Meinung | Bahn, Müllabfuhr, Post: Rollt da eine Streikwelle durch Deutschland?

Gefühlt wird in Deutschland derzeit so viel gestreikt wie lange nicht: eben noch bei der Post und Müllabfuhr, an den Flughäfen, demnächst wohl bei der Bahn. Tatsächlich könnte es schon am Montag zur Sache gehen: Wenn Verdi in kommunalen Verkehrsbetrieben und die Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG bei der Deutschen Bahn zeitgleich streiken, wäre das ein schöner „Doppel-Wumms“. Arbeitskämpfe sollen Druck auf Arbeitgeber ausüben, um Forderungen Beschäftigter durchzusetzen – genau darum geht es. Insofern wäre es sinnvoll und effizient, wenn EVG und Verdi mal für einen halben Tag gemeinsam die Republik entschleunigten.
Ob sie sich das trauen? Die strategisch-taktische Koordination von Arbeitskämpfen verschiedener Branchen ist bislang nicht die Königsdisziplin deutscher Gewerkschaften. Und auch wenn es derzeit anmutet, als würden sich allerorten Streikende unterschiedlichster Bereiche in eine anschwellende Bewegung einreihen, ist das Ganze doch kaum mehr als ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen mehrerer Tarifrunden. Die bei der Post ist praktisch schon wieder vorbei.
Die Art, wie sie beendet wurde, ist aufschlussreicher für das Verständnis des institutionalisierten Klassenkampfs in der Bundesrepublik als das regelmäßige Beschwören kommender Sozialproteste, Volksaufstände oder „heißer Herbste“, die sich dann doch als heiße Luft erweisen. 86 Prozent hatten sich bei der Verdi-Urabstimmung für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Prompt legte die Post ein neues Angebot vor: deutlich besser als das erste, aber meilenweit entfernt von dem, was Verdi gefordert hatte. Und schon blies Verdi die Sache ab. Anstatt die Mitglieder zunächst zu befragen, was sie davon halten, leitete die Tarifkommission sofort eine zweite Urabstimmung ein und empfahl, das Ergebnis anzunehmen. Dass die dafür nötigen 25 Prozent zusammenkommen, ist sehr wahrscheinlich. Einen schalen Nachgeschmack hinterlässt dieses zwar satzungsgemäße, aber politisch vorgestrige Top-down-Vorgehen dennoch bei vielen Mitgliedern.
Ob ein Erzwingungsstreik mehr gebracht hätte? Schwer zu sagen. Sicher ist nur, dass er für Verdi teuer geworden wäre. Beim Post-Streik 2015 zahlte die Gewerkschaft mehr als eine Million Euro Streikgeld – jeden Tag. Und der Ausstand zog sich über einen Monat hin. Jetzt, wo in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst noch alles offen ist, muss Verdi jede Arbeitskampfentscheidung gründlich abwägen. Politisch klüger tut sie das, wo Mitglieder an diesem Prozess beteiligt werden, wie es an Krankenhäusern wie Charité und Vivantes mittlerweile Standard ist. Diesen Kulturwandel haben sich die Kolleginnen und Kollegen dort erkämpft, auch gegen museumsreife Strukturen in der eigenen Organisation.
Vor- und Nachteile wirkungsvoller Streiks
Die aktuellen Arbeitsniederlegungen werden in der Öffentlichkeit viel stärker wahrgenommen als etwa die Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst. Nicht weil mehr gestreikt wird, sondern weil sie das Alltagsleben vieler Menschen direkt tangieren. Wenn ein paar Tage keine Pakete kommen, der Müll liegen bleibt oder Busse und Bahnen nicht fahren, merkt man das sofort. Für die Gewerkschaften hat das Vor- und Nachteile: Sie haben die große Bühne für ihr Thema, müssen sie aber auch bespielen können. Die Sympathie für Streiks, von denen man selbst betroffen ist, besonders im Verkehrssektor, ist fragil, der Kampf um die öffentliche Meinung kein Selbstläufer. Wer meint, es sei offen, auf welche Seite sich das Gros der Medien schlägt, sollte sich die Berichterstattung während der Lokführerstreiks 2021 und 2014 ansehen.
Schon rufen CDU-Mittelstandsvereinigung und Arbeitgeberverbände nach Einschränkungen des Streikrechts, wie alle paar Jahre wieder. Anders als in Großbritannien haben solche Fantasien in Deutschland vorerst keine Chance auf Umsetzung. Aber die politischen Konstellationen können sich ändern, wie auch die öffentliche Meinung. Nach einer Insa-Umfrage von Anfang März ist angeblich eine Mehrheit der Deutschen dafür, dass „Streiks in der kritischen Infrastruktur“ eingeschränkt oder ganz verboten werden – die Wählerschaft der Grünen übrigens vorneweg, gefolgt von der Union.
Was auch immer man von solchen Umfragen halten mag: Sie zeigen, wie schwierig es für Gewerkschaften ist, die Legitimität ihrer Anliegen im öffentlichen Diskurs zu verankern. Die Hegemonie haben andere. Eine politische Kraft, die das Momentum der Arbeitskämpfe aufgreifen und auf einen gemeinsamen Punkt bringen könnte, gibt es nicht. Die hoffnungsvollen Ansätze, die den Gründungsschwung der Linkspartei vor anderthalb Jahrzehnten ausmachten, sind verblasst wie die Partei selbst. Auch hier können sich Dinge ändern, etwas Neues kann entstehen. Aber gewiss nicht von heute auf morgen. Die spannende Frage für den Moment lautet: Haben Gewerkschaften den Mut, gemeinsam zu streiken, um den Druck zu erhöhen? Am Montag wissen wir mehr.
Jörn Boewe schrieb im Freitag zuletzt über die erfolgreichen Arbeitskämpfe der Gebäudereinigerinnen und der IG Metall