Mit der „Streikbrecher“-Methode wird Westfalen zum Drehkreuz
Ganz Deutschland steht an diesem Montag still. Bahnhöfe und Flughäfen im ganzen Land befinden sich fest in der Hand der Streikposten. Ganz Deutschland? Nein. An einem kleinen Provinzflughafen in Westfalen herrscht an diesem Montag Hochbetrieb. Schon zum fünften Mal nutzt der Flughafen Münster/Osnabrück (FMO) einen Streiktag, um Fluggäste von der Konkurrenz wegzulocken.
Als am Superstreik-Montag um kurz nach 7 Uhr die Sonne über dem FMO aufgeht, herrscht an dem Provinzflughafen schon Betrieb wie auf einem Busbahnhof. Fünf große Reisebusse stehen mit laufenden Motoren vor dem Haupteingang. Hinter den Windschutzscheiben kleben Zettel mit den Flugnummern von Billigfliegern. Aus dem Terminalgebäude ergießt sich ein Strom von Reisenden mit Rollkoffern.
Einer von ihnen ist Ramazan Bulut, Betonbauer aus Willich-Anrath. Sein dreistündiger Sunexpress-Flug aus Samsun am Schwarzen Meer ist gerade gelandet. „Am Sonntag habe ich von meinem Reisebüro erfahren, dass wir wegen des Streiks statt in Düsseldorf in Münster/Osnabrück landen“, sagt der 56-Jährige, der nun eine zweistündige Busfahrt vor sich hat. „Ich bin froh, heute überhaupt nach Hause zu kommen.“
Für den Flughafen ist Bulut einer von über 3500 zusätzlichen Kunden, die an diesem Tag am FMO abgefertigt werden. Normalerweise wären hier heute nur zwölf Flugzeuge gelandet und gestartet. Nun nutzen die Fluggesellschaften den kleinen Airport dankbar als Ausweichflughafen.
Zwar entfallen die geplanten Zubringerflüge zu den bestreikten Drehkreuzen in München und Frankfurt. Doch die Ausfälle werden überkompensiert durch die 24 zusätzlichen Starts und Landungen, die der Streik den Westfalen beschert. Die Anzeigetafel ist voll wie nie. Und darauf stehen einige Ziele, zu denen man sonst von hier nicht fliegen kann: Gran Canaria, Teneriffa, Fuerteventura, Izmir und Istanbul.
Es ist schon das fünfte Mal in diesem Jahr, dass am FMO gearbeitet wird, während sich Mitarbeiter an anderen Flughäfen in der Region im Warnstreik befinden. „Unsere Leute sind sehr pro Flughafen eingestellt“, erklärt Betriebsleiter Tjark Giller die mangelnde Streikfreudigkeit seiner Belegschaft.
Man habe gemeinsam viele Hochs und Tiefs erlebt und sehe im Ausstand der anderen auch eine Chance für den Standort. „An solchen Tagen steht die Mannschaft zusammen, um zu beweisen, dass wir uns gegen die großen Flughäfen behaupten können. Das ist unser Ur-Ehrgeiz.“
Wie viele andere Regionalflughäfen muss der westfälisch-niedersächsische Gemeinschaftsflughafen seit Jahren um seine Akzeptanz kämpfen. Die Passagierzahlen sind seit der Jahrtausendwende stark gesunken. Die in öffentlicher Hand befindliche Betreibergesellschaft wirft Verluste ab.
Gerade erst wurde geprüft, ob der Flughafen noch eine Zukunft hat
In dem auf vier Millionen Reisende ausgelegten Terminalgebäude verloren sich im letzten Jahr nur 800.000 Fluggäste – im laufenden Jahr werden 700.000 erwartet. Erst im vergangenen Jahr ließen die Eigentümer in einem unabhängigen Gutachten überprüfen, ob der FMO überhaupt eine Zukunft hat. Angeblich hat er.
Nun wird der Ausstand der anderen zur großen Gelegenheit für die Kleinen, ihre Stärken zu beweisen. Nicht nur der FMO schert deshalb aus der Reihe der Streikenden aus. Wie der Flughafenverband ADV auf Anfrage mitteilt, sind an diesem Montag 13 deutsche Verkehrsflughäfen in Betrieb.
Neben dem BER zählen zu den „Streikbrechern“ vor allem kleinere Flughäfen aus der zweiten und dritten Reihe, die bei Reisenden sonst weniger Beachtung finden und nun ihre große Chance wittern: Braunschweig, Weeze, Paderborn. Memmingen, Friedrichshafen, Karlsruhe. Erfurt, Dresden, Halle/Leipzig. Saarbrücken, Lübeck – und eben Münster.
Bei den Gewerkschaftskollegen machen sich die Streikbrecher nicht beliebt. Doch Norbert Heringloh-Poll, Betriebsratsvorsitzender am FMO, steht zur Entscheidung der Beschäftigten. Vor zehn Tagen hätten sich in einer Urabstimmung etwa 92 Prozent Mitarbeiter der Flughafenfeuerwehr gegen einen Streik entschieden, berichtet der Mitarbeitervertreter, der den flächendeckenden Streik ebenfalls für „unverhältnismäßig“ hält. „Wir befinden uns doch erst in der Phase der Warnstreiks“, sagt er. „Wenn Verhandlungsrunden und Schlichtung scheitern, können wir immer noch eine Schippe drauflegen.“
Deshalb wird am Generalstreiktag am FMO mehr denn je gearbeitet. Viele machen wegen des ungewöhnlichen Andrangs Überstunden, einige Mitarbeiter kommen an freien Tagen freiwillig zur Arbeit. Für die Motivation werden belegte Brötchen und Obst verteilt. Selbst der Pressesprecher hilft am Informationsschalter aus, macht die Durchsagen und holt Koffer aus dem Depot. „Mal was anderes“, sagt er und grinst.
Die Rechnung scheint aufzugehen. Zumindest im Falle einer Familie aus Bremen, die gerade im Terminalgebäude auf ihren Eurowings-Flug nach Palma wartet und begeistert auf die vielen geöffneten Check-in-Schalter schaut. „Sehen Sie sich das an. Keine Schlangen!“, staunt Bauhandwerks-Unternehmer Mirko Rolfes, der mit seiner Frau Jeanine und dem sechsjährigen Sohn Oskar heute früh eigentlich mit Ryanair ab Bremen fliegen wollte. „Freitagabend wurde der Flug gecancelt. Da habe ich gegoogelt“, sagt Rolfes.
Und der Unternehmer stieß im Internet auf den kleinen Flughafen an der A1, den er bislang „gar nicht auf dem Zettel hatte“, obwohl er nur gut eineinhalb Autostunden von Bremen entfernt liegt. Hier fanden die Rolfes einen Flug nach Mallorca – und zugleich einen neuen Lieblingsflughafen. „Es läuft alles so entspannt hier“, sagt Rolfes. „Unsere Flughäfen sind ab jetzt Bremen und Münster/Osnabrück.“
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Source: welt.de