Marcel Ophüls: Geschichte wird von Menschen gemacht
Am Beginn der Arbeit an seinem ersten großen Dokumentarfilm, Das Haus nebenan (1971) stellte sich Marcel Ophüls, der Sohn des großen ironischen Kino-Melancholikers Max Ophüls, eine einfache Frage. „Warum verhalten sich unter Druck so wenige Menschen anständig?“ Eine Frage, die nicht abschließend zu beantworten ist, natürlich, aber der man sich in den verschiedensten Facetten und Perspektiven nähern kann. Welche moralischen Instanzen und Regeln gelten „unter Druck“ noch für wen? Und wie wird Erinnerung daran geformt? Als Abwehr, als Täuschung, als Verblendung. Und wie kann man hinter diese Erinnerungslügen schauen, die kollektiven wie die individuellen?
Marcel Ophüls hat in seinen Filmen immer Menschen sprechen lassen, hat sie zum Sprechen gebracht, das war vielleicht seine größte Kunst, aber er hat auch mit visuellen Verweisen, mit ästhetischen Konnotationen gearbeitet, mehr vielleicht, als es Puristen des dokumentarischen Films recht ist. Nein, objektiv war Ophüls nie, aber immer ehrlich. Ehrlich genug, um seine persönliche Position, um den Gestus des Suchens und Bedenkens in seiner Arbeit mit zu zeigen. Einmal hat er ganz offen bekundet, dass ihn beim Filmemachen die Form noch mehr interessiere als der Inhalt. Aber das heißt nur: dass ihn nicht nur die Wahrheit, sondern vor allem auch der Weg zu ihr interessierte. Und die Umwege und Irrwege gleich mit.
Wann, wenn nicht jetzt, wären sie von brennender Aktualität, die Dokumentationen, die Marcel Ophüls über die Protagonisten der NS-Zeit, die Täter hier, die Mitläufer dort, die Kollaborateure, die Verdränger und Verleugner, die Beurteiler und die Opfer, gedreht hat, und die vielen die Augen geöffnet haben, sowohl was die „Banalität des Bösen“ als auch das Verschweigen und Beharren anbelangt? The Memory of Justice (1976) ist nicht nur der Titel des mittleren Films in Ophüls‘ Trilogie des Erinnerns, zu der auch Das Haus nebenan und Hotel Terminus (1988) gehören. Es ist auch ein Motto zu seinem Werk. Ophüls‘ Filme helfen dabei, Unterschiede und Entwicklungen zu erkennen. Aber sie nehmen uns die Arbeit der eigenen Bewertung nicht ab.
Schuld, Geist, Moral
Wenn man in seinen Filmen den Tätern begegnet, die nichts gelernt haben und nichts bereuen, muss man gelegentlich an böse Komödien denken, an die menschlichen Enttarnungen der Diktatoren und ihrer Vasallen von Charlie Chaplin oder Ernst Lubitsch. Aber genau diese menschliche Nähe, diese angedeutete Tendenz zur Nachsicht, dieses durch und durch Konkrete in seinen Filmen, machen das Grauen umso schrecklicher. Was hilft noch, wenn Massenmörder so normal sind, was hilft, wenn die Memory of Justice so kurz und so unverbindlich ist? Marcel Ophüls hat seine Filme als philosophische Essays verstanden, mit offenem Ausgang, mit unbeantworteten Fragen nach Schuld, Geist und Moral.
Seine Familiengeschichte und sein Werdegang prädestinierten ihn für zwei mögliche Arbeitsfelder: Als ehemaliger Regieassistent von John Huston, Anatole Litvak und seinem Vater, als freundlich von François Truffaut unterstützter junger Filmemacher hätte er wohl das Zeug gehabt, das Werk von Max Ophüls fortzusetzen. Reinste Filmpoesie mit einem subtilen Sinn für Humor. Aber als einer, dem der Schrecken des Nationalsozialismus in die Kindheit schien, der nach Frankreich und dann in die USA fliehen musste und als Soldat im Weltkrieg diente, blieb für ihn die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Spurensuche nach den Verbrechen unausweichlich, zumal in einem Europa, das allzu rasch zur Tagesordnung übergegangen war.
Marcel Ophüls‘ Filme seit Hundert Jahre ohne Krieg (1967), der filmischen Revision des Münchner Abkommens zur „Abtretung“ der Sudetengebiete an Hitlerdeutschland in Interviews mit den Überlebenden, zeichnen sich durch den Gestus des unermüdlichen Fragens aus. Es geht nicht nur am das Was, sondern auch darum, wer dahintersteckt. Zwei große Thesen steckten in allen Filmen des Autors: Die Arbeit der Erinnerung ist unabgeschlossen und unabschließbar, und Geschichte wird von Menschen gemacht. Das Wort ist ein wenig vernutzt, und dennoch passt es so genau auf die Dokumentarfilme von Ophüls: Sie sind Entlarvungen.
Drei Dinge waren es, die Marcel Ophüls, wie er selbst sagte, als Filmemacher prägten. Das Vorbild des Vaters, der „große Bruder“ François Truffaut (der weder Bruder noch älter war) und die Erfahrung der Dreharbeiten von Das Haus nebenan, dem Film über Kollaboration und Widerstand in der Stadt Clermont-Ferrand, den man ihm in Frankreich lange nicht verziehen hat. Da entwickelte Ophüls seine dokumentarische Methode der langen Gespräche mit Zeugen und Protagonisten, dieses geduldige Redenlassen, das genaue Zuhören bei menschlichen Offenbarungen ebenso wie bei Selbststilisierungen und platten Lügen. So entsteht ein „pluralistisches“ Bild, wie es Ophüls selbst nannte, ein mehrstimmiges Erzählen und Fantasieren, das durch eine geschickte Montage miteinander verbunden und voneinander abgesetzt und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Dokumente an einem zentralen Ort zusammengeführt wird.
An diesem Ort erleben wir einen Ladenbesitzer, der in der Zeitung eine Anzeige veröffentlicht, die seine Kundschaft davon überzeugen soll, er sei kein Jude. Wir erleben außerdem die Stars des französischen Kinos, die sich moralisch verbiegen unter der Aussicht, eine Rolle in deutschen Filmen zu bekommen. Schließlich einen homosexuellen britischen Agenten, der freimütig von seiner Liebesgeschichte mit einem deutschen Offizier erzählt. Aber es gibt auch die Helden des Widerstands und ihren skeptischen Blick auf ihre Zeitgenossen: Vor unseren Augen löst sich Geschichte in Geschichten auf, eine jede voller metaphorischer Energie, eine jede wäre ausreichend für einen dramatischen oder satirischen Spielfilm. Viereinhalb Stunden, die freilich wie in einer Spielfilmdramaturgie Spannung und Anteilnahme erzeugen, und zeigen, wie nahe sich die Biografien von Kollaborateuren und Widerstandskämpfern gelegentlich sind.