Meinung | Frankreich: Unter der Fuchtel einer präsidialen Autokratie

Seine Rentenreform lehnen die Franzosen ab, doch Emmanuel Macron setzt sie brachial durch. Er regiert nicht zum ersten Mal als Prädident mit Hilfe des Artikels 49.3, der das Parlament ausmanövrert und dem Staatschef exklusive Rechte verschafft.

Eine exotische Idee

Noch am Abend des 7. März hatten die Gewerkschaften eine Unterredung mit dem Präsidenten verlangt, nachdem sie noch einmal gut drei Millionen Menschen in gut 200 Städten auf die Straße führten – im Protest gegen die Rentenreform. Empörung und Zorn lagen in der Luft. Renten sind der einzige Besitz der Besitzlosen. Die Gewerkschaften hatten ihre Basis in Paris nur mit Mühe davon abhalten können, in Richtung Elysée-Palast zu marschieren. Ein günstiger Moment, so schien es, Emmanuel Macron den Ausstieg aus der Reform nahezulegen. In einer sozialen Demokratie haben Gewerkschaften ihre eigene Legitimität. Doch so wie Macron gebaut ist, war das eine exotische Idee. Er wollte triumphieren und sich um jeden Preis durchsetzen – dabei sind die Nationalversammlung, der Wille und die Souveränität des Volkes, dabei ist der Anstand auf der Strecke geblieben. Marcon hat sich am 16. März, als der V. Republik nicht würdig erwiesen.

Dreiste Rentenlügen

Der Eindruck lässt sich schwerlich bestreiten, dass der Präsident diesen Konflikt und seine Eskalation mit Bedacht inszeniert hat, um den Widerstand gegen einen Rückbau des Sozialsystems ein für alle Mal zu brechen. Fünfzehn dreiste Rentenlügen zählten die Gewerkschaften in Macrons Absagebrief. Er wusste, was er tat. Der Sinn seiner Botschaft hieß: Eure Meinung ist nicht gefragt. Ihr seid nicht satisfaktionsfähig. ​Im Vokabular dieses Staatschefs fehlen Begriffe wie soziale Demokratie oder Gesellschaft.

Aber lässt sich die mächtigste soziale Bewegung seit 1968 einfach aussitzen? Die nächsten Tage werden es zeigen. Eiskalt wurde ignoriert, dass drei Viertel der Bevölkerung die Rücknahme der vorgesehenen Einschnitte verlangt haben. Von der politischen Klasse weitgehend unbehelligt, reagierte die Galionsfigur eines monarchisch anmutenden Präsidialregimes ungerührt autoritär. Die Debatte wurde verweigert, Kritik als narzisstische Kränkung quittiert. So wie er die Gewerkschaften geringschätzt, hat Emmanuel Macron nun auch die Nationalversammlung missachtet und düpiert. Durch zu viele Tricks wurde die parlamentarische Beratung über das unsinnige Rentenprojekt zur schreienden Farce.

Fraglos verschaffen Macrons „demokratische Infamie“, so ein sozialistischer Abgeordneter, und die institutionelle Gewalt, mit der eine Reform wie diese durchgesetzt wird, der rechtsextremen Marine Le Pen und ihrer Partei erneut Zulauf. Das sagt der gesunde Politikverstand. Die Bestie sei in Lauerstellung, wird dieser Tage häufig kolportiert. ​Wer möchte da widersprechen?

Macron betrachtet will die Rentendebatte mit dem 16. März als beendet. Nicht sicher, ob ihm das wirklich gelingt. Vielleicht bricht die Einheitsfront der Gewerkschaften auseinander, auch wenn der Mobilisierungsgrad hoch ist. So erwägen etwa die Atomstromer und die Arbeitenden der Gasindustrie, dem Land den Saft abzustellen. Und die Studenten schließen sich jetzt erst der Bewegung richtig an. Gelbe Westen beginnen damit, sich auf den Verkehrsinseln einzurichten. Am Wochenende sind diverse Aktionen absehbar.

Nicht Opfer, sondern Akteure

Große soziale Bewegungen stellen manches an mit ihren Gesellschaften. Vor allem können sie diese nachdrücklich in Frage stellen und das politische System gleich mit. Der französische Rentenprotest hat einen neuen politischen Raum geschaffen. Ganze Schattenberufswelten sind ans Licht getreten, erstaunliche kollektive Intelligenzen manifestieren sich. Wie sagte eine Verkäuferin des Großhändlers Monoprix: „Wir sind nicht mehr die Opfer, im Augenblick sind wir Akteure.“ Die Sache ist noch lange nicht vorbei. Eine Frage bleibt: Wie kommt es, dass alle Welt über Marine Le Pen spricht – stärkste politische Oppositionskraft ist bis auf Widerruf die links-grüne Koalition Nupes. Sie wird das auch auf der Straße zeigen wollen.