Maler Johannes Grützke: Der Mensch in seiner Prächtigkeit
Über einen Ausstellungstitel wie „Der Menschenmaler“ stolpert man heutzutage. Zwar existierten früher auch spezialisierte Tiermaler, Stillleben- oder Genremaler. Aber Johannes Grützke, der damit nun in der Kunsthalle Aschaffenburg angekündigt wird, entstammt dem 20. Jahrhundert und ist 2017 gestorben – was sollte er anderes gemalt haben als Menschen?
Und doch war es in den Sechziger- und Siebzigerjahren alles andere als selbstverständlich, Menschen so zu malen, wie sie nun einmal sind, für Grützkes Geschmack am besten nackt. Sein lapidarer Satz „Kunst ist nicht modern, sondern immer!“ verrät viel von dem für die damalige Zeit erstaunlich konservativen Beharren auf satter rubenesker Malerei mopsig-rosiger Modelle bei einem, der sich wie die meisten anderen Künstler der Zeit ebenfalls als Revoluzzer verstand.
Gegen die Abstraktion setzt er seine Schule der Pracht
Anders als Baselitz aber lässt Grützke seine Menschen nicht kopfstehen und zerquält ihre Leiber nicht, wenngleich seine Figuren oft ebenfalls in die Tiefe stürzen, doch eher in der Art des niederländischen Manieristen Hendrick Goltzius wie in „Misch du Dich nicht auch noch ein“ von 1972. Ebenso faszinieren ihn Oskar Kokoschka (bei dem er 1962 die Sommerakademie belegte) und Francis Bacons Verwischungen ganzer Körperpartien als Ausweis von Verstörung, was er seiner Malerei anverwandelt. Gegen die totale Abstraktion setzt er seit 1973 die von ihm mitgegründete „Schule der neuen Prächtigkeit“, das teils schmerzlich Verzerrte und gequält Lächelnde aufgrund diffuser Verstörtheit behält er sich jedoch für seine Kunst vor.

Wenn der Mensch bei Grützke im Mittelpunkt steht, so eher als Panoptikum menschlicher Verhaltens- und Versagensweisen und teils absurder Rollenspiele in Gesellschaft, Gemeinschaft – und Ehe. Am effektivsten für Inspektionen seiner Maskeraden entblättert man ihn und entkleidet ihn seiner etwaigen Ämter. Entsprechend wimmelt es in der Kunsthalle nur so vor nackter, wie bei Grützkes absolutem Fleischereimeistervorbild Rubens in allen Regenbogenfarben schimmernder Haut. Doch auch angezogene Menschen kommen vor, fast immer uniform in schwarze Hosen und weiße Hemden gekleidet wie Stephan Balkenhols Skulpturen. Und genauso wie Grützke sich in barocker Manier in zahlreichen Selbstbildnissen wie auch als Sohn eines Berliner Spiegelfabrikanten wiederholt kritisch bespiegelte, können die Besucher in der der Aschaffenburger Jesuitenkirche von 1621 eingeflanschten Kunsthalle sich nun in einem realen Spiegelkabinett auf ihre Rolle in der Welt hin inspizieren.

Wo könnte man dies anschaulicher tun als in Grützkes „Zug der Volksvertreter“ für die Frankfurter Paulskirche, bis heute einer der erstaunlichsten Kunstaufträge des Deutschen Bundestags, auf dem die Parlamentarier von 1848 mit gesenkten Köpfen und karikaturhaft verzerrten Gesichtern teils desorientiert und resigniert wirken, teils an Schweinekoben, schafscherenden Bauern und Totenbahren vorbeidefilieren. Keinesfalls aber sollte man den endlosen Rotunden-Zug der Paulskirche als Diskreditierung der Demokratie missverstehen. Im Gegenteil zeigt der Künstler sie als Angelegenheit aller („res publica“), mithin Kluger und Dummer, Attraktiver wie Hässlicher, die immer wieder mühselig neu erarbeitet werden muss und deshalb ebenfalls keinen Anfang und kein Ende kennt. Die expressiv-eindrücklichen schwarz-weißen Linolschnitte zum Fries finden sich in „Bürger, Blicke, Barrikaden“ zu Grützkes Gesellschaftskritik und Satire, einem von vier thematischen Ausstellungsbereichen, die je zentrale Aspekte seines Schaffens beleuchten.

Ein anderes, für das Eigenverständnis des Künstlers maßgebliches Kapitel heißt „Der Ernst des Komischen“, was bei „Glück zu Dritt“ von 1969 unmittelbar einleuchtet, denn die darauf zu sehende Ménage-à-trois wirkt keinesfalls glücklich. Auch auf dem Kettenbild „Darstellung der Freiheit“ (1972) überwindet ein Trio aus einer Nackten und zwei schwarz-weiß uniformierten Grützke-Alter-Egos einen Bretterzaun, wobei der Frau beim Übersteigen Lippenstift und andere Accessoires von Bürgerlichkeit, allerdings auch die Antibabypille, aus der Handtasche purzeln. Ob der Maler hier schon früh kritisch ankündigt, die neu gewonnene nudistische Libertät freier Liebe sei nur zum Preis des Verlusts an Zivilität zu haben?
Die Fülle von Grützkes „komischen Historienbildern“ legt nahe, dass er sich im Kapitel „Zwischen Göttern und Groteske: Mythos, Religion und Historie“ am treffendsten aufgehoben gefühlt hätte. Etwa mit der skurrilen „Himmelfahrt“ einer Splitternackten aus dem Jahr 1981, die von kahlen und rothäutigen Pygmäen nach oben gestemmt wird, oder dem Hochformat „Die Gesundheit“ von 1991, in dem Grützke furios die von ihm verehrte naturalistische Malerei des neunzehnten Jahrhunderts aufs Korn nimmt, wenn er eine Nackte einen symbolschwangeren „Jahrhundertschritt“ über ein Wildwasser in idyllischer Bergwelt vollführen lässt.

Auf „Die Erziehung Alexanders“ von 1978 wirkt der übergroße Antik-Jungheros in seiner weißen Tunika mit pathetisch quer durch das Bild aufgespannten Armen beinahe wie eine tragikomische Figur aus dem fast zeitgleichen Film „Life of Brian“ des anarchischen Kollektivs Monty Python. Tragikomisch schon deshalb, weil der Welteneroberer nicht den klugen Worten seines Erziehers Aristoteles lauscht, vielmehr weltentrückt in einer Erdgrube mit drei zu seinen Füßen herumlungernden Musen steht. Die zupfen an seinem Gewand und flechten alberne Hippie-Glücksbändchen, was der Schelm Grützke durch die Dreizahl mit den Schicksalsgöttinnen Moiren vermengt, die des künftigen Feldherren Lebensfaden spinnen, der wie ein böses Omen bereits als zerrissenes Garn in seiner Hand baumelt.
Grützkes ebenfalls in diesem vierten, metaphysischen Abschnitt hängendes Hochformat „Himmel und Hölle“ von 1980 fasst alle Aspekte der Aschaffenburger Ausstellung plastisch zusammen: In der italienischen Renaissance-Bildtradition der sogenannten Engels-Pietà ragt der nackte Leib des Malers wie sonst der Heiland selbst aus einem Grab in der Bildmitte auf. Flankiert und pompös als Heilskörperversprechen der Auferstehung immer von Beistehenden präsentiert (daher die Analogie zu einer Pietà) wird er von zwei „Engeln“, die allerdings flügellos bleiben und eher eine Travestie zu vollführen scheinen – der rechte „Engel“ im Negligé hat rot geschminkte Lippen und scheint sich körpersprachlich abzuwenden, vor allem aber liegen auf der Fläche vor dem Beklagenswerten in der Mitte anstelle der Arma Christi als sonst vorgezeigte Marterwerkzeuge Christi Hobel, Feger und Schaufel, aber auch ein roter Damenabsatzschuh. Der linke Flügelmann ohne Flügel spannt über dem Mittleren einen dünnen roten Faden im Zickzack, der jeden Moment zu reißen droht.
Da blutrot eingefärbtes Garn seit Alters her für den Lebensfaden steht, der jederzeit abreißen oder von Höheren Mächten gewaltsam durchschnitten werden kann, schwebt der Beklagenswerte in der Mitte tatsächlich zwischen „Himmel und Hölle“, wie der Titel suggeriert. Ein dritter Beistehender blickt skeptisch von links hinten aufs groteske Geschehen und wendet sich ab. Mehr Ironie, Könnerschaft und gleichzeitig Wissen um die lange Geschichte der menschlichen Makelmalerei ist in einem Bild des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unterzubekommen.
Johannes Grützke. Der Menschenmaler. Kunsthalle Aschaffenburg, bis zum 22. Februar 2026. Der Katalog kostet 16,95 Euro.
Source: faz.net