Michel Houellebecq: Ist „Einige Monate in meinem Leben“ sein Gang nach Canossa?
Die Versuchung ist groß. Verlockend ist es, dem tiefschwarzen Cover zu trauen und in Quelques mois dans ma vie (Einige Tage in meinem Leben) das Schwarzbuch eines reuigen Schriftstellers zu vermuten. Seine Feinde reiben sich voreilig die Hände, wenn sie vermuten, dass Michel Houellebecq ein Mea Culpa ablegt und sich moralisch opportun geläutert zeigt. Nur auf den ersten Blick ist das schmale Büchlein eine Art Tagebuch, in dem der Schriftsteller sechs Monate seines Lebens reflektiert. Auf den zweiten Blick ist es das Making-of des Michel Houellebecq. Wir blicken hinter die Kulissen und beobachten, wie sich der Autor als Person und mediales Phänomen konstruiert.
Michel Houellebecq entschuldigt sich für seinen „idiotischen Text“
Von Oktober 2022 bis März 2023 durchlebte Houellebecq ein öffentliches Höllenfeuer. Mit dem Philosophen Michel Onfray hatte er sich zu einem Interview bereiterklärt, das in einem Sonderheft der als rechtskonservativ geltenden Zeitschrift Front Populaire abgedruckt wurde. Bald schon zog der Text die Unbill der muslimischen Gemeinde auf sich. Die Große Moschee von Paris reichte eine Klage gegen Houellebecq ein wegen „Aufstachelung zum Hass“ gegen Muslime. Der Rektor der Moschee Chems-Eddine Hafiz bezichtigte den Schriftsteller einer „Diskriminierung von seltener Gewalt“, da er Muslime verallgemeinernd als Diebe und kriminell dargestellt habe. Erst ein persönliches Gespräch auf Initiative des Oberrabbiners Haïm Korsia führte zu einer Beruhigung der Lage. Houellebecq erklärte sich bereit, inkriminierte Passagen zu korrigieren, um Missverständnisse auszuräumen und die Vertreter der Religionen für seinen allen anderen Querelen übergeordneten Kampf gegen die von der französischen Regierung beabsichtigen Gesetzesänderungen zur aktiven Sterbehilfe zu gewinnen.
In seinem neuen Buch stellt Houellebecq klipp und klar fest, dass nicht der Islam das Problem sei, sondern die Kriminalität, die der Staat in den Griff zu kriegen habe. Houellebecq entschuldigt sich bei den Muslimen für seinen „idiotischen Text“ und bestreitet auch, dass sein 2015 erschienener Skandal-Roman Unterwerfung islamophob sei. Die Gründe für diese Klarstellung mögen in einer Furcht vor erneutem Polizeischutz und Attentaten liegen, vor allem aber führt Houellebecq die Ambivalenz seiner Texte an, die in den medialen Auseinandersetzungen verlorengegangen sei und seine eigene Nachlässigkeit bezüglich sprachlicher Präzision. Unkontrollierte Zuwanderung halte er nach wie vor für einen Fehler. Es erinnere ihn an das „Stopfen von Gänsen“, wenn man die Bevölkerung gegen ihren Willen zwänge, immer mehr Migranten aufzunehmen. Dass Houellebecq hier erneut auf ein dumpfes Brodeln in der Bevölkerung rekurriert, erstaunt nicht: Seine Skepsis gegenüber der demographischen Entwicklung in Frankreich ist ein Grundmotiv seiner Bücher. Die Metaphernwahl freilich ist unglücklich: Selbst Foie-gras-affine Franzosen lassen sich ungern mit Mastgänsen vergleichen.
Zwar rechne er nicht mit einem Bürgerkrieg, geht es weiter, wohl aber mit Erosion und Zerfall der Gesellschaft. Houellebecq unterscheidet zwischen seiner politischen Ansicht und seiner schriftstellerischen Tätigkeit, um schließlich auf das Terrain des Menschlichen zu gelangen, das sich jedoch bei genauerer Betrachtung vor allem in zweiten Teil des Buches als Bestiarium erweist. Im Herbst letzten Jahres wurde Michel Houellebecq von Stefan Ruitenbeek, dem Leiter des niederländischen Kunstkollektivs Kirac kontaktiert. Kirac, ein Akronym für Keeping It Real Art Critics, ist bekannt für seine Filmprojekte, die den Anspruch erheben, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu verwischen. Ruitenbeek hatte mit einem pornographischen Film von sich reden gemacht, in dem der rechte Philosoph Sid Lukassen bloßgestellt wurde. Trotz Ruitenbeeks zweifelhafter Methoden erklärte sich Houellebecq bereit, sich gemeinsam mit seiner Frau beim Sex mit jungen Prostituierten filmen zu lassen. Angelockt worden war er von einem angeblichen Projekt über den von ihm verehrten J.P. Lovecraft. Mit dem amerikanischen Schriftsteller hatte sich Houellebecq bereits in seinem ersten Buch intensiv auseinandergesetzt. In Lovecrafts phantastischer Horrorliteratur regiert die Angst vor dem Bösen in einer feindlichen Welt. Später sollte in der Kooperation mit Ruitenbeek von Lovecraft allerdings keine Rede mehr sein, auch der künstlerische Anspruch schien zweifelhaft.
Das Wort „Vergewaltigung“ fällt. Und seltsamerweise ist es nicht befremdlich
Davon sollte später allerdings keine Rede mehr sein, auch der künstlerische Anspruch schien zweifelhaft. Houellebecq versuchte den Film verbieten zu lassen, scheiterte in Frankreich jedoch mit seinem Vorhaben, da er einen Vertrag unterzeichnet hatte. Auch sein Einwand, er habe unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss gestanden, wurde nicht akzeptiert. Houellebecqs Anwältin äußerte, selbst Tiere hätten mehr Rechte als ihr Mandant in diesem Fall. Während die Bildrechte von Tieren mehr und mehr in den juristischen Fokus rücken, verliert der Mensch, so der Grundgedanke, aufgrund juristischer Finessen seine Selbstbestimmung. Zur Untermauerung dieses Gedankens lichtet Houellebecq in seinem Buch den Vertrag samt Klauseln ab. Houellebecq rächt sich am empfundenen Unrecht künstlerisch: Von Lovecraft greift er das Monströse auf und lässt das Böse in allerlei widerlicher tierischer Gestalt sein Unwesen treiben. Ruitenbeek, den er als Inkarnation des Unmenschlichen und Bösen begreift, macht er zur Küchenschabe (cafard), seine Helfershelferinnen zu Pute (dinde), Muttersau und Viper (vipère). Die Entmenschlichung, die ihm im Leben widerfuhr, findet Eingang in sein Buch.
Houellebecq fühlt sich objektifiziert, wie ein Tier in einem Dokumentarfilm, seines Körpers beraubt und fremder Gewaltherrschaft ausgesetzt. Das Wort „Vergewaltigung“ fällt, und seltsamerweise ist es nicht befremdlich, dass Houellebecq seine Situation damit erklärt. Die empfundene Scham und der Hass auf den Körper sind nicht spezifisch weiblich, sondern eine geschlechterübergreifende, schlicht aus Gewalt resultierende Empfindung. Dass sich Houellebecq, der gegen Ruitenbeeks Public Humiliation prozessiert und inzwischen einen Teilerfolg errungen hat, vor seinen Lesern und Leserinnen nackt macht und intime Vorlieben preisgibt, ist das eigentliche Wagnis des Buches. Ein verführerisches Wagnis, da er nach der Lektüre des Buches nicht mehr als der seelenlose Sexist gelten kann, als der er bisher wahrgenommen wurde. Ein überzeugendes Wagnis auch, da er so unterschiedliche Gewährsmänner wie Gérard Depardieu und Bernard-Henri Lévy für sich ins Feld führt. Ob er damit die „Quasi-Perfektion des Schwachsinns“, derer er sich bezichtigt, noch toppt, bleibt abzuwarten. Mediale Reaktionen sind nicht immer berechenbar. Sich selbst treu zu bleiben, ist oft die bessere Wahl.
Der Entschluss, den Houellebecq fasst, ist daher nicht nur honorig, sondern wegweisend: Texte nicht mehr mit Ideologien zu überfrachten! Er, dessen Idol lange Zeit Thomas Mann war, erkennt nach Jahren der Irrungen und Wirrungen die Größe eines Theodor Fontane. Es ist die Abkehr von Selbstgefälligkeit, eine Rückkehr zur Sprache, die der Autor beschließt, eine Einkehr in die Kunst, eine Abwehr der Vereinnahmung seiner Romane und Essays durch Journalisten und Politiker, die alle ihre eigene Agenda haben. Houellebecq erschafft sich selbst, indem er aus der Todesschattenschlucht herauskriecht und allen medialen Ballast abwirft. Ob er auf seiner pornographischen Farm der Tiere dabei nicht doch im Schlamm versinkt, ist die große Frage. Was bleibt, ist der Schriftsteller, der mit dem russischen Dichter Lermontow gesprochen, einen „Helden unserer Zeit“ zeichnet. Dieser Held unserer Zeit aber sei nicht das Porträt eines einzelnen, sondern das Porträt aller Laster einer Generation in voller Blüte. Was bleibt, ist der Mensch, der immer noch trotz aller Blumen des Bösen an die Liebe glaubt: „Je croyais encore à l’amour.“
Michel Houellebecqs neues Buch Quelques mois dans ma vie erscheint am 24.05.2023 bei Flammarion im französischen Original (Leseprobe), Mitte Juli in deutscher Übersetzung bei Dumont