Margot Käßmann zu Jakob Augstein: „Trump hatte den Friedensnobelpreis zweitrangig nicht verdient“

Kürzlich konnte man in der Zeitung lesen, dass drei russische Kampfjets über Estland gesichtet wurden. Wahrscheinlich wird man sich schnell einig, dass diese dort nicht hingehören. Aber der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Hardt, schoss in seiner Kommentierung der Ereignisse dann doch übers Ziel hinaus: Auch der „Abschuss russischer Kampfjets über NATO-Gebiet“ dürfe kein Tabu mehr sein.

Die Financial Times berichtet unter Berufung auf informierte Quellen, dass die NATO tatsächlich derzeit über solch ein Szenario nachdenkt: Entlang der Grenze zu Russland könnten bewaffnete Drohnen eingesetzt und russische Flugobjekte von Piloten abgeschossen werden.

Wie konnte sich dieses kriegerische Denken so schnell wieder durchsetzen in Deutschland und Europa? Und wie kommen wir aus dem Teufelskreis der Aufrüstung wieder heraus? Darüber spricht Jakob Augstein mit einer der bekanntesten Pazifistinnen Deutschlands: Margot Käßmann.

Jakob Augstein: Liebe Frau Käßmann, das letzte Mal waren Sie vor ziemlich genau drei Jahren hier im „Freitag“-Salon. Der Krieg in der Ukraine war damals gerade mal ein halbes Jahr alt, und wir haben über den schweren Stand des Pazifismus in Deutschland geredet. Viel leichter ist es seitdem nicht geworden, sich gegen militärisch gestützte Politik auszusprechen – oder?

Margot Käßmann: Ja, lieber Herr Augstein, leichter ist es weiß Gott nicht geworden. Ich sehe mit Sorge und Befremden, wie sich die Diskussionslage verändert. Das fängt mit der Sprache an: Auf einmal wird wieder von der „Ostflanke“ gesprochen und davon, dass wir wieder mehr „Tapferkeit“ brauchen. Bundeswehr-Offiziere dürfen an die Schulen kommen, ohne dass im gleichen Atemzug eine Verpflichtung der Lehranstalten zur Friedenserziehung gefordert wird. Eben im Zug habe ich eine interessante Statistik gelesen: Besonders die über 70-Jährigen sind für die Wehrpflicht. Bei den Jüngeren sieht das etwas anders aus. Das erinnert mich an ein Zitat von Erich Maria Remarque, dem Autor von Im Westen nichts Neues. Der hat mal geschrieben: „Ich dachte immer, jeder sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind – besonders die, die nicht hingehen müssen.“ Diese Worte sind so aktuell wie eh und je.

Was glauben Sie, wie man in 30 Jahren auf die heutige Zeit zurückblicken wird?

Spannend, aber das werde ich nicht mehr erleben. Ich beobachte, dass gerade die ältere Generation, die noch von der Kriegserfahrung geprägt ist, auf Frieden pocht. Darauf, dass wir alles tun müssen, um die Kriege zu beenden. Manchmal bin ich erschrocken, wie unbefangen die jüngere Generation auf einmal über Krieg redet. Dabei ist Krieg kein Spiel! Kürzlich war ich im „Beinhaus von Douaumont“ – das ist die französische Grabstätte für die Gefallenen von Verdun. Wenn du da die Knochen der armen jungen Männer siehst, von denen man nicht einmal mehr weiß, ob sie Franzosen oder Deutsche waren, wird einem klar, wie sinnlos Krieg ist. Vor allem, wenn es sich um einen Stellungskrieg wie derzeit in der Ukraine handelt.

Eines steht fest: In der veröffentlichten Meinung sind Pazifistinnen und Pazifisten heute in einer absoluten Minderheit. Aber das ist nicht die Realität draußen im Land

Wo bleibt der Aufschrei?

Das frage ich mich auch. Aber es ist auch schwieriger geworden: Inzwischen musst du dich stetig gegen Rechts abgrenzen, wenn du auf Demos gehst. Du musst immer gleich sagen: Nein, die AfD sorgt für Unfrieden in unserem eigenen Land, deswegen ist sie nicht Teil der Friedensbewegung. Aber die Bewegung brauchen wir! Nächstes Jahr sollen amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden. Das wurde 2024 einfach so mitgeteilt, am Rande eines NATO-Gipfels. Und danach passierte: nichts. Was haben wir damals in den 80er-Jahren gegen die Stationierung solcher Waffen demonstriert! Da frage ich mich schon: Sieht die jüngere Generation das nicht? Kommt das auf TikTok oder Instagram nicht vor?

Warum haben die Jüngeren so wenig Angst?

Eine Erklärung könnte sein: Seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 ist eine ganze Generation nicht mehr mit der Frage konfrontiert gewesen: Soll ich zum Bund oder nicht? Damals wurde dieses Thema in jeder Familie diskutiert. Geht mein Sohn zur Armee? Mein Bruder? Mein Freund? Heute fällt diese Sorge weg. Dadurch wird der Krieg zu etwas rein Abstraktem, zu etwas, das man aus den Nachrichten kennt und das mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat.

Was halten Sie von dem Sprichwort: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor?

Das ist ein wahnsinnig alter Hut. Mich überzeugt die Gegenthese mehr: Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.

Wir müssen uns jetzt nicht die Schlagworte um die Ohren hauen. Worum es mir geht: Das sind zwei Positionen, die sich diametral gegenüberstehen in unserer Debattenkultur. Und obwohl man nicht weiß, welche der beiden Haltungen sich historisch als richtig erweisen wird, wird eine Seite andauernd beschimpft. War das immer schon so, dass Pazifisten dermaßen unter Druck waren? Oder ist das ein neueres Ergebnis unserer Zeit?

Ich bin knapp zehn Jahre älter als Sie, lieber Herr Augstein. Aber Sie erinnern sich bestimmt auch noch daran, wie man Pazifisten in den 80er-Jahren beschimpft hat: als „Weicheier“, „Kriegsdienstverweigerer“ und „Vaterlandsverräter“. Einfach war es also schon damals nicht. Andererseits gab es große Friedensdemonstrationen wie im Bonner Hofgarten. Eines steht fest: In der veröffentlichten Meinung sind Pazifistinnen und Pazifisten heute in einer absoluten Minderheit. Aber das ist nicht die Realität draußen im Land. Bei Veranstaltungen, selbst bei Gottesdiensten, erlebe ich, dass mich Menschen ansprechen und sagen: Ich habe da ganz große Befürchtungen, kann ich mich irgendwo engagieren? Gleichzeitig werden alle sofort als „Lumpenpazifisten“ niedergemacht, die sich friedenspolitisch engagieren. Dann bist du schnell die „Putin-Versteherin“. Dabei hat Erich Vad, der Ex-Brigadegeneral von Angela Merkel, gesagt: „Putin-Versteher“ ist gar kein Schimpfwort! Schließlich gehöre es zu einer klugen Militärstrategie, den Feind zu verstehen. Nur so bekäme man eine Idee davon, was ihn motiviert und wie er vorgehen will. Deshalb ist für mich „Putin-Versteherin“ auch gar keine Beleidigung mehr.

Ich finde es von den Parteien der Mitte absolut kurzsichtig, 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung, die mit der Militarisierung hadern, einfach zu ignorieren

Ich habe kürzlich eine Überschrift auf „Spiegel Online“ gelesen, da stand: „Die einzige Sprache, die Russland versteht, ist die Sprache der Gewalt.“ Das war ein Zitat aus einem Interview mit dem polnischen Schriftsteller Szczepan Twardoch. Der „Spiegel“-Interviewer hatte an der entsprechenden Stelle gar nicht widersprochen oder kritisch nachgefragt. Er hat einfach gesagt: Alles klar, danke für das Gespräch. Da sieht man, wie den Leuten die kriegerische Sprache so untergejubelt wird. Ich finde das gespenstisch.

Ich auch. Aber Sie sind doch der Journalist von uns beiden! Ich weiß natürlich, dass der Freitag in dieser Frage eine andere Perspektive hat. In vielen Leitmedien steht der Begriff Friedensbewegung aber mittlerweile in Anführungsstrichen. Gleichzeitig werden angebliche Wahrheiten unhinterfragt in den Raum gestellt: Russland wird die NATO 2029 angreifen; das war jetzt „der letzte Sommer im Frieden“. Ich frage mich dann immer: Woher wissen das die Carlo Masalas und Sönke Neitzels dieser Republik so genau? Wenn man die Artikel, in denen solche Thesen verbreitet werden, zu Ende liest, merkt man: Nirgendwo ist ein Papier aufgetaucht, das beweist, dass uns Russland wirklich angreifen will. Das wird alles einfach nur behauptet. Ich finde das für seriöse Zeitungen extrem befremdlich.

Wieso sind die Grünen mittlerweile außenpolitisch so auf Kurs?

Diesem Umstand gilt meine größte Verwunderung. Ich war mit der verstorbenen Grünen-Politikerin Antje Vollmer gut befreundet, sie konnte sich das auch nicht erklären. Ich gebe zu: Auch ich habe ’89 zu den Naiven gehört, die geglaubt haben, jetzt kommt eine gute Welt, eine Welt des Friedens. Endlich würden die ganzen Gelder, die in den Kalten Krieg geflossen sind, in die Förderung von globaler Gerechtigkeit gehen. Das war wirklich naiv, denn heute erleben wir das Gegenteil. Ich habe das extra für unser Gespräch noch einmal nachgeguckt: Die Aktie von Rheinmetall ist seit Beginn des Ukrainekrieges um zweitausend Prozent gestiegen. Das heißt: Wenn Sie damals 1.000 Euro investiert haben, haben Sie jetzt 20.000. Das muss man sich mal vorstellen! Mir wird da richtig schlecht.

Der einzige Widerstand gegen die Kriegspolitik kommt vom linken und vom rechten Rand. Warum ist das so?

Ja, das werfe ich den Parteien der Mitte auch vor, sie müssten dem Friedensthema Raum geben! Deswegen habe ich das Friedensmanifest der Altvorderen der SPD auch so begrüßt. Als Kirchenfrau habe ich da eigentlich gar nicht mitzureden, weiß ich. Aber mir sind nun einmal friedensfähige Alte lieber als junge Heißsporne.

Besonders gut bekommen ist es Ralf Stegner und Rolf Mützenich nicht, sich für Frieden mit Russland einzusetzen …

Matthias Platzeck können Sie in dem Kontext auch noch nennen. Ich bin kein SPD-Mitglied, aber ich finde es von den Parteien der Mitte insgesamt absolut kurzsichtig, 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung, die mit der Militarisierung hadern, einfach zu ignorieren. Warum müssen wir wie die Amerikaner jetzt jedes Jahr auch noch einen „Veteranentag“ feiern? Warum haben wir nicht stattdessen einen Tag, an dem wir die Polizistinnen und Polizisten würdigen? Die Lehrerinnen und Lehrer? Die Erzieherinnen und Erzieher? Warum müssen wir ausgerechnet Soldaten würdigen? Das wirkt befremdlich auf viele, auch auf mich.

Wenn aus den Parteien der Mitte abweichende Stimmen kommen, dann werden sie sofort diszipliniert mit dem Argument: Du spielst Putin in die Karten. Das ist ein klassisches Muster in Vorkriegszeiten, dass abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht werden mit dem Argument, dem Gegner zu nützen. Warum haben wir aus der Geschichte nicht gelernt, dass es vorteilhaft ist, andere Meinungen auszuhalten?

Da fällt mir ein Satz von Ingeborg Bachmann ein: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ Das ist sehr weise. Ich denke auch, wenn wir die Geschichte anschauen, gerade die deutsche, dann müssten wir uns davor hüten, überhaupt so eine Art Vorkriegsstimmung zuzulassen. Wir haben schon im Ersten Weltkrieg erlebt, wie Feindbilder massiv produziert werden: „Jeder Stoß ein Franzos“, hieß es damals. Wir müssen uns dringend davor verwahren, heute die Russen dermaßen zu Feinden zu erklären, wie es derzeit getan wird.

Diplomatie erfordert auch eine gewisse Zähigkeit. Lasst uns doch sämtliche Regierungen Westeuropas nach Moskau zum Verhandeln schicken und hoffen, dass etwas dabei herauskommt!

Was sollen die Ukrainer denn tun, Ihrer Meinung nach?

Ich kann nicht sagen, was die Ukrainer tun sollen. Als Deutsche sage ich: Die Lehre aus unserer Geschichte sollte sein, dass wir alles tun, um zu deeskalieren. Wir sollten gar nicht zulassen, dass überhaupt darüber diskutiert wird, ob die NATO irgendwelche russischen Flugzeuge abschießt. Stattdessen sollten wir uns fragen, welche Gesprächskanäle eröffnet werden müssen. Ich traue Trump nicht zu, dass er Frieden stiftet, aber anscheinend hat er im Gegensatz zu den Europäern immerhin Kommunikationskanäle nach Russland.

Der Friedensnobelpreis geht 2025 an die venezolanische Oppositionelle María Corina Machado. Wie finden Sie das?

Großartig! Eine mutige Frau aus Venezuela, die sich seit vielen Jahren für gewaltfreien Widerstand gegen Macht und Diktatur und für Freiheit und Menschenrechte einsetzt! Ich freue mich, dass das Komitee damit ein Zeichen setzt – auch gegenüber den Preisfantasien eines selbstverliebten Machtmenschen.

Sie spielen darauf an, dass Donald Trump den Friedensnobelpreis mehrfach für sich eingefordert hatte …

Ein Mann wie Donald Trump, der die Meinungsfreiheit zerstört, Migranten brutal abschieben lässt und erklärt, dass er seine Gegner hasst, hätte ihn wahrhaftig nicht verdient.

Joachim Gauck sagt: „Pazifismus ist ehrenvoll, führt aber nicht zum Guten. Er zementiert nur die Dominanz der Bösen, der Unmenschlichen und der Verbrecher.“ Wie finden Sie das, wenn einer Ihrer protestantischen Glaubensbrüder so redet?

Herr Gauck und ich sind beide evangelische Pastoren beziehungsweise Pastorinnen, aber Sie können sich vorstellen, dass wir da durchaus divergierende Vorstellungen haben. Zum Glück dürfen wir in unserer Kirche unterschiedlicher Meinung sein. Der Umgang mit Gewalt war im Protestantismus immer eine Auseinandersetzung wert. Martin Luther war gewiss kein pazifistischer Held. Aber man kann von ihm lernen. Einmal hat der Söldnerführer Assa von Cram ihn gefragt: Kann ein Soldat christlichen Standes sein? Da finde ich Luthers Antwort ganz klug: Das könne er sehr wohl, aber er müsse vorher sein Gewissen befragen. Auf die heutige Situation übertragen würde ich sagen: Wenn unser Staat die Gewissen derer befragt, die den Kriegsdienst verweigern, müsste er auch die Gewissen derer befragen, die den Kriegsdienst leisten wollen.

Was machen Sie denn mit Ihrer pazifistischen Haltung, wenn Putin nicht verhandeln will, sondern trotz allem weiter bombardiert?

Ihr Kollege Heribert Prantl hat das mal wunderbar ausgedrückt: Verhandlungen müssen auch herbeiverhandelt werden. Wir dürfen doch nicht einfach sagen: Wir lassen das jetzt, Putin bombt halt weiter, wir haben keine Gesprächskontakte, also bomben wir zurück. Diplomatie erfordert auch eine gewisse Zähigkeit. Lasst uns doch sämtliche Regierungen Westeuropas nach Moskau zum Verhandeln schicken und hoffen, dass etwas dabei herauskommt! Stattdessen lese ich mittlerweile in der kleinsten Provinzzeitung: Mit Putin kann man nicht verhandeln. Woher weiß das jeder einzelne Lokaljournalist so genau? Mit der Hamas wird verhandelt, sogar mit den Taliban. Ganz ehrlich, das ist mir nicht kreativ genug.