Meinung | Landesweite Proteste gegen die Rentenreform – und Macron? Sitzt es aus

Seine Rentenreform lehnen die Franzosen ab, doch Emmanuel Macron setzt sie brachial durch. Ebnet das der Rechtsnationalistin Marine Le Pen den Weg zur Macht?

Am Abend des 7. März verlangten die Gewerkschaften eine Unterredung mit dem Präsidenten. Eben hatten sie drei Millionen Menschen in gut 200 Städten auf die Straße geführt – im Protest gegen Macrons Rentenreform. Zorn lag in der Luft. Renten sind der einzige Besitz der Besitzlosen. Die Gewerkschaften hatten ihre Basis in Paris nur mit Mühe davon abhalten können, in Richtung Elysée-Palast zu marschieren. Ein günstiger Moment, so schien es, Emmanuel Macron den Ausstieg aus der Reform nahezulegen. In einer sozialen Demokratie haben Gewerkschaften ihre eigene Legitimität. Doch so wie Macron gebaut ist, war es eine exotische Idee.

Der Präsident hat diesen Konflikt und seine Eskalation mit Bedacht inszeniert, um den Widerstand gegen einen Rückbau des Sozialsystems ein für alle Mal zu brechen. Fünfzehn dreiste Rentenlügen zählten die Gewerkschaften in Macrons Absagebrief. Er wusste, was er tat. Der Sinn seiner Botschaft hieß: Eure Meinung ist nicht gefragt. Ihr seid nicht satisfaktionsfähig. ​Im Vokabular dieses Staatschefs fehlen Begriffe wie soziale Demokratie oder Gesellschaft. Die mächtigste soziale Bewegung seit 1968 will er einfach aussitzen. Eiskalt wird ignoriert, dass drei Viertel der Bevölkerung die Rücknahme der vorgesehenen Einschnitte verlangen. Von der politischen Klasse weitgehend unbehelligt, reagiert die Galionsfigur eines monarchisch anmutenden Präsidialregimes ungerührt autoritär. Die Debatte wird verweigert, Kritik als narzisstische Kränkung quittiert. So wie er die Gewerkschaften geringschätzt, verachtet Macron offenbar auch die Nationalversammlung. Durch zu viele Tricks wird die parlamentarische Beratung über das unsinnige Rentenprojekt zur schreienden Farce. Dass dadurch die Demokratie Schaden nimmt, wird dem Präsidenten kaum den Schlaf rauben.

Fraglos verschaffen Macrons „demokratische Infamie“, so ein sozialistischer Abgeordneter, und die institutionelle Gewalt, mit der eine Reform wie diese durchgesetzt werden soll, der rechtsextremen Marine Le Pen erneut Zulauf. Das sagt der gesunde Politikverstand. Die Bestie sei in Lauerstellung, wird dieser Tage häufig kolportiert. ​Wer möchte da widersprechen? Macron will die Sequenz mit den Renten am 17. März beenden. Nicht sicher, ob ihm dies gelingt. Vielleicht bricht die Einheitsfront der Gewerkschaften auseinander, auch wenn der Mobilisierungsgrad hoch ist. So erwägen etwa die Atomstromer und die Arbeitenden der Gasindustrie, dem Land den Saft abzustellen. Und die Studenten schließen sich jetzt erst der Bewegung richtig an. Gelbe Westen beginnen damit, sich auf den Verkehrsinseln einzurichten.

Große soziale Bewegungen stellen manches an mit ihren Gesellschaften. Vor allem können sie die infrage stellen, ein politisches System gleich mit. Der französische Rentenprotest hat einen neuen politischen Raum geschaffen. Ganze Schattenberufswelten sind ans Licht getreten, erstaunliche kollektive Intelligenzen manifestieren sich. Wie sagte eine Verkäuferin des Großhändlers Monoprix: „Wir sind nicht mehr die Opfer, im Augenblick sind wir Akteure.“ Die Sache ist noch lange nicht vorbei. Eine Frage bleibt: Wie kommt es, dass alle Welt über Marine Le Pen spricht – stärkste politische Oppositionskraft ist bis auf Widerruf die links-grüne Koalition Nupes.