Meinung: Mit seinem Gegen-Songcontest vollführt Putin irreversibel den Kulturbruch

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Mit seinem Gegen-Songcontest vollführt Putin endgültig den Kulturbruch






Auch böse Menschen haben Lieder: Was Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Songcontest Intervision bezwecken könnte.

Der Eurovision Song Contest behauptet seit jeher, ein geradezu jungfräulich unpolitischer Gesangswettstreit zu sein. Gestimmt hat das – glücklicherweise – nie. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie großartig es sich anfühlte, als nach und nach neue Teilnehmerländer mit ihren Beiträgen hinzukamen. 1990 stießen die einstigen Ostblockstaaten zur European Broadcasting Union (EBU), dem Veranstalter des Wettbewerbs, und gaben dem voranschreitenden europäischen Einigungsprozess lange vor dem Beitritt der Länder zur EU mal mehr und mal weniger wohlklingende Stimmen. 

Der ESC auf moralischem Expansionskurs

Fortan befand sich der Eurovision Song Contest auf Expansionskurs: Freilich konnte man zu Recht kritisch hinterfragen, ob Länder wie Georgien, Armenien, Aserbaidschan und sogar Australien wirklich zum Eurovision-Einzugsgebiet zählen. Gleichzeitig fühlte sich die fröhliche Naivität, mit der hier ein globaler Völkerbund des Schlagergesangs geschmiedet wurde, richtig an. Ein bisschen Frieden halt. Er sollte nicht von Dauer sein.

Mit Wladimir Putins Ankündigung eines russischen Gegen-ESC wird bloß besiegelt, was seit Jahren Realität ist. Mit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 ist das Land aus dem Kreis der ESC-Teilnehmer verbannt. Gekriselt hatte es lange zuvor. Trotz mehrerer Spitzenplatzierungen und eines Sieges im Jahr 2006 war es immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen. Etwa 2017, als die russische Kandidatin Julija Samoilowa, nachdem sie unter russischer Flagge die von Putin annektierte Krim besucht hatte, mit Einreiseverbot belegt worden war. Daraufhin hatte sich Russland 2017 freiwillig vom Wettbewerb zurückgezogen. 

Ein Schlagerwettbewerb als Hochfest der Queerness

Unausgesprochen blieb lange ein ganz anderer schwelender Konflikt: die zunehmende Dominanz queerer Lebensmodelle unter den Kandidaten, die in manchen Ländern als Propaganda und Provokation aufgefasst wurde. Dabei gehören solche geradezu zur DNA der Eurovision-Community – etwa durch LGBTQI*-Ikonen wie Abba, Vicky Leandros oder Dschingis Kahn. Mit Páll Óskar war 1997 endlich ein offen homosexueller Sänger angetreten. Es folgten flirrende Drags und Transmenschen wie 1998 Dana International für Israel, 2007 Verka Serduchka für die Ukraine und schließlich 2014 Conchita Wurst, die für Österreich den Sieg holte. 2021 waren mehr als die Hälfte der Teilnehmenden queer, im vergangenen Jahr siegte mit Nemo der erste nonbinäre Act. Die Türkei war 2013 aus Protest gegen diese Entwicklung ausgetreten.



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Nun reaktiviert Putin also den Intervision-Schlagerwettbewerb, der von 1977 bis 1980 bereits als ESC-Konkurrenz der kommunistischen Welt abgehalten worden war. Das klingt im ersten Moment lächerlich, doch angesichts der teilnehmenden Staaten muss man das Projekt ernst nehmen. Demnach sollen im September laut der russischen Nachrichtenagentur Tass an die 20 Länder Musik-Acts nach Moskau entsenden. Darunter die Brics-Staaten Brasilien, Indien, China, Südafrika, Ägypten, Äthiopien, Iran, Indonesien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Es darf als unwahrscheinlich gelten, dass in diesem Kreis Vertreter der LGBTQI*-Community antreten.

Anti-Songcontest: Der globale Süden an Putins Seite

Ausgerechnet der von linken Kreisen Europas hofierte „globale Süden“ stellt sich offensiv an die Seite des Diktators und Kriegsverbrechers, und legitimiert dessen illiberale Agenda. Es stellt den verbliebenen Rest dessen, was einmal hehr als „die westliche Welt“ idealisiert wurde, vor eine komplizierte Grundsatzfrage. War die Ausgestaltung des Eurovision Song Contest als queeres Hochamt möglicherweise doch nicht ganz so unpolitisch, wie man das verkauft hatte?

Conchita Wurst im Jahr 2014 bei einer Probe zum ESC in Kopenhagen

Conchita Wurst im Jahr 2014 bei einer Probe zum ESC in Kopenhagen

© Itar-Tass / Imago Images

Die Frage rührt an das Grundverständnis des Westens, der seinen eigenen gesellschaftlichen Wandel allzu hegemonial auf den Rest der Welt zu übertragen suchte. Ich schreibe diese Zeilen als jemand, der in Freudentränen ausgebrochen war, als Conchita Wurst mit ihrer Hymne der Toleranz obsiegte, und den dieser Rückschluss schmerzt. Aber sind wir durch die forcierte Verwandlung des Wettbewerbs in ein Regenbogenfestival möglicherweise allzu forsch über manche Länder hergefahren, die ein anderes Tempo gebraucht hätten? Haben wir ignoriert, dass sich dieses Sendungsbewusstsein für manche Gesellschaften als geradezu koloniale Dominanz angefühlt haben muss? Ich gestehe ein, dass mir selbst keine Möglichkeit einfällt, wie man es hätte besser machen sollen.

Putins Sängerwettstreit verspricht jedenfalls eine aufschlussreiche Veranstaltung zu werden. Bislang fehlte mir jegliche Fantasie, was diese höchst unterschiedlichen Länder nur im Ansatz kulturell einen könnte. Vielleicht erfahren wir es jetzt. Die Antwort könnte uns nicht gefallen.

Source: stern.de