Michael Seewald: “Die Kirche macht das Gegenteil vom Gebrauchtwagenhändler”
“Die Kirche macht das Gegenteil vom Gebrauchtwagenhändler” – Seite 1
Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie “Worüber denken Sie gerade nach?” führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Theologe Michael Seewald.
ZEIT ONLINE: Michael Seewald, worüber denken Sie gerade nach?
Michael Seewald: Über Dogmen und ihre Probleme: Wie hat sich die offizielle christliche Lehre im Laufe der Zeit verändert? Aus welchen Gründen tat sie das? Welche Mechanismen waren dabei am Werk?
ZEIT ONLINE: In einem Essay in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte haben Sie eine bestimmte Art dieser Veränderungsmechanismen in den Blick genommen. Es geht um “Innovationsverschleierung” und die “Errichtung von Kontinuitätsfassaden”. Was meint das?
Seewald: Ein Dogma ist eine Lehre, die Anspruch auf höchste Verbindlichkeit erhebt. Normativität und Zeitlichkeit gehen dabei eine merkwürdige Liaison ein. In dem dogmatischen “So ist es” steckt auch ein “So soll es bleiben”. Nun zeigt aber die Dogmengeschichte, dass das “So ist es” und das “So soll es bleiben” nur in einem lockeren Verhältnis zueinander stehen. Da eine Veränderung oder gar Korrektur des Dogmas im Dogma selbst nicht vorgesehen ist, werden Kontinuitätsfassaden errichtet. Das heißt: Es wird versucht, den Eindruck zu erwecken, dass im Prinzip immer alles beim Alten bleibt. Und wenn sich doch etwas ändert, wird es häufig in harmonisierender Weise dargestellt. Nach dem Motto: Es handelt sich lediglich um organische Entfaltungen, aber eben nicht um Korrekturen. Die Diskrepanz zwischen dem, was gemäß dem Dogma sein soll, und dem, was dann tatsächlich ist, bringt den Papst und die kirchliche Lehrmaschinerie in Verlegenheit. Sie versuchen daher, den Anschein von Kontinuität zu erwecken. Und dazu haben sich bestimmte Techniken entwickelt.
ZEIT ONLINE: Was wäre ein historisches Beispiel dafür?
Seewald: Etwa die Haltung der katholischen Kirche zur Religions- und Gewissensfreiheit. Papst Gregor XVI. hielt die Menschenrechte für “Wahnsinn” und die Gewissensfreiheit für einen “pestilenzartigen Irrtum”. Das war im 19. Jahrhundert. Im Laufe der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts zeichnete sich dann langsam eine Tendenz zur Veränderung ab. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das von 1962 bis 1965 stattfand, zeigten sich Papst und Bischöfe auf einmal als große Fans der Religions- und Gewissensfreiheit. Sie lehrten, dass diese Freiheit aus der Würde der menschlichen Person folge und sie mit der Offenbarung in vollem Einklang stehe. Liest man das entsprechende Dokument des Konzils, bekommt man den Eindruck, die Religionsfreiheit sei eigentlich eine Erfindung der Kirche. Dass diese Freiheit nicht wegen, sondern trotz der Kirche durchgesetzt wurde, wird nicht thematisiert. Man hat also eine Kehrtwende vollzogen, beanspruchte aber zugleich Kontinuität in Fragen der Lehre.
ZEIT ONLINE: In dem erwähnten Essay beschreiben Sie auch eine neuere Strategie der Innovationsverschleierung, die heute von Papst Franziskus angewendet wird. Worin besteht die?
Seewald: Franziskus hat das Repertoire der Innovationsverschleierung erweitert. Und zwar um das Wechselspiel zwischen Haupttext und Fußnote. In seinem 2016 veröffentlichten Schreiben Amoris laetitia geht es um Menschen, die “dauerhaft in schwerer Sünde leben”. Gemeint sind Personen, die kirchenrechtlich gültig verheiratet sind, aber standesamtlich geschieden wurden und schließlich einen anderen Partner geheiratet haben. Die kirchenrechtliche Fiktion besagt in diesen Fällen, dass die betreffenden Menschen eigentlich immer noch mit ihrem vorherigen Partner verheiratet sind. Durch die Heirat mit jemand anderem werde deshalb ein sündhafter Zustand auf Dauer gestellt. Die Folge ist der Ausschluss von den Sakramenten. Nun wendet Franziskus im Haupttext seines Schreibens dagegen nichts ein. Wie die Päpste vor ihm sagt er, dass man den Betreffenden die größtmögliche seelsorgliche Zuwendung angedeihen lassen solle.
ZEIT ONLINE: Klingt in der Tat nicht sonderlich innovativ.
Seewald: Genau genommen enthält der Haupttext sogar eine ziemlich konservative Verhältnisbestimmung von Kirche und Gnade. Denn Franziskus sagt: Die Menschen, die in derlei irregulären Situationen leben, könnten durch die Hilfe der Kirche ein Leben in der Gnade Gottes führen. Ein Leben in Gnade wird also an die Vermittlung der Kirche gebunden. Da war das Zweite Vatikanische Konzil schon mal weiter. Das Konzil lehrte, dass die Gnade Gottes in den Herzen aller Menschen guten Willens unsichtbar wirkt. Liest man nur den Haupttext von Amoris laetitia, könnte man sich fragen: Was ist das eigentlich für ein konservativer Papst?
ZEIT ONLINE: Aber dann kommt die betreffende Fußnote.
Seewald: Genau. Und in der wird gesagt, dass die Hilfe der Kirche auch die Hilfe der Sakramente sein könne. Was im Haupttext nach Kontinuität klingt, bekommt in der Fußnote eine Richtung, die sich vom Überlieferten deutlich unterscheidet. Denn hier wird im Prinzip eine liberale Praxis der Sakramentenspendung eingeführt. Obwohl Päpste schon früher Fußnoten nutzten, um auf andere Texte zu verweisen, ist ein solcher Umgang mit diskursiven Fußnoten etwas Neues. Während der Haupttext die Kontinuitätsfassade aufrechterhält, führt die Fußnote Innovation ein.
“Das Bedürfnis nach Kontinuität ist nichts spezifisch Religiöses”
ZEIT ONLINE: Funktioniert dieses Verfahren denn letztlich auch? Immerhin hat dieser Fall in Kirchenkreisen eine Debatte nach sich gezogen, was denn jetzt eigentlich entscheidender sei: der Haupttext, weil er eben der Haupttext ist? Oder die Fußnote, weil spezifischere Vorschriften stets die allgemeineren schlagen?
Seewald: Aufmerksamere Menschen wissen natürlich, dass in der Kirche oft Kontinuitätsfassaden errichtet werden. Beim Beispiel Religionsfreiheit war den Zeitgenossen 1965 ja klar, dass die Kirche noch kurz vor dem Konzil etwas anderes gelehrt hatte. Die meisten spielten das Spiel trotzdem mit, weil sie die Position des Konzils richtig fanden, aber auch einsahen, dass man eine Fassade brauchte, damit die Konservativen keine Schnappatmung bekommen. Dass diese Kontinuitätsfassaden oft gut funktionieren, sieht man an Konflikten, die aufkommen, wenn diese Fassaden fehlen.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Seewald: Nehmen Sie die Ächtung der Todesstrafe. Aus Sicht der Päpste sollte die Verhängung der Todesstrafe zwar möglichst selten vorkommen. Grundsätzlich geächtet wurde sie jedoch nicht. Noch der Katechismus von 1992 lehrt, dass ein Staat in extremen Fällen berechtigt ist, die Todesstrafe zu verhängen. Im Jahr 2018 korrigierte Papst Franziskus diese Position, indem er die Todesstrafe unter allen Umständen als moralisch verwerflich einstufte. In Europa scheint uns das selbstverständlich, doch in den USA hat das im rechten Spektrum des Katholizismus zu einer regelrechten Revolte gegen den Papst geführt. Und das lag womöglich auch daran, dass der Papst in dieser Frage keine Kontinuitätsfassade errichtet hatte. Im Katechismus steht nun: “Lange Zeit” hat die Kirche es so und so gehandhabt, “heute” müssen wir es anders machen. Damit ist eine päpstliche Kehrtwende aktenkundig geworden. Das kam bei manchen nicht gut an.
ZEIT ONLINE: Nun gab es auch außerhalb der Kirche schon immer Fälle von Kontinuitätsfassaden. Man denke nur an die französischen Revolutionäre von 1789, die mitunter antike Symbolik aufgriffen, um sich in die Tradition der attischen Demokratie zu stellen. Dennoch scheint diese Technik im Kontrast zum Zeitgeist zu stehen. Heute wird für alles Mögliche ein “Narrativ” gebraucht, das die Dinge als besonders neu und innovativ präsentiert.
Seewald: Mir scheint, dass es in der Gegenwart beides gibt. Sie finden auch traditionsstiftende Narrative, etwa bei hippen Bäckereien, die auf ihrer Homepage über ihre Geschichte berichten und erzählen, wie die Gründer vor ein paar Jahren auf die Idee für glutenfreie Backwaren gekommen sind. Selbst für kürzeste Zeitabschnitte werden Erzählungen geschaffen, die die Gegenwart mit Sinn einzukleiden versuchen. Es gibt jedoch die Tendenz, das Neue, noch nie Dagewesene an der Gegenwart herauszustellen. In der katholischen Kirche ginge so etwas nicht. Salopp formuliert: Die katholische Kirche macht das Gegenteil von einem Gebrauchtwagenhändler. Während dieser – zumindest dem Klischee nach – ein altes Auto als möglichst neues verkaufen will, verkauft die katholische Kirche ständig neue Autos, suggeriert aber, dass es eigentlich alte Autos sind.
ZEIT ONLINE: Joe Biden scheint in den USA gerade etwas ganz Ähnliches zu machen. Während jahrelang über das richtige Narrativ für einen Green New Deal diskutiert wurde, setzt der ihn gerade um. Nur heißt der Inflation Reduction Act und tut so, als ob er gar nichts Neues wäre. Auch deshalb gibt es von den Republikanern relativ wenig Protest. Könnte man in dieser Hinsicht also sagen: Von der katholischen Kirche lernen, heißt siegen lernen?
Seewald: Vielleicht. Wobei die Kirche das Errichten von Kontinuitätsfassaden nicht erfunden hat. Schon antike Gemeinwesen stellten sich in die Tradition bestimmter Gründungsmythen. Das Bedürfnis nach Kontinuität ist nichts spezifisch Religiöses. Jedes soziale Gebilde steht in der Verlegenheit, sich in der Zeit zu verorten. Mit dieser Selbstverortung geht der Wunsch nach Beständigkeit einher. Dieser Wunsch hat zwei Richtungen: Er erstreckt sich in die Zukunft, aber auch in die Vergangenheit. Es soll also nicht nur alles so bleiben, wie es ist, sondern auch schon immer so gewesen sein.
ZEIT ONLINE: Besteht die dunkle Kehrseite beim Errichten von Kontinuitätsfassaden nun aber darin, dass sie den bisweilen nötigen Bruch mit der Vergangenheit erschwert? Konkreter: Tut sich die katholische Kirche auch deshalb so schwer, die unzähligen Missbrauchsfälle in ihren Reihen transparent aufzuarbeiten?
Seewald: Vor allem das Vertuschen des Missbrauchs könnte mit der Tendenz zum Fassadenbau zu tun haben. Theoretisch geht in einem Bistum alle Macht vom Bischof aus. Verantwortung ist also hoch personalisiert. Weil der Bischof damit überfordert ist, wird Verantwortung jedoch unter der Hand wieder entpersonalisiert: Alle Instanzen schauen auf den Bischof und der Bischof sagt, dass er seine Augen nicht überall haben kann. Am Ende übernimmt dann niemand Verantwortung. Die Kirche müsste sich Gedanken machen, ob das monarchische Bischofsamt tatsächlich die beste Leitungsform ist. Das Bischofsamt, wie es heute dogmatisch gefasst wird, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Weil das Zweite Vatikanische Konzil aber so gute Kontinuitätsfassaden errichtet hat, glauben tatsächlich manche, dass das Bischofsbild des Konzils jesuanischen Ursprungs ist. Die Unfähigkeit der Kirche, auf den Skandal mit einer Reform ihrer Leitungsstrukturen zu reagieren, liegt also auch daran, dass Kontinuitätserzählungen dazu benutzt werden, um den Status quo zu stabilisieren. Das zeigt die Ambivalenz dieser Technik.
ZEIT ONLINE: Kontinuitätsfassaden sind also an sich weder gut noch schlecht?
Seewald: Das Errichten von Kontinuitätsfassaden ist eine Kulturtechnik, um mit der Gleichzeitigkeit von Beständigkeit und Wandel umzugehen. Diese Technik ermöglicht Innovation und sie verhindert Innovation. Beides lässt sich an der katholischen Kirche studieren.