Merz, entscheidungstheoretisch betrachtet: So ist Demokratie?

Die Altkanzlerin hat Friedrich Merz an seine eigenen Worte erinnert, dass während des Interregnums bis zur Bundestagswahl keine Gesetzesinitiativen eingebracht werden sollen, über die man sich nicht mit der Regierung in der Sache geeinigt hat. Zur Sache hat sie wenig gesagt. Und sie trifft einen Punkt: Es geht fast gar nicht um Inhalte.

Als Merz nach seiner Niederlage am vergangenen Freitag im „Heute-Journal“ verkündete: „So ist Demokratie“, in der es „auch mal richtig hart zur Sache gehen“ müsse, sprach er den vielleicht falschesten Satz in der gesamten Debatte. Denn Anstoß der Misere war seine präpotente Ankündigung vom 23. Januar, der Entschlussvorschlag sei alternativlos, könne nicht verhandelt werden, und es gebe dazu nur die Möglichkeit der Zustimmung oder der Ablehnung. Es war eine politische Erpressung: Wenn ihr zustimmt, dann sind die Stimmen der AfD bedeutungslos, wenn ihr nicht zustimmt, habt ihr die AfD mit Macht ausgestattet.

Keine Chance für Kompromisse

Das Perfide an diesem Vorgang ist, dass Merz in der ersten Abstimmung am 29. Januar dem Parlament gar keine Chance gab, das zu tun, was die parlamentarische Praxis nahelegt: Kompromisse zu suchen, wenn man keine eigene Mehrheit hat. Ohne eigene Mehrheit ist man im Parlament nur ein Spieler unter anderen. Sieht man das ein, wird man feststellen müssen, dass diese Strategie eine von Gnaden der AfD war. Es geht nämlich auch der AfD nicht um die Sache, sondern in nicht unklugen Spielzügen darum, die Union vor sich herzutreiben und sie zu nötigen, in der Migrationspolitik den eigenen manichäischen Aufriss des Themas zu übernehmen. Ohne eigene Mehrheiten macht man sich mit unverhandelbaren Sätzen von anderen abhängig. Der Spieler Merz wurde im Lauf des Spiels selbst zum Spielball. Gemerkt hat er es erst am Freitag.

Merz wollte Handlungsfähigkeit de­mons­trieren – und zwar in jenem neuen Stil, wie ihn Donald Trump beherrscht: durch dezisionistische Unbedingtheit und mit einem Willen zur Durchsetzung über alle Regeln hinweg. Dafür nimmt er in Kauf, ein komplexes Politikfeld in das Format populistischer Vereinfacher zu bringen. Ich will mich nicht damit abfinden, dass der Vorsitzende der CDU, eine der letzten europäischen Mitte-rechts-Parteien, die dem populistischen Werben Paroli geboten hat und auf deren Stabilität das Land nicht verzichten kann, ein solches Hasardspiel treibt. Denn Merz könnte doch dies wissen: Wenn es gelingt, Themen so zu setzen, dass dem politischen Publikum Disruptionen und radikale Entweder-oder-Lösungen plausibel erscheinen, werden diejenigen Kräfte gewinnen, die solches als exklusives Geschäftsmodell anbieten. Die AfD bestimmt mit ihrem Politikstil die Debatte. Dabei geht es nicht nur um Inhalte und eine Kritik an der bisherigen Migrations-, Wirtschafts- oder Energiepolitik, sondern es geht um den rhetorischen Aufriss von Konflikten. Die AfD ist gut darin, manichäische Verhältnisse zu etablieren. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, überlässt ihr das Feld.

Merz kopiert Stil und Vorgehen der AfD

Trifft man auf AfD-Sympathisanten, erlebt man stets einen verletzten Ton. Es wird beklagt, man werde aus dem Diskurs ausgegrenzt. Wie man denn zusammenkommen könne, wenn man nicht miteinander rede? Auf den ersten Blick hat das eine gewisse Plausibilität, auf den zweiten nicht. Denn die AfD inkarniert geradezu die Vermeidung jeglicher Wechselseitigkeit. Für sie sind parlamentarische Verfahren und das ganze Establishment aus prinzipiellen und strategischen Gründen nicht satisfaktionsfähig. Es geschieht alles lege artis, streng nach Lehrbuch.

Genau diesen rhetorischen Stil hat Merz kopiert. Er muss gar nicht mit der AfD zusammenarbeiten, er verhält sich selbst wie sie, wenn er mit einer Wahrheit ins Parlament geht, die für ihn nicht verhandelbar ist. Wollte man wohlwollend sein, würde man es ungeschickt nennen. Mit weniger Wohlwollen steht zu befürchten, dass Merz wirklich genau so sein will. Die widersprüchlichen Statements hinterher – er würde alles wieder genauso machen, aber eine Zusammenarbeit mit der AfD werde es nicht geben – wirken nicht wirklich überzeugend und glaubwürdig. Allein das von Merz selbst im Voraus beschworene Feixen in den AfD-Gesichtern hätte bei einiger Urteilskraft ausreichen müssen, um das Spiel zu durchschauen.

Es geht hier übrigens nicht um den Inhalt der Entschließung oder des Gesetzentwurfs. Darüber ließe sich viel sagen, manches davon ist inhaltlich berechtigt, und es wären durchaus Kompromisse unter den Parteien denkbar. Es geht um das Verfahren. Es sind die Verfahren und die Formen einer fein gewebten Wechselseitigkeit, die erst einen demokratischen Streit, eine demokratische Auseinandersetzung ermöglichen. Noch gefährlicher als zu einfache Lösungen ist eine Schwächung dieser verfahrensgestützten Form der parlamentarischen Zivilisierung gesellschaftlicher Konflikte und Interessen. Wer das aufs Spiel setzt, muss am Ende über Inhalte gar nicht mehr nachdenken, weil es nur noch um dezisionistische Gesten geht. Die AfD führt exakt das semantisch und performativ vor. Wer das höchste exekutive Staatsamt anstrebt, sollte das sehen können.

Armin Nassehi lehrt Soziologie an der Universität München. Zuletzt erschien von ihm bei C. H. Beck das Buch „Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken“.

Source: faz.net