„Memento Mori“ von Depeche Mode: Du bist der Sänger, ich bin der Song

Du bist der Sänger, ich bin der Song – Seite 1
Im
Eingangsbereich unserer Rewe-Filiale am Berliner Stadtrand steht seit Wochen
ein Aufsteller. Zur Veröffentlichung des neuen Depeche-Mode-Albums Memento
Mori, so ist dort zu lesen, stehe eine gewaltige „Release-Day-&-Electropop-Party“ ins Haus. „Auf zwei Floors, einer Outdoorarea
sowie mit Video-Show und top Getränkepreisen“ könne man die britische Band im
Volkshaus Strausberg feiern. Es ist davon auszugehen, dass derlei Partys an
diesem Freitag zu Hunderten gefeiert werden, in der Provinz und überall. Das Publikum
in Deutschland liebt kaum eine andere Band so sehr wie Depeche Mode, bei keiner
anderen wäre eine derartige Kampagne in Vorstadtsupermärkten überhaupt
vorstellbar.
Um
das Phänomen zu ergründen, das Depeche Mode heute sind, muss man sich einen
Augenblick lang an den Beginn ihrer Karriere erinnern. Damals, in den frühen
Achtzigerjahren, wurden sie ganz überwiegend nicht als revolutionäre Synthpopband
wahrgenommen, sondern als Boygroup. Vor allem anderen waren Depeche Mode zunächst
eine Teenager-Attraktion, deren Namen man sich auf die Federmappe schrieb. In
den kommenden Jahrzehnten haben sie ihr Publikum überallhin mitgenommen.
Angetrieben
von ihrem damaligen Mitglied Alan Wilder verdüsterte sich der
Depeche-Mode-Sound Mitte der Achtziger analog zur damaligen Gothic-Bewegung. Als
Grunge die Welt regierte, wurden Depeche Mode eine Rockband mit Tattoos, in der
Techno-Ära galten sie als Vorreiter der elektronischen Musik, über die Jahre wuchsen
sie zu einer gigantischen, über allen Dingen thronenden Stadionband. Heute sind
die Depeche-Mode-Teenies von einst längst Dad-Popper und lesen beim Einkauf in
der Vorstadt auf Rewe-Aufstellern von Releasepartys für ihre Helden.
Diese Aufsteller erzählen allerdings auch davon, dass die Leute Depeche Mode so sehr lieben,
dass sie machen können, was sie wollen. Daran haben sie sich den überwiegenden
Teil der vergangenen 25 Jahre gehalten. Seit Ultra von 1997 ist kein nennenswertes
Depeche-Mode-Album mehr erschienen. Die Musiker, so wirkte es häufig, waren zu
sehr damit beschäftigt, das fragile Beziehungsgeflecht der beiden Alphatiere
Martin Gore und Dave Gahan auszubalancieren, die sich abseits der Bühne seit
Jahrzehnten nichts mehr zu sagen haben. Für vernünftige Songs blieb unter
diesen Voraussetzungen keine Energie übrig.
Wenn
man sich verlaufen hat, ist es oft am besten, zurück auf Start zu gehen. Das
haben Depeche Mode mit Memento Mori nun getan. Die Songs tragen Titel wie People
Are Good und Never Let Me Go und spielen somit auf Depeche-Mode-Hits
wie People Are People und Never Let Me Down Again an. Überhaupt ist es ein Album der Selbstreferenzen
geworden: In Wagging Tongue erklingt eine klar akzentuierte Synthiemelodie,
zu der Gahan beinahe so unschuldig singt wie in Everything Counts von
1983.
Es
ist zwar die beste Depeche-Mode-Musik seit langer Zeit, aber es ist auch eine
Musik, die sich ihrer Bedeutung eventuell ein bisschen zu sehr bewusst ist. Momento
Mori klingt gravitätisch, ausladend, gewaltig und bisweilen pompös, es ist
ein Album, das keine junge oder weniger erfolgreiche Band jemals hätte machen
können. Immer schon hatten die Bekenntnisse von Depeche Mode aus dem Mund von
Dave Gahan etwas auf eitle Weise Larmoyantes und gleichzeitig Selbstgefälliges.
Diese Ebene erfährt hier erneut keinerlei Brechung; der in Gores Texten
durchaus angelegte feine Humor wird über Gahans Gesang nicht transportiert, er
wäre dazu gar nicht in der Lage.
Als hätte ChatGPT einen Depeche-Mode-Song geschrieben
Fair
enough, das Album heißt immerhin Memento
Mori. Tod und Vergänglichkeit gehören bei Depeche Mode traditionell zum
Repertoire, eine tragische Dimension bekommt das Morbide diesmal allerdings vor
dem Hintergrund der realen Ereignisse. Im Mai 2022 starb überraschend der
langjährige Depeche-Mode-Keyboarder Andy Fletcher. Die Songs waren damals schon
geschrieben, die Vorproduktion abgeschlossen, Fletcher stand kurz davor, bei
der finalen Aufnahme seine Parts im Studio beizusteuern. Durch seinen Tod war die
Musik plötzlich keine theoretische Spielerei mehr, kein Kokettieren mit
Düsternis und Sterblichkeit, sondern handelte nun so konkret von diesen Dingen wie
seit 1996 nicht mehr, als Dave Gahan nach einer Überdosis für zwei Minuten
klinisch tot war.
Also
will man nun jede misanthropische Zeile, jeden unheilvoll dräuenden Loop, jeden
technoid stampfenden und schmatzenden Beat als Requiem auf Fletcher hören. Ganz
verkehrt ist das sicher nicht: Die Atmosphäre und die Temperatur eines Albums
werden im Studio gesetzt. Die Art, wie Memento Mori klingt, die
Dringlichkeit der Performance, ja allein die Tatsache, dass es dieses Album
überhaupt gibt, macht es zwangsläufig zu einer musikalischen Trauerarbeit.
Andy Fletcher war die Schweiz von Depeche Mode. Ohne ihn, das war klar, würde es die
Band entweder nicht mehr geben – oder Gahan und Gore müssten sich aufeinander
zubewegen. Sie haben sich ziemlich schnell für Letzteres entschieden: Wie man
hört, haben der schüchterne Gore und der extrovertierte Performer Gahan bei der
Produktion des Albums nur wenige Wochen nach Fletchers Tod zum ersten Mal seit
langer Zeit wieder ganz normale Gespräche miteinander geführt und sich dabei
erstaunlich gut verstanden.
Trauerarbeit in Ruhepulsgeschwindigkeit
Raum
zum Durchatmen hat auf Memento Mori auch der Hörer. Schnell fällt einem auf,
wie unglaublich viel Platz auf diesem Album ist mit seinen riesigen Flächen,
die Gahan mit der Kraft seiner Stimme einnimmt. Dazu passt die unglaublich zerdehnte
Langsamkeit vieler Songs. Die meisten Hits von Depeche Mode haben zwischen 110
und 120 Beats per minute (BPM). My Cosmos Is Mine, mit dem Memento
Mori beginnt, hat 83 BPM, also Ruhepuls. Damit ist der Ton gesetzt: Der
russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe Gore zu diesem Text inspiriert, er
beschreibt eine Abschirmungsstrategie im Angesicht einer immer schnelleren
Abfolge von existenziellen Krisen: „Don’t play with my world, don’t mess
with my mind„, singt Gahan zu gewaltigen Pauken, dem Krachen und Donnern
und Zischen und Rauschen der Bandschleifen-Loops der Produzentin Marta Salogni,
ein majestätischer Auftakt.
Die
bisweilen lähmende Verzweiflung, die aus dieser Musik spricht, ist außerdem
ziemlich klar verortbares Relikt aus der Corona-Pandemie. Die bereits bekannte
Single, Ghosts Again, klingt – hier ausdrücklich als Kompliment gemeint!
–, als habe man der künstlichen Intelligenz ChatGPT den Befehl gegeben, einen
Song in der Temperatur des Depeche-Mode-Albums Violator von 1990 zu
schreiben, die Ballade Caroline’s Monkey fällt nach einer hübschen
Strophe drastisch ab, in dem anrührend schön von Gore gesungenen, an Vangelis
erinnernde Song Soul With Me geht es einmal mehr um letzte Dinge.
Das
Ende ist tieftraurig und unendlich zerdehnt: „I will dissapoint you, I will
let you down„, singt Gahan in Speak To Me. Es klingt kathartisch,
denn genau das haben er und Gore getan: miteinander gesprochen. „You are the
singer, I am the song“ heißt es in Don’t Say You Love Me, einen der
Songs, die Gore mit Richard Butler von den Psychedelic Furs geschrieben hat,
der nun aber wie ein Dialog mit Gahan wirkt. Du bist der Sänger, ich bin der
Song: So ist es, so war es immer. Verinnerlichen konnten Gore und Gahan es
offenbar erst wieder nach dem Verlust jenes Freundes, der diese Band einst mit
Vince Clarke gegründet und die beiden dazugeholt hatte. Der Albumtitel Memento
Mori geht auf einen Vorschlag von Andy Fletcher zurück. Gore und Gahan
haben ihn beibehalten.
„Memento Mori“ von Depeche Mode erscheint am 24. März bei Columbia International (Sony Music).