollte er nicht, als Präsident haben wollten sie ihn nicht oder nicht mehr. Welche Referenzen konnte er auch vorweisen. Noch nicht einmal die eines mäßig begabten Architekten. Ein mutmaßlich für die Ewigkeit errichtetes sowjetisches Haus wollte er umbauen und brachte es zum Einsturz, Gesetze der Statik missachtend, die Brüchigkeit des Fundaments nicht beachtend, die Bauarbeiter abschreckend.

Das von ihm ebenfalls entworfene und empfohlene „Gemeinsame Europäische Haus“ bedachten die Europäer (und nicht nur sie) mit Euphorie und geheucheltem Entzücken. Darin wohnen wollten sie nicht. Was viel damit zu tun hatte, dass Gorbatschow ganz selbstverständlich davon ausging, dass die Sowjetunion, später Russland, in diesem Haus geachtet und respektiert Quartier nehmen würde. Das ging gerade ein Wendejahr gut, als die Fassade dieses Europäischen Hauses angestrahlt wurde, ohne dass es je gebaut wurde.

Bei den Wechslern

Gorbatschow ließ die Feuilletons aller Länder in der Phrase vereint sein, dass Politik auch Charakterfach sein könne. Es schien abgemacht, dass man einen solchen Helden des Rückzugs mit Nachsicht behandelte und so tat, als ob man mit Blindheit geschlagen sei. Je mehr sich seine Vision einer neuen friedlichen Weltordnung als gescheitert erwies, desto mehr wurde sie vor allem im Westen angehimmelt – und missachtet.

Es wurde Gorbatschow nicht angekreidet, sondern hoch angerechnet, dass er wie so mancher Politiker in Not zu den Wechslern in den Tempel ging und um Kredit bat. Er war schließlich Führer eines großen Landes, dem er zugestand, dass es ihn überstehen sollte. Er fand einen durchaus spendablen Käufer für die DDR, auch wenn das die versteinerten Mienen seiner Buchhalter nicht auflockerte, die ihm weiter ungedeckte Haushaltsposten mit Bankrottdrohung in der Stimme vorwarfen. Anatoli Tschernajew, einer seiner Berater, nannte Gorbatschow kurz nach der Selbstaufgabe der Sowjetunion „eine paradoxe Gestalt in einer paradoxen Situation“. Was durchaus zutraf.

Als ihn im Februar 1986 der XXVII. Parteitag der KPdSU als Generalsekretär bestätigte, war das eine Schicksalsstunde für das Land. Mit Michail Gorbatschow verband sich ein Programm, das die Worte Glasnost und Perestroika nur unzureichend beschreiben. Er wollte aus Stagnation, Lethargie und Selbstgenügsamkeit herausführen. Es wurde eine „zweite Revolution“ beschworen, mit der man sich ausdrücklich auf Lenin berief.

Der damals 54-Jährige war zuvor sechs Jahre im Politbüro, das hieß, er kannte den internen Zirkel des Apparats, seine Eigengesetzlichkeit und Veränderungsresistenz. Umso mehr brauchte der Erneuerer Unterstützung in der Bevölkerung. Sein Wille und sein Vermögen zur Kommunikation demonstrierten ein anderes Verhältnis zu politischer Führung. Allerdings gerieten die unbeugsamen Realitäten der Sowjetgesellschaft und die Verheißungen des Wandels immer heftiger aneinander. Der Aufbruch versandete, weil er im Unterschied zu den Reformen in China ohne ökonomische Agenda und sozialen Ertrag blieb.

Zusehends entstand der Eindruck, dass es dem Urheber des Umbruchs auf den Beweis ankam, dass der Sozialismus nur abgeschafft werden konnte, um sich zu wandeln. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger nannte Gorbatschow Ende der 1980er Jahre einen der „größten aller Verzichtspolitiker“ und „Spezialisten der Demontage“, der moralischen Mut beweise, „indem er eine Zweideutigkeit auf sich nimmt“. Den Gegner der Sowjetunion wird das nicht entgangenen sein. Sie wussten, was das bedeutet.

Abgang von der Kremlmauer

Schnell war unverkennbar, dass durch die Systembrüche in den mit der UdSSR verbündeten Staaten in Osteuropa Gorbatschow im eigenen Land immer mehr unter Druck und in Misskredit geriet. Im März 1990 zum Präsidenten gewählt, reagiert er mit Sondervollmachten, die Stützen des Ancien RégimeArmee, Polizei, der Staatsapparat überhaupt – dienten sich wieder an und machten sich unentbehrlich. Gorbatschow fand sich in einem unüberbrückbaren Zwiespalt wieder, die Wirkungen seiner Politik negierten zunehmend deren Intentionen. Als während des Vorbeimarsches am 1. Mai 1990 auf dem Roten Platz Proteste gegen ihn und das Politbüro laut wurden, wandte er sich ab und trat den Rückzug von der Kremlmauer an. Führung und Volk hatten sich auch unter ihm entfremdet.

Im selben Jahr ließ er wegen der angespannten innenpolitischen Lage zweimal die Reise zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises in Oslo verschieben. Das Vergabekomitee, so schien es, wollte sich ehrlich machen durch eine noble Geste der Auszeichnung. In Gorbatschows Dankesrede klang eine Mahnung an, die schnell verrauscht war. Es hieß darin, wenn die sowjetische Perestroika erfolgreich sein sollte, bestehe die wirkliche Chance zum Aufbau einer neuen Weltordnung. Was geschehen könne, sollte sie scheitern, sagte er nicht. Man weiß es inzwischen, es waren 30 Jahre Zeit, sich darüber ein Bild zu machen.

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