Migration nach Großbritannien: Viele Zuwanderer – trotz Brexit

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Adeole ist stolz auf ihren zehnjährigen Sohn. Die 40 Jahre alte Mutter aus Lagos tut alles, um ihm eine bessere Zukunft zu verschaffen. Dafür reist und zieht sie um die Welt. Adeole (nicht ihr wirklicher Name) hat einen eisernen Willen und arbeitet für ihren Sohn so hart wie es irgend geht – und sie hat Erfolg.

Schon vor seiner Geburt flog sie hochschwanger auf Besuch zu entfernten Verwandten nach New York, um dort zu entbinden. Ihr Sohn Dayo (nicht sein wirklicher Name) hat seither einen amerikanischen Pass. Seine Schuljahre jedoch soll er in Großbritannien verbringen. Das ist für Adeole leichter zu organisieren und billiger als der Start in den USA. Die Mutter verschaffte sich daher – wie 120.000 ihrer Landsleute im vergangenen Jahr auch – ein Studienvisum für das Vereinigte Königreich, genauer: ein Visum für einen zweijährigen Masterstudiengang in Personalmanagement an der Kingston University in London.

Dafür musste sie zwar umgerechnet 18.000 Euro zahlen. Aber wie viel ist das schon angesichts der Chance auf eine neue Zukunft, sagt sie. In Nigerias Hauptstadt war für sie und ihren Sohn ein Leben angesichts von Gewalt und Korruption nicht mehr möglich. Adeole konnte vergangenes Jahr zudem ihren erkrankten Mann nachholen – und das gerade eben noch rechtzeitig, denn die britische Regierung wird ab 2024 Masterstudierenden und Doktoranden aus Übersee den Nachzug von Angehörigen verbieten. Ein Verbot, das am Ende aus dem Brexit und dem daraus resultierenden Fachkräftemangel hervorgeht.

Die Brexiteers versprachen weniger Zuwanderung

Der ehemalige Premierminister Boris Johnson hatte 2019 verfügt, dass nach dem Brexit zwar mit der Personenfreizügigkeit und mit der unkontrollierten Einwanderung aus der EU Schluss sein sollte. Dafür aber setzte die britische Regierung mit einem neuen – Australien nachempfundenen – Punktesystem auf eine Einwanderung, die gezielt hochqualifizierte Fachkräfte aus Übersee ins Land holen sollte. Die britische Regierung gestattete diesen Masterstudierenden und Doktoranden, zwei oder drei Jahre nach Abschluss ihres Studienganges im Land zu bleiben, um einen Arbeitsplatz zu finden und so den Fachkräftemangel und den Mangel an Wissenschaftlern in Großbritannien zu lindern.

Die Johnson-Regierung hatte sich damit jedoch verkalkuliert. Kaum war die Corona-Pandemie vorbei, stiegen die Einwanderungszahlen rasant. Vergangenes Jahr kletterte die Nettoeinwanderung nach Angaben des Office For National Statistics um 20 Prozent auf einen Rekord von 606.000 Personen. Diese Zahl liegt weit über der Nettoeinwanderung von 226.000 im Jahr 2019, als die Konservative Partei in ihrem Wahlprogramm versprach, die Einwanderung drastisch reduzieren zu wollen. Seither muss sich die Regierung vorwerfen lassen, sie habe eines der wichtigsten Versprechen des Brexit gebrochen. Viele Briten und Britinnen hatten 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt, weil ihnen von konservativen Politikern „unhaltbar viele“ Einwanderer vorausgesagt wurden, die ihnen ihre Jobs wegnehmen würden.

Angesichts der im kommenden Jahr stattfindenden Parlamentswahl wird in der Regierung nun gestritten, wie Einwanderung gedrosselt werden kann. Die Innenministerin Suella Braverman hatte sich zunächst auf die Abschiebung von Bootsflüchtlingen nach Ruanda festgelegt. Mit 45.000 Geflüchteten im vergangenen Jahr machen die aber nur einen Bruchteil der Gesamtmigration aus.

Die Regierung sucht daher jetzt nach Wegen, wie sie die hohe legale Migration drosseln kann. Das ist nicht einfach, da das Land durch die Abwanderung von EU-Arbeitskräften in vielen Branchen einen akuten Fachkräftemangel erlebt, der ausgeglichen werden muss. Großbritannien hat deswegen nach Angaben der Regierung im vergangenen Jahr 425.000 Arbeitsvisa erteilt. Zusätzlich gab es vergangenes Jahr 312.000 Visa für Geflüchtete aus der Ukraine, aus Afghanistan und für Umsiedler aus Hongkong. 85.000 Visa wurden für Familienzusammenführungen ausgestellt. Damit sich die britischen Universitäten finanzieren können, gab es vergangenes Jahr zudem eine halbe Million Studierendenvisa.

Das Universitätssystem als Schleuse für Wirtschaftsflüchtlinge

Die Regierung hat daher – als ersten Schritt – mit Restriktionen bei den Visa für Angehörige von Masterstudierenden und Doktoranden angesetzt. Von ihnen sind 136.000 Personen im Land – das sind 750 Prozent mehr als im Jahr 2019. Sie kommen überwiegend aus Indien und Nigeria. Ab Januar 2024 dürfen Studierende und Doktoranden nach Regierungsangaben aber keine Angehörigen mehr ins Land holen, es sei denn, ihre Studien sind reine Forschungsarbeiten. Studierende dürfen zudem nicht mehr einfach ihre Studien- in Arbeitsvisa ändern. Um einen Missbrauch des Systems auszuschließen, will die Regierung gegen solche Agenten vorgehen, die das britische Universitätssystem als Schleuse für Wirtschaftsflüchtlinge nutzen.

Einer davon ist der nigerianische Youtuber Emdee Tiamiyu, von dem die BBC gerade berichtet, dass er systematisch nigerianische Wirtschaftsflüchtlinge mit Studierenden- und Angehörigenvisa ins Land hole. „Wir beobachten, dass viele Leute sich einfach hinter den Studentenvisa verstecken. Ihnen ist das Studium völlig egal“, wird Tiamiyu zitiert. Der in Birmingham agierende Youtuber sagt sogar offen, dass die angeblichen Ehen oft fingiert seien und sich die vermeintlichen Ehepaare erst in Lagos zusammentäten. „Der Weg über die Studentenvisa ist wie ein Gottesgeschenk“, meint der junge Mann gegenüber der BBC. „Damit können auch einfache Leute nach Großbritannien gelangen“.

Adeole hat allerdings vorgesorgt. Ihr schwerkranker Ehemann lebt seit vergangenem Jahr in Großbritannien, zunächst als Besucher, danach langfristig über das Angehörigen-Visum. Er leidet an Sichelzellenanämie und ist ständig erschöpft. Nun lässt er sich in britischen Krankenhäusern behandeln, wird in Kürze wohl operiert. Angehörige müssen dafür einen Visa-Aufschlag in die Gesundheitsversorgung des NHS von 400 bis 600 Pfund einzahlen. Das rechnet sich und ist viel besser als die Behandlung in Lagos.

Arbeiten kann er nicht, dafür ist er zu krank. Er hat zur Sicherheit eine Briefkastenfirma unter der Adresse eines Verwandten in London aufgemacht, damit er Adeole beschäftigen kann, sollte sie keinen Job für ein Arbeitsvisum finden. Doch Adeole arbeitet hart, sie hat längst eine Stelle gefunden. Ihren ersten Job in einem Personalbüro im Gesundheitssystem NHS verlor sie zwar wieder, weil ihr vorgeworfen wurde, sie würde nur Leute aus ihrer Heimat befördern. Aber in Birmingham fand sie schließlich eine neue Stelle. Die Familie zog um. Sohn Dayo besucht jetzt dort die Schule. Es wird nicht der letzte Umzug gewesen sein. Schließlich ist Dayo Amerikaner. Und in den USA ist vielleicht ein noch besseres Leben möglich, sagt Adeole.