Mutter und Identität: Entweder Mutter oder Mensch? Das ist altes Denken

Entweder Mutter oder Mensch? Das ist altes Denken – Seite 1

In einem Biergarten in Berlin: Ich hatte sie lange nicht gesehen. Inzwischen hatten wir beide Kinder und sie fragte mich nach der Persönlichkeit meines Kindes, wie meine Tochter so sei. Es fiel mir schwer, darauf zu antworten, vielleicht weil meine Tochter damals noch jünger war, gerade anfing zu laufen. Heute, ein halbes Jahr später, wäre es leichter für mich, ihre Vorlieben und ihren Charakter zu beschreiben. Bald ist sie zwei Jahre alt, spricht und tanzt. Ich fragte auch die Bekannte nach ihrem Kind und mit strahlenden Augen erzählte sie mir von ihrer Tochter.

Diese Frage nach der Persönlichkeit meines Kindes wurde mir an diesem Abend im Biergarten das erste und bisher letzte Mal gestellt. Selbstverständlich fragen mich Leute ab und zu, wie es meinem Kind geht, ob in der Kita alles gut sei. Doch diese Frage der Bekannten war anders, da war wirkliches Interesse und vielleicht berührte sie mich auch so, weil ich sie auf mich bezog. Wer sich für mein Kind interessierte, interessierte sich auch für mich, meinen Alltag, für die Carearbeit, die ich verrichtete, die meist unsichtbar bleibt, die nachts stattfindet, in Zwischenräumen, die keinen Arbeitsbeginn und keinen Feierabend kennt, eine Arbeit, die sich oft banal anfühlt – Brösel aufwischen, Nase putzen, Playdates ausmachen – und doch gemacht werden muss, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten. Ich definiere mich über mein Kind, fiel mir nach dem Gespräch auf.

Zu Hause in Leipzig: Freund*innen besuchten meinen Partner, unser Kind und mich zum Frühstücken. Manchmal beteiligte ich mich kurz am Gespräch, dann sprach ich jedoch nur über mein Kind, seine Fortschritte beim Sprechen. Ich lief meiner Tochter hinterher, während die anderen sich unterhielten und froh waren, Sätze zu Ende sprechen zu können und nicht vom Kind unterbrochen zu werden. Niemand fragte mich etwas. Ich bin als Person gar nicht da, dachte ich.

Ich freue mich, wenn Menschen sich ehrlich für mein Kind interessieren. Gleichzeitig will ich nicht eine von denen werden, die nur über ihre Kinder reden und sich über die Erfolge beziehungsweise Misserfolge der Kinder definieren.

Ich finde keine Balance.

Oft habe ich Angst, andere zu langweilen, wenn ich über mein Kind rede. Aber ich will auch über meine Realität reden können, und die meiste Zeit verbringe ich nun mal mit diesem Menschen. Ich weiß nicht, wie ich eine Ausgewogenheit finden kann zwischen meinem banalen Alltag und dem, was mich außer dem Muttersein ausmacht.

Manchmal verschwinde ich einfach.

Ich finde keine Balance zwischen meinen Identitäten.

Ich will eine gute Mutter sein, wahrscheinlich weil ich als westdeutsch sozialisierte Frau die spezifisch deutsche Ideologie der guten Mutter quasi mit der Muttermilch aufgesogen habe. Bis heute wirken Denkmuster aus dem Nationalsozialismus in unserer Gesellschaft fort: Eine gute deutsche Mutter gebärt ihr Kind natürlich, stillt es und fängt lieber nicht wieder zu früh an zu arbeiten.

Ich will über mein Kind sprechen. Ich will eine gute Schriftstellerin sein. Ich will Zeit mit meinem Kind verbringen und Zeit für meine Freund*innen haben. Ich will in die Luft starren. Ich will teilhaben. Ich will alles und zerreiße mich dabei. Ich bin nicht die Erste, die über dieses Gefühl schreibt, auf Instagram wird zum Beispiel unter dem Hashtag #ehrlicheelternschaft über diese Ambivalenzen geschrieben. Dabei geht es jedoch um mehr als nur um Fragen der Vereinbarkeit, es geht darum, wer wir sind und sein wollen.

Ich werde im Entweder-oder zerrissen

Ich schreibe bewusst Mutterschaft und nicht Elternschaft, weil ich Phänomene schildere, die sich auf weibliche Subjektpositionen im Patriarchat beziehen. In Anlehnung an die Reformpädagogin Ellen Key ist für mich „Mutterschaft jedoch nicht nur Gebären, sondern eine Beziehung jenseits des zweigeschlechtlichen Schicksals“. Eine Mutter ist also eine enge Bezugsperson eines Kindes. Das kann, muss jedoch nicht die Person sein, die es geboren hat. Diese Definition schließt andere Elternschaften und Geschlechtsidentitäten mit ein, zum Beispiel Adoptiveltern, Leihmutterschaften oder trans Männer.

Doch wie komme ich aus meinem Dilemma heraus, als Mutter nur auf meine Sorgetätigkeit reduziert zu werden und dabei als Person zu verschwinden? Ich denke, dass Mutterschaft auch eine feministische emanzipatorische Kraft in sich tragen kann. Dabei lohnt es sich, einen Blick auf Debatten in der deutschen und europäischen Frauenbewegung um 1900 zu werfen. Unter dem Schlagwort der „freien Mutterschaft“ verhandelten Schriftstellerinnen um die Jahrhundertwende Mutterschaft „nicht nur als individuelle Lebensentscheidung, sondern auch als gesellschaftliche Positionierung“, wie Laura Mokrohs und Sylvia Schütz im Sammelband Frei leben! über Frauen der Bohème zwischen 1890 und 1920 schreiben. Die Autorin Franziska zu Reventlow zog ihren Sohn beispielsweise allein auf und gab den Vater nicht bekannt. Das war revolutionär, weil damals die Mütter nicht eigenständig über ihre Kinder entscheiden durften, sondern für uneheliche Kinder ein Vormund eingesetzt wurde. 

Heute gibt es immer mehr Modelle, Kinder nicht in der heteronormativen Kleinfamilie aufwachsen zu lassen: Frauen ziehen unter dem Stichwort Solomama Kinder allein groß und beim sogenannten Co-Parenting finden sich zwei Personen unabhängig von einer Liebesbeziehung, um ein Kind zusammen zu bekommen. Dank der Fortschritte der Reproduktionsmedizin sind solche Modelle immer einfacher umzusetzen. Doch obwohl sich alternative Modelle, um Kinder großzuziehen, weiter verbreiten, ist das ideologische Bild, wie eine gute Mutter zu sein hat, noch in vielen Köpfen präsent.

Es gibt einen weiteren Aspekt, der mir das Balancieren zwischen meiner Funktion als Mutter und meinen anderen Identitäten schwer macht: Die westliche Philosophie ist weiß und männlich geprägt und hat keinen Platz für andere Identitäten. Wir haben zumindest aus dieser Tradition gar keine Konzepte dafür, dieses vielfältige Subjekt Mutter zu denken.

Das fängt schon in der Schwangerschaft an. Ich konnte nicht begreifen, was da passiert: Da wächst ein Mensch in mir, der nicht ich ist. Der Zustand der Schwangerschaft ist besonders, der Körper entwickelt extra für diesen Zeitraum ein eigenes Organ, die Plazenta, das nach der Geburt nicht mehr gebraucht wird. Der Fötus ist mindestens bis zur 23. Woche ohne die Schwangere nicht überlebensfähig. Die Verbindung der beiden Körper geht sogar noch weiter, tatsächlich werden Fötus und Schwangere mehr Teil voneinander, als man denkt: In Studien fanden sich nach der Geburt Zellen des Kindes im Herzen, der Leber oder sogar im Gehirn der Mutter. Auch umgekehrt finden sich Zellen der Schwangeren im Körper des Kindes. Wissenschaftler*innen erforschen diesen Zellaustausch unter der Bezeichnung Mikrochimärismus.

Während der Schwangerschaft war ich nicht mehr nur ich. Die Psychoanalytikerin Luce Irigaray nannte diese spezifische Subjektposition „nicht eins, nicht zwei“. „Denn wenn sie gleichzeitig zwei ist (sind), aber nicht durch eins zu teilen (nicht aufzuteilen), wie soll sich das Subjekt da zurechtfinden?“

Doch so wie Mutterschaft heute alltäglich gedacht wird, werde ich im Entweder-oder zerrissen: Entweder bin ich eine gute Mutter und kümmere mich um mein Kind, oder ich bin eine gute Schriftstellerin und vernachlässige dabei mein Kind. Diese Gesellschaft, die nur in Binaritäten denkt, lässt für mich scheinbar keinen Ausweg aus diesem Dilemma zu.

Was mache ich also mit der Mutterschaft, wenn ich das Gefühl habe, dass sie mich als Person unsichtbar macht? Ich eigne sie mir an und wende sie ins Positive. Wenn Mutterschaft schon vor mehr als 100 Jahren etwas Revolutionäres haben konnte, nämlich das Aushebeln von patriarchalen Strukturen, kann sie das heute auch. In der Frauenbewegung um 1900 erschien der Bezug auf „mütterliche Liebe als Ausweg aus dem Bezug auf das männliche Eine respektive aus der Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit“, schreibt die Historikerin Anna Leyrer in ihrem Buch Die Freundin.

Einen Säugling zu pflegen oder ein Kind großzuziehen, bedeutet oft, sich vollkommen auf einen anderen Menschen einzulassen. Es gibt wenig menschliche Beziehungsformen, in denen wir dem Anderen so nah kommen, daher ist das Subjekt Mutter anders als das weiße männlich gedachte Subjekt. Sich um ein Kind zu kümmern, schafft ein Wir, das fernab von Binaritäten ist.

Während im Nationalsozialismus das Bild der Mutter Geschlechterunterschiede verfestigte, kann ein emanzipatorisches Konzept von Mutterschaft uns helfen, Binaritäten auszuhebeln, weil wir eben nicht nur eine sind, sondern viele in uns tragen. Es muss kein Entweder-oder geben, nicht nur weiblich oder männlich, Mutter oder Schriftstellerin. Und wenn es kein Entweder-oder gibt, muss ich nicht mehr verschwinden, ich werde sichtbar.