Migration: Deutschland ist nicht der Himmel auf Erden

Deutschland ist nicht der Himmel auf Erden – Seite 1

Als Friedrich Merz am 10. Januar in der Sendung Markus Lanzvon den „kleinen
Paschas“ sprach, war ich einer der Gäste der Sendung. Ich habe ihm zwar in
anderen Punkten widersprochen, aber zu diesen Aussagen habe ich geschwiegen.
Und das bereue ich zutiefst. Erst am nächsten Tag habe ich öffentlich Stellung
bezogen, auch zu den angeblich übergriffigen Eltern mit arabischen Wurzeln, die
sich nicht an Regeln hielten und staatliche Autorität in Deutschland nicht
respektierten.

Als Mensch und als
Bürger ist mir der erste Satz des Grundgesetzes sehr wichtig: Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Solche Aussagen, nicht nur zu arabischen Vätern und
kleinen Paschas, sondern auch beispielsweise zu „Sozialtourismus“ und zum
Bürgergeld, treten die Würde vieler Menschen in unserem Land mit Füßen. Sie
stellen ganze Gruppen von Minderheiten unter Generalverdacht von Fehlverhalten,
Kriminalität oder gescheiterter Integration.

Als
Wissenschaftler lese ich Analysen und Studien, die den enormen gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftlichen Schaden eines derart geführten Diskurses herausstellen.
Die genannte Aussage von Friedrich Merz, wie auch ähnliche Aussagen von
zahlreichen Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sind blanker
Populismus. Friedrich Merz hat eine Frage zur generellen Integration mit einem
Einzelbeispiel einiger arabischstämmiger Väter und ihrer Söhne beantwortet. Das
von ihm genannte Beispiel der Lehrerin mag der Wahrheit entsprechen. Aber indem
er eine allgemeine Frage über Integration mit dem genannten Einzelbeispiel
beantwortet, stellt er die gesamte Gruppe von Menschen mit arabischen Wurzeln
unter Generalverdacht und suggeriert, dieses Verhalten sei die Norm und nicht
die Ausnahme.

Die Wurzel des Populismus

Und hier liegt
die Manipulation und letztlich die Wurzel von Populismus: Aus einem Einzelfall
wird ein falsches Bild über eine ganze Gruppe gezeichnet. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass nach den Angriffen in der Silvesternacht Menschen so empört
reagieren, die sich dieser Gruppe zugehörig fühlen, wie Polizistinnen und
Polizisten oder Rettungskräfte mit Migrationsgeschichte. Denn vielen von ihnen
ist bewusst, dass diese Straftaten auf sie selbst zurückfallen und ihren hart
erarbeiteten Respekt in der Gesellschaft infrage stellen.

„Das wird
man ja wohl noch sagen dürfen, es ist doch auch zutreffend“, ist häufig
der Einwand der Verteidiger solcher Aussagen. Sie monieren, man wolle ihre
Redefreiheit beschneiden oder Straftäter verteidigen. Dies ist jedoch weder
zutreffend noch der Punkt. Mit der impliziten oder expliziten
Verallgemeinerung werden ganze Gruppen unter Generalverdacht gestellt und
letztlich in Mithaftung genommen. Dieser Populismus trägt zu einer zunehmenden
gesellschaftlichen Spaltung bei, durch die sich viele aus den betroffenen
Gruppen zurückziehen, bewusst abgrenzen und schützen wollen. Dies verschärft
bestehende soziale Konflikte und gefährdet letztlich eine bessere Integration,
den sozialen Frieden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Somit führt der
Populismus zu einem zunehmenden Protektionismus, also zu dem Versuch
gesellschaftlicher Gruppen, ihre eigenen Interessen zu schützen und sich von
anderen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Ländern und Kulturen
abzugrenzen. Wie schädlich dieser Protektionismus ist, zeigt die gegenwärtige
Debatte in Deutschland um Zuwanderung von außerhalb Europas. „Lieber Kinder als
Inder“ hieß es schon vor mehr als 20 Jahren. Und nun will man von mancher Seite
erst Abschiebungen vornehmen, bevor man über neue Gesetze zur Zuwanderung
verhandelt. Man müsse Sozialtourismus verhindern und dürfe die deutsche
Staatsbürgerschaft nicht zur Ramschware machen.

Der wirtschaftliche Schaden ist groß

Dies sind nur
Beispiele, aber diese Mentalität, Zuwanderung nur zuzulassen, wenn es sich um
wenige, hochqualifizierte Arbeitskräfte handelt, spiegelt sich auch in den
bisherigen Regeln der Zuwanderung wider, vor allem dem Fachkräftezuwanderungsgesetz
von 2020. Dort wurden die Hürden für Qualifizierung, Deutschkenntnisse und
finanzielle Voraussetzungen so hoch gesetzt, dass – nicht überraschend – keine nennenswerte
Zuwanderung zu verzeichnen war. Die neue Bundesregierung versucht, dies jetzt
zu korrigieren, wird aber wohl auf großen politischen Widerstand stoßen.

Mit dieser
Mentalität, dass Deutschland für alle das Paradies auf Erden sei, Zuwanderer
nur wegen hoher Sozialleistungen nach Deutschland kommen wollten und sich eh
nicht gut integrieren, vor allem, wenn sie arabische Wurzeln haben, wird selbst
bei den offensten und tolerantesten Gesetzen dazu führen, dass wenige Menschen
nach Deutschland kommen wollen. Wer möchte schon in Deutschland ein neues Zuhause
aufbauen, wenn ihm von Anfang an signalisiert wird, lediglich Bürgerin zweiter
Klasse zu sein?

Populismus und Protektionismus kosten Arbeitsplätze

Der wirtschaftliche
Schaden dieses Populismus und Protektionismus ist groß. Schon jetzt müssen
jedes Jahr mehr als 500.000 Menschen zusätzlich in Deutschland in den
Arbeitsmarkt kommen, um das Fachkräfteproblem nicht größer werden zu lassen.
Dies ist ein existenzielles Problem für viele Unternehmen. Es geht nicht um
Wachstum und Renditen, sondern um die blanke Existenz vieler Unternehmen und
damit auch die Arbeitsplätze von Deutschen. Wenn sie keine Ingenieurinnen,
Programmierer, IT-Experteninnen, Pflegekräfte oder Logistikexperten bekommen
können, dann werden diese Unternehmen nicht überleben. Kurzum, der Wohlstand,
den Deutschland sich in den vergangenen 70 Jahren hart erarbeitet hat, steht auf
dem Spiel, wenn es in Deutschland keinen Mentalitätswandel, nicht mehr
Offenheit und nicht mehr Wertschätzung für Vielfalt und Diversität gibt. Diese
Wahrheit scheint bei manchen Verantwortlichen in der Politik noch nicht
angekommen zu sein.

Populismus und
Protektionismus haben als Konsequenz eine Paralyse, also die Unfähigkeit,
notwendige Reformen und Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft
vorzunehmen. Es ist schwierig bis unmöglich, Reformen wie das Bürgergeld
umzusetzen und Akzeptanz dafür zu schaffen, wenn der falsche Eindruck in der
Öffentlichkeit entsteht, Bezieherinnen und Bezieher wollten nicht arbeiten, sondern
sich in die soziale Hängematte legen.

Die Paralyse
macht auch dringende Fortschritte beim Klimaschutz unmöglich, wenn der Eindruck
entsteht, Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten seien kriminell und würden
unseren Wohlstand gefährden. Auch hierzu hat Friedrich Merz in der Sendung Markus
Lanz
am 10. Januar beigetragen, indem er die Demonstrierenden in Lützerath
mit den Straftätern der Silvesternacht gleichsetzte.

Geistige Brandstiftung

In einer
solchen Stimmung der Polarisierung ist es nicht überraschend, wenn Menschen
ihre (vermeintlich besten) eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen und
damit der soziale Friede und Solidarität geschwächt werden. Klimaschutz, die
digitale Transformation, Innovation mit den nötigen Fachkräften aus dem Ausland
und die Erneuerung des Sozialstaats werden in einer solchen Stimmung unmöglich
sein.

Wir sehen
zunehmend eine Verrohrung des öffentlichen Diskurses. Begriffe wie „Klimaterroristen“, „kleine Paschas“ oder „Sozialtourismus“ sind geistige Brandstiftung, die Populismus,
Protektionismus und Paralyse verstärken und kaum umkehrbar machen. Es ist
höchste Zeit für einen verantwortlichen öffentlichen Diskurs, in dem allen
voran Politiker und Politikerinnen, die in einer sehr sichtbaren, öffentlichen
Verantwortung stehen, einen Kurswechsel vollziehen.