Mariupol: Putin bei Nacht

Es ist ein bizarres Dokument: Wladimir Putin besucht Mariupol. Diese von Russland besetzte Stadt, die zum Symbol der völligen Zerstörung wurde. Bombardiert, ausgelöscht. Aber in dem Film, den der Kreml dazu am Wochenende veröffentlichte, ist nichts davon zu sehen. Keine Ruinen, keine Trümmer. Alles wirkt intakt, als gäbe es Mariupol, die einstige Hafenstadt, noch.

Und als wäre das alles nicht schon filmreif genug, sieht man Putin in dem 40-minütigen Propagandastreifen auch noch mit dem Auto, er selbst am Steuer, durch die Straßen fahren, eine Kamera begleitet ihn. Man sieht, wie er einen offenbar neu gebauten Wohnkomplex besucht, wie er auf dem Spielplatz davor, wo ein Schreibtisch aufgestellt ist, Baupläne studiert und mit dankbaren Anwohnern spricht, wie er unentwegt Nähe sucht, obwohl zuletzt immer wieder kolportiert worden war, dass Putin unvorstellbare Angst vor Corona habe und auch deswegen immer an diesen überdimensionierten Tischen mit seinen Beratern saß. Der Verbrecher kommt an seinen Tatort, so beschrieb es ein Berater Selenskyjs auf Twitter.

Putin, der erst am Freitag vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde, kam nicht am helllichten Tag in die Stadt, wo er von allen hätte gesehen werden können. Wo er selbst das Ausmaß der Katastrophe hätte sehen können. Putin kam in der Nacht, er kam in der Schwärze. Er kam in der Dunkelheit, um auch noch in die letzten Nischen des Alltags einzudringen, in die privaten Wohnungen, sich auch noch in den Kapillaren des persönlichen Lebens Eintritt zu verschaffen. Warum kommt so einer, der Publikum und Tribüne gewöhnt ist, ins Private, wenn alles schläft? Wer in die Finsternis nach Mariupol kommt, der setzt die Dunkelheit als Machtinstrument ein. Nicht nur die Raketen, die Stromausfälle, die Kälte, auch der Usurpator, Putin selbst, will jetzt die Ukrainer bis in den Schlaf begleiten. Putin hat die Macht über die Nacht übernommen. Und zwar höchstpersönlich.

Völlige Zerstörung in Mariupol

Dabei geht man fehl, wenn man die Dunkelheit nur mit Furcht und Schrecken verbindet. Auch jetzt, im Krieg. In den Texten der ukrainischen Dichterin Iryna Shuvalova etwa hat die Nacht beinahe etwas Behütendes, sie ist ein Schutzraum, weil niemand anderes sie betreten kann als das schlafende, das träumende Ich selbst. Dort können keine Raketen einschlagen, keine Schüsse fallen. Fast wirkt es friedlich, das Dunkel: „mir wird leichter wenn du schläfst / denn mir scheint wenn du schläfst / kannst du nicht sterben / bist du ihr doch / im Schlaf so viel näher / dieser anderen Welt / wo niemand mehr schießt“.

Auch Selenskyj hatte sich in seiner ersten Videobotschaft nach dem russischen Überfall in der Nacht gemeldet und sich mit seinen ranghohen Beratern vor seiner Residenz in Kiew gezeigt, um Gerüchten zuvorzukommen, er werde das Land verlassen: „Wir sind in Kiew.“ Und solange „wir“ da sind, sollte das bedeuten, wird auch niemand kommen und die Ukraine besiegen. Wie eine Liturgie, ein Gebet klangen seine Worte, während langsam der Morgen über der Stadt dämmerte und der Krieg begann. Der Herrscher wacht über die Seinigen bei Tag und bei Nacht.

Aber natürlich gibt es auch die andere Seite der Nacht, die dunkle, rastlose, von der die ukrainische Essayistin Kateryna Mishchenko in ihrem Aufsatz Spiegel der Seele in der soeben erschienenen ukrainischen Stimmen-Sammlung Aus dem Nebel des Krieges (Suhrkamp) berichtet. „Ich träumte, wie ich voller Panik mit meinem Kind im Bus nach Berlin fuhr, wie ich versuchte, alle meine Zimmerpflanzen in einen Koffer zu packen“, schreibt sie über die sogenannten Tage null – die Zeit unmittelbar vor der Invasion. Es war wie ein Blick in die Zukunft. Denn kurze Zeit später entschied sie tatsächlich, so schnell wie möglich nach Berlin zu fliehen. Und weiter schreibt sie: „Jetzt suche ich nach einer Fortsetzung dieses Traums, gehe in Blumenläden oder Gartenmärkte – einfach, um eine Weile dort zu sein.“ Eine „lange Nacht des Vernichtungskrieges“ nennt Mishchenko diese schier endlose Zeit seit dem russischen Angriff.

Oder man nehme nur diesen Bericht der ukrainischen Filmemacherin Oksana Karpovych. Auch sie beschreibt das Grauen der Nacht: „Tatsächlich weiß ich immer noch nicht, wann die entfernten Explosionen in der Nacht real sind und wann ich davon träume, denn in meinen Träumen sehe ich meist Krieg, und die Menschen in meinen Träumen reden vom Krieg. In meinen Träumen gibt es viel Erde und Lehm.“ Gerade dort, wo der Mensch nur bei sich selbst zu sein scheint, im Schlaf, wird er eines Nachts von seinen Träumen heimgesucht und überfallen.

Es sind Träume vom Terror oder, schärfer gesagt: Es sind Träume des Terrors. Der Terror wird nicht nur geträumt, sondern die Träume sind ja wirklich. Sie selbst sind der Terror. Der Historiker Reinhart Koselleck hat die These vertreten, dass sich die Zukunft in Diktaturen nur noch in Traumbildern ausspricht, die von der allgegenwärtigen Gewalt künden. Und es gehört zu den Machttechniken totalitärer Systeme, an ebendiesen Träumen mitzuschreiben, indem man nicht nur die Vergangenheit umstrickt und die Gegenwart gleichschaltet, sondern auch die Zukunft versiegelt. Alles muss sich dem Terror eines totalitären Regimes unterwerfen. Nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch das private Leben, die eigenen Träume, alle Wegweiser in die Zukunft.

Auch deswegen hatte sich Putin bei seiner Stippvisite für einen Wohnkomplex entschieden. Weil es die Unversehrtheit des Privaten zeigt, die Intimität der kleinsten sozialen Einheit Familie. Weil hier der nackte, der Öffentlichkeit entkleidete Mensch lebt. Während man Putin selbst seit einem Jahr nur noch zurückgezogen in den Räumen des Kreml sah, konnte man ihn jetzt dabei erleben, wie er sich in die Wohnungen der Ukrainer schlich, ihre Küchen besichtigte, in ihr künftiges Leben blickte. Das ukrainische Verteidigungsministerium erklärte hinterher, Putin habe sich durch die dunkle Stadt wie ein „Dieb“ gestohlen. Und tatsächlich hatte es dieser Dieb bei seinem Raubzug auf eine ganz bestimmte Beute abgesehen: Putin drang ins Allerprivateste des Menschen vor, um auch noch dort zu sein, wo die russische Regierung noch nicht ist, wo kein Regime, kein Staat der Welt jemals Einfluss haben sollte. In den eigenen vier Wänden, den Schlafgemächern, die wie auch die Träume nur einem selbst gehören.

Bislang ist noch nicht geklärt, ob es sich bei der im Film gezeigten Stadt überhaupt um Mariupol handelt. Es ist gut möglich, dass das gefakt ist. Wie offenbar auch die Anwohner, die Putin umringen, gecastet sind. Es kursiert sogar der Verdacht, dass es sich bei Putin gar nicht um Putin selbst gehandelt hat, sondern um einen Doppelgänger. Aber auch das wäre noch immer ein Erfolg für das russische Regime: wenn wie im Traum die Membran zwischen Realität und Fiktion porös wird.