Moderne Weiblichkeit in dieser Oper: Sāvitri qua feministische Pionierin

Die Moderne – was ist das eigentlich? Manchmal gewinnt man den Eindruck, sie sei ein Staat, deren Bürgerrecht zu erwerben für Künstler bis heute auf dem Arbeitsmarkt des Ästhetischen attraktiv ist. Die Kunstkritik wäre dann gewissermaßen die Behörde, die die Pässe vergibt. In Theodor W. Adornos „Philosophie der neuen Musik“, die kaum noch jemand ernst nimmt, die aber seinerzeit meinungsbildend zwischen Schönberg und dem musikalischen Fortschritt sowie Strawinsky und der musikalischen Reaktion unterschied, kommt der Engländer Gustav Holst gar nicht vor, wie überhaupt englischer Musik, einschließlich jener von Benjamin Britten, die Aufenthaltsgenehmigung in „der Moderne“ von den Zuwanderungsbegrenzern im Gefolge Adornos lange verweigert wurde.

In dem schönen Aufsatzband „Sāvitri“, den Markus Pohlmeyer und Katrin Stamm soeben in den Flensburger Studien zur Sprache, Literatur und Religion herausgegeben haben (Aisthesis Verlag), wird die Kammeroper „Sāvitri“ von Gustav Holst zu einem „Schlüsselwerk der Moderne“ erklärt. Legt man Innovation als Maß für Modernität zugrunde, ist das auch nicht verfehlt. „Sāvitri“, 1909 entstanden, ist unserer bisherigen Repertoirekenntnis zufolge die erste Kammeroper des 20. Jahrhunderts. Sie braucht nur einen Mezzosopran, einen Bariton, einen Tenor, dazu ein Doppelstreichquartett, zwei Flöten, ein Englischhorn und einen Frauenchor. Dem verheerenden Wachstumszwang zur kolossalen Überbietung Richard Wagners durch die klassische Moderne bei Richard Strauss, Gustav Mahler und Arnold Schönberg (in dessen „Gurreliedern“) entzieht sie sich durch Reduktion.

Benommen von weiblicher Weisheit: Jeremy Boulton als Tod ins „Savitri“
Benommen von weiblicher Weisheit: Jeremy Boulton als Tod ins „Savitri“Martin Kaufhold

„Sāvitri“ ist aber auch das erste westeuropäische Werk der Musik, das auf detaillierten Studien hinduistischer Texte beruht. Holst lernte dazu sogar Sanskrit. Katrin Stamm kommt im erwähnten Band zu dem Schluss, dass Holst in seinem Libretto, das auf dem Epos des „Mahābhārata“ fußt, die Überwindung der Illusionswelt der Maya durch genaue Kenntnis hinduistischen Denkens herausgearbeitet habe. Denn in der originalen Geschichte einer Frau, die den Tod durch ihre Furchtlosigkeit und Weisheit dazu bringt, ihren Mann zu verschonen, findet sie sich in dieser Deutlichkeit nicht. Weil Holst damit die erfolgreiche Wirksamkeit weiblicher Subjektivität – zeitgleich zu den britischen Suffragettenkämpfen um das Frauenwahlrecht – beschreibt, erklärt Raymond Head in dem Buch Holst auch zum „Protofeministen“. Erklärter Sozialist war er auf jeden Fall.

„Sāvitri“ ist eine Opernrarität der Spielpläne, die aber in den Gender- und Dekolonialisierungsdiskursen unserer Zeit gerade auf gesteigertes Interesse stößt. Vor Kurzem erschien bei bastille musique eine Neueinspielung der Oper unter der Leitung von Klaus Simon auf CD, und wenige Tage nach Erscheinen des Aufsatzbandes steht die Kammeroper als Neuinszenierung von Fabian Sichert auch auf dem Spielplan des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken. Der Opernintendant Bodo Busse, der kommende Spielzeit nach Hannover wechseln wird, schätzt „Sāvitri“ sehr und hatte schon während seiner Zeit in Coburg das Publikum dafür zu erwärmen gesucht.

Hanna Larissa Naujoks in Schönbergs „Erwartung“
Hanna Larissa Naujoks in Schönbergs „Erwartung“Martin Kaufhold

In der Spielstätte der Alten Feuerwache erleben wir Sāvitri und ihren Mann Satyavan nicht als arme Frau eines Holzfällers wie bei Holst (im „Mahābhārata“ ist sie allerdings eine Prinzessin), sondern als heutiges Brautpaar in der Hochzeitssuite eines Romantikhotels. Der Kontrast zwischen dem lachsfarbenen Anzug Satyavans und der himmelblauen Bettdecke streift in der Ausstattung von Anja Jungheinrich bewusst das Süßliche. Doch sehr fein nimmt die Regie Sicherts – durch den Husten, mit dem Dustin Drosdziok als Satyavan immer wieder seinen klangschön-hellen Tenor durchsetzt – die Ursprungserzählung aus dem „Mahābhārata“ auf: Sāvitri heiratet Satyavan, obwohl sie weiß, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat. Drosdziok würdigt in einem vorangestellten Monolog, dass sie dem Leiden nicht ausweicht.

Der Höhepunkt der Oper wird erreicht, wenn Hanna Larissa Naujoks als Sāvitri mit generös aufblühendem Mezzosopran und getragen von den wundersam dezenten Vokalisen des Chores (einstudiert von Mauro Barbierato) dem Tod erklärt: „Leben ist Miteinander. Jeder, der lebt, lebt für alle. Du bist nur für den Augenblick, ein Portal, bald durchschritten. Leben aber ist ewig, größer als du.“ Sie lässt damit den deutlich artikulierenden, vokal feinzeichnenden Bariton Jeremy Boulton als Tod in benommener Bewunderung zurück.

Kombiniert wird das halbstündige Stück in Saarbrücken ausgerechnet mit Arnold Schönbergs wenig später entstandenem Monodram „Erwartung“, in dem eine Frau im nächtlichen Park auf die Leiche ihres Geliebten stößt und den Verlust zu verarbeiten sucht. Wie in einer Opernproduktion von Iván Fischer sitzen dabei die Musiker des Saarländischen Staatsorchesters zwischen und in den Pflanzenkübeln, zwischen denen Naujoks umhertaumelt.

Julius Zeman stellt als Dirigent sowohl psychische Spannung her, wie er – etwa die spritzenden Blutstropfen – viele Details zu malen versteht. Naujoks kann nach den lyrischen Stärken ihrer Stimme in „Sāvitri“ nun auch deren dramatische Seiten entfalten. Sie singt äußerst kontrolliert und kontrastreich, aber mit einer Kraft, die Schönbergs große Orchesterbesetzung im Original nicht fürchten müsste. In Saarbrücken wird die Kammerfassung von Paul Méfano und Michel Decoust aus dem Jahr 1990 gespielt. Die panische Erinnerungsarbeit der „Frau“ verdeutlicht die Regie, indem sie Naujoks in Erde wühlen lässt. Zeichnet im Vergleich zur intellektuellen Selbstwirksamkeit von „Sāvitri“ die ohnmächtige Hysterie in „Erwartung“ nicht ein reaktionäres Bild von Weiblichkeit?

Source: faz.net