Museum of Modern Art : Video-Amerika sendet zurück

Das New Yorker MoMA zeigt erstmals in dem Umfang seine großartige Sammlung an Videokunst. Es geht um Antifernsehen, Subversives und eine 60 Jahre alte Vision von TikTok.

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Museum of Modern Art

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Die Verbindung von Kunst und Aktivismus im Video zieht sich durch die Ausstellung, wie hier in Dara Birnbaums Installation „Tiananmen Square: Break-In Transmission“.

Video-Amerika sendet zurück – Seite 1

„Howard, wo stehst du?“ Howard steht am Lincoln Center in New York. Gleichzeitig befindet er sich vor einem Kaufhaus in Los Angeles, projiziert auf eine Videoleinwand, über die ihn eine Passantin mit Fragen löchert. „Howard, leg den Arm um Priscilla!“, fordert ein anderer Zuschauer aus Los Angeles, „Nancy will ein Foto machen.“ Es ist November 1980 und die Vorbeigehenden können anscheinend kaum glauben, was sie sehen. Für drei Tage verband eine beidseitige Liveübertragung die beiden Städte an West- und Ostküste. Passanten bleiben stehen, winken, fragen einander, wie sie heißen oder was sie im Rucksack bei sich tragen; sie spielen Scharade oder treiben sonstigen Schabernack. Howard zögert noch, dann legt er seinen Arm um Priscilla. „Jetzt gib ihr einen Kuss!“ Was die Fußgänger hier vor über vier Jahrzehnten noch mit kindlichem Erstaunen austesten, wirkt wie ein Prototyp dessen, was heute selbstverständlich ist: Videochats.

Mit ihrer sogenannten Videoskulptur boten die beiden US-amerikanischen Künstler und Medienvisionäre Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz den Vorübergehenden einen Blick in ihre Zukunft, unsere Gegenwart. Plötzlich mittendrin im Hole in Space erahnten die Vorbeigehenden vage, was heute nicht mehr aus dem Alltag zu denken ist – eine den Globus umspannende Konnektivität mit Bewegtbild in Echtzeit. Wie der Titel suggeriert, durchbrachen Galloway und Rabinowitz Raum und Zeit, indem sie mit ihrer Videoarbeit die Distanz zwischen den Städten, immerhin 41 Autostunden, überwanden. Das Filmmaterial aufgeregter Menschen, die sich über den Kontinent hinweg zuwinken, eröffnet die größte Verhandlung von Videokunst im Museum of Modern Art (MoMA), seit dort 1974 eine Konferenz zur Zukunft von TV und Video stattfand. Die Konferenz markierte den Beginn einer stetig wachsenden Videosammlung. Mit über 70 Kunstwerken, die meisten aus dieser eigenen Sammlung, will die Ausstellung Signals: How Video Transformed the World nun ebendiese nicht gerade kleine Frage verhandeln: Wie dieses Medium die Welt veränderte. Unter dem Namen The Signals Channel stellt das MoMA zusätzliche Videoarbeiten online, die unter Kategorien wie Körperpolitiken, Videorevolutionen oder Alltagsleben einem weltweiten Publikum während der Ausstellungslaufzeit frei zugänglich sind.

Über das gesamte sechste Stockwerk des Museums untersucht Signals eine Kunstform, die eng mit dem politischen und sozialen Puls der letzten 60 Jahre verbunden ist – so die These der Kuratoren Stuart Comer und Michelle Kuo. Dabei setzen sie vor allem auf Videokunst, die sich verschiedenen Formen des Protests weltweit zuwendet. Ein Großteil der mehr als 35 Stunden Videomaterial unterstreicht, wie das Medium für aktivistische Zwecke eingesetzt werden kann. Das Kuratorenduo will den Besuchern und Besucherinnen ein Gefühl vermitteln, das für sie den Kern von Videokunst trifft: Wir müssen nicht länger passive Zuschauer sein, denen ein einseitiger Informationsstrom aufgezwungen wird. Ein jeder kann sich Videotechniken zu eigen machen, Inhalte aufzeichnen, vorhandenes Material manipulieren, neu zusammensetzen und als Gegenrede veröffentlichen.

Videokunst verstand sich als Widerrede zum Fernsehen

Seitdem das Video als neue Kommunikationstechnologie in den Sechzigern in die Wohnzimmer einzog, flimmert die Weltgeschichte in bunten, schnellen Bewegtbildern durch das kollektive Gedächtnis. Die Menschen schauten dem Vietnamkrieg von ihren Sofas aus zu. Das vermeintlich Ferne bekam eine ungeahnte Nähe – und politische Dringlichkeit. Gleichzeitig wuchs die Kritik an einer Fernsehindustrie, die mit verkitschten Sendungen nur noch unterhalte, mit häufigen Werbepausen den Kommerz über Inhalte stelle und durch stereotype Darstellungen bestimmter Personengruppen Diskriminierung befördere. Als Sony schließlich 1967 die erste Handkamera auf den Markt brachte, gelang die Technologie als erschwingliche Ressource in die Hände der Leute: Einer Videokunst, die sich als Widerrede zum Unternehmensfernsehen verstand, war der Weg geebnet. Die Rezipienten von Media-Amerika sendeten zurück.

Wie attraktiv gerade das Video für eine Verbindung von Kunst und Aktivismus ist, zeigt etwa die Arbeit des Kollektivs Not Channel Zero. Einen alternativen Nachrichten- und Kulturkanal gründeten die vier afroamerikanischen Videokünstler 1989 mit dem Vorhaben, weißem Mainstream-Fernsehen ein basisorientiertes, afrozentrisches Fernsehen entgegenzusetzen. Das Kollektiv produzierte Videoepisoden für ein lokales und durch Bürgerinitiative betriebenes Kabelnetzwerk. Für die Folge Not Channel Zero Goes to War nahm die Gruppe, ihre Kamera geschultert, an Protesten gegen den Golfkrieg teil: Sie sammelte und sendete Stimmen von People of Color, die in den Abendnachrichten wenig Berücksichtigung fanden. „Es gibt eine Menge Dinge, die wir friedlich tun können, anstatt einen Krieg für das Ego eines weißen Mannes zu führen“, hört man etwa eine Demonstrantin über den Konflikt und die Rolle Amerikas sagen.  

Movie-Dromes: Eine 60 Jahre alte Vision von Tiktok?

Wer wird hier manipuliert? Ein Ausschnitt aus Nam June Paiks „Good Morning Mr. Orwell“, das am 1. Januar 1984 im Fernsehen gesendet wurde

Weniger explizit aktivistisch, aber ähnlich subversiv, zerschlägt ein paar Screens weiter der chinesische Künstler Song Dong in seiner Videoarbeit Broken Mirror jegliche Illusion von Wahrhaftigkeit. An verschiedenen Schauplätzen in Peking hält er einen Spiegel vor seine Kamera, um einen erweiterten Blick auf die Umgebung zu erzeugen. Wenn Song mit seinem Hammer die Scheibe dann zerschlägt, fängt er die Überraschung vorbeiziehender Menschen ein, die ebenso schnell wieder ihrer Routine nachgehen. Ähnlich wie Spiegelreflexionen hängt auch Videobildern eine korrekte Darstellung der Realität nach. Kurz vor der Jahrtausendwende verhandelte Song so bereits das andere große Paradigma der Videokunst, dessen Relevanz bis heute ungebrochen ist: Videotechnologie verbindet nicht nur – wie Hole in Space zum Eingang der Ausstellung fröhlich verkündet –, sie kann auch zu trügerischen Weltansichten verführen.

Noch vertrackter ist die Installation Good Morning Mr. Orwell von Nam June Paik. Der in Seoul geborene amerikanische Künstler war einer der Pioniere des Videogenres in der Bildenden Kunst. Good Morning Mr. Orwell war ursprünglich eine einstündige experimentelle Fernsehsendung, die erstmals am 1. Januar 1984 lief, zu Beginn des Jahres also, in dem Orwell seinen düsteren Zukunftsroman spielen ließ. In Orwells Dystopie eines totalitären Staates kann dieser mittels eines sogenannten Teleschirms in die Privatsphäre der Menschen eindringen und ihre Gedanken und Handlungen kontrollieren. In einem schrillen Kuddelmuddel kombinierte Paik etwa Popmusik Videos mit Beiträgen anderer Künstler, teilweise manipulierte er die Zusammenschnitte noch elektronisch während sie schon auf Sendung waren. Mit seinem Sammelwerk aus globalen Medien zeichnete der Künstler eine Welt, die sich rasant auf eine globale Interkonnektivität zubewegte. Mit seiner sogenannten Satellitenkunst erreichte Paik aus Studios in Paris und New York heraus damals weltweit mehr als 25 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer.

Alles sehen, bevor es verschwindet

In den Neunzigern wurde das Video erstmals wirklich allgegenwärtig. Man begann damit, fast jeden bedeutenden wie unbedeutenden Moment auf Videoband aufzuzeichnen. Über das Fernsehen oder den eigenen Videorekorder sah man zum ersten Mal alles und auf einmal, bevor vieles davon wieder für immer verschwand, denn Speicherplatz war rar und kostspielig. Begrenzter Speicherplatz? Heute unvorstellbar, suggeriert die drei Jahre alte Videoinstallation U.S. Greatest Hits Mix Tape der amerikanischen Künstlerin Frances Stark. Ein Kabelsalat, wie es ihn heute unter jedem gepflegtem Schreibtisch gibt, umfasst sechs Tablets. Darauf läuft Starks Mixtape, eine mehrteilige Videoserie aus historischem Filmmaterial zu den militärischen Interventionen der USA in Syrien, Iran, Afghanistan, Libyen, Ukraine und Venezuela. Vertont hat Stark sie jeweils mit dem amerikanischen Popsong, der zur betreffenden Zeit besonders erfolgreich war. Absurd, wenn Katie Perry singt: „I’ve got the eye of a tiger, fighter, dancing through the fire„, während im Hintergrund politische Interviews und Ansprachen zur amerikanischen Rolle in der Ukraine um das Jahr 2014 ablaufen.

Zuflucht von der geballten Videointensität verspricht inmitten der Museumsräume eine große begehbare Metallkuppel. Doch das Innere das sogenannten Movie-Drome des Experimentalfilmers Stan Vanderbeek beherrscht ein atmosphärischer Superlativ: rasend schnell sich gegenseitig überlagernde Projektionen ziehen einem hier über den Kopf weg, ein Mix aus Nachrichtenmaterial, Collagen und historischen Dokumentationen. Die Installation im MoMA rekonstruiert einen Prototyp aus dem Jahr 1965, ein globales Netzwerk mehrerer Movie-Dromes, das der US-Künstler plante. Seine damalige Vision erscheint aus heutiger Sicht wie ein vorzeitiges Aufblitzen eines sozialmedialen Miteinanders: erdumkreisende Satelliten sollten die Metallkuppeln überall auf der Welt miteinander verbinden, indem sie eingespeiste Bilder speichern, übertragen und austauschen würden, um eine neue kollektive Erfahrung der Mehrwegkommunikation zu schaffen. „Das wichtigste Konzept dieser Erlebnismaschine“, schrieb der Künstler, „besteht darin, dem Weltpublikum ein Selbst-Bewusstsein zu vermitteln, was meiner Meinung nach ein wesentlicher Schritt zur Herbeiführung einer friedlichen Koexistenz ist.“

Vanderbeek schaffte es nie über den einen Movie-Drome hinaus, aber sein Zukunftstraum einer kollektiven Erfahrung von miteinander kommunizierenden Bildern und Videos hält sich, könnte man meinen, mit der Gründung von Instagram und TikTok schon stabile 13 Jahre. Im MoMA lassen Millennials und Gen Zler schließlich doch noch den Movie-Drome auf ihren sozialen Kanälen in eine internationale Bildersprache mit einfließen. Vandenbeeks Ziel, sprachliche Blockaden zu überwinden und so die Anspannung aus der Welt zu lösen, mag heute so fern sein wie damals. Allein eine geteilte, in Selbstbestätigungsschlaufen aufgehende Bilderflut, lässt längst noch kein Miteinander entstehen. Es wäre aber zu einfach, die utopischen Impulse, welche die Videokunst der letzten sechs Dekaden antrieben, als gescheitert abzutun. Hoffnungsvoller wäre es in jedem Fall, sie als Experiment mit offenem Ausgang zu betrachten.

„Signals: How Video Transformed the World“, Museum of Modern Art, noch bis 8. Juli 2023