Machtergreifung | Die Mieter*innenbewegung 1932 und ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten

Die proletarische Berliner Mieter*innenbewegung des Jahres 1932 und ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten

In diesem Jahr jährte sich die Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zum 90. Mal. Ich habe dieses Datum zum Anlass genommen, mich mit der proletarischen Berliner Mieter*innenbewegung ab Mitte 1932, ihrer Zerschlagung durch die Nazis sowie mit der darauffolgenden völkischen Wohnungspolitik zu beschäftigen.

Ziel ist es zum einen, die Geschichte dieser Bewegung bekannter zu machen. Beteiligte schätzten die Zahl der Menschen, die an der Jahreswende 1932/33 mehr oder weniger aktiv beteiligt waren, auf etwa 100.000. Die Bewegung war maßgeblich von Frauen getragen, viele Quellen nennen als Aktive überwiegend Frauen. Daher gehe ich auch der Frage nach, welchen Einfluss das herrschende Geschlechterverhältnis auf die Dynamik der Bewegung hatte.

Und dann: Was bedeutete die Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30.Januar 1933 für die proletarische Mieter*innenbewegung? Welche Folgen es für die Aktiven? Und wie war die soziale Lage der proletarischen Mieter*innen im Nationalsozialismus?

Oft wird – mehr oder weniger absichtsvoll – unterstellt, die Nazis hätten die von ihnen bisweilen formulierten sozialen Versprechen auch umgesetzt und die Wohnungsnot abgeschafft. Heute müssen wir den neuen Nazis entgegentreten. Dafür ist es wichtig, diesem Bild die historische Realität entgegenzusetzen.

Noch eine Anmerkung vorweg: Dies ist mein dritter Text zu dem Thema. Die ersten beiden sind nur als Twitter-Threads erschienen. Der vorliegende Text ist nun wesentlich ausführlicher, er ist aber immer noch als Zwischenergebnis, zu sehen. Er hat drei Schwerpunkte: Erstens, welche Wechselwirkungen gab es zwischen herrschendem Geschlechterverhältniss und proletarischer Mieter*innenbewegung? Zweitens beschreibe ich einen Mietstreik in einem Friedrichshainer Haus detaillierter und drittens befasse ich mich ausführlicher mit der weiteren Entwicklung im Nationalsozialismus. In dem demnächst erscheinenden vierten Text wird es eine Gesamtschau aller Aktivitäten der Mieter*innenbewegung zwischen Mitte 1932 und Anfang 1933 geben.

Wie immer freue ich mich über Feedback!

Mitte 1932: soziale Not und Aufbruch der Bewegung

Im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1929 war die Arbeitslosigkeit stark angestiegen. Armut breitete sich aus, viele Menschen verloren auch ihre Wohnungen. Reichsweit wurde die Zahl der Wohnungslosen auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise sehr grob auf mehrere 100.000 Menschen geschätzt. Im Juni 1932 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg, der preußischem Adel entstammende Chef der Obersten Heeresleitung des Ersten Weltkriegs, Franz von Papen zum Reichskanzler. Der Parteilose regierte im wesentlichen mit Hilfe von Notverordnungen, also immer im Einverständnis mit Hindenburg, aber weitgehend ohne das Parlament. Löhne, Renten, Erwerbslosen- und Wohlfahrtsunterstützung wurden gekürzt, die Erwerbslosenunterstützung für verheiratete Frauen gestrichen. Die Schutzwirkungen des Mietrechts, wie es nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war, wurden immer weiter zurückgenommen. Dort war u.a. ein „Ersatzraumvorbehalt“ festgeschrieben worden, dass heißt, dass Kündigungen davon abhängig waren, dass der Vermieter einen angemessenen Ersatzwohnraum stellte. Diese Regelung hatte bis Mitte 1932 ihre Wirkung fast vollständig verloren. Die Not des Proletariats nahm dadurch noch weiter zu, die Zahl der Räumungsklagen stieg ins Unermessliche. Im August 1932 berichtete der Landkreistag von zunehmenden Schwierigkeiten bei der Unterbringung Obdachloser und ihres Hausrats infolge dieser Entwicklung.

Das verarmte Proletariat drängte sich zunehmend in den kleinen Altbauwohnungen der Hinterhäuser und Seitenflügel der Berliner Mietskasernen zusammen. Hunger und Krankheiten breiteten sich immer weiter aus. Viele Menschen zogen auch in die Lauben der Kleingärten oder auf Zeltplätze, während große Vorderhauswohnungen und vor allem Neubauten, also die Siedlungsbauten der Weimarer Zeit, zum Teil leer standen, weil sie nicht bezahlbar waren.

Zum Zündfunken für den Widerstand der Mieter*innen wurde in dieser Situation eine weitere sprunghafte Mieterhöhung für Erwerbslose und Wohlfahrtsempfänger*innen durch die Streichung des Hauszinssteuererlasses.

Dazu eine kurze Erläuterung: Die Hauszinssteuer bezahlten Mieter*innen in den Altbauten mit der Miete, sie machte etwa 30% bis 50% der Altbaumieten aus und wurde vom Vermieter direkt an den Staat weitergeleitet. Sie war dazu gedacht, den Neubau von Siedlungen zu fördern. Das heißt, man versuchte, das Fördergeld für den Wohnungsneubau weit überwiegend von denselben Menschen zu holen, deren Wohnraumversorgung man fördern wollte. Die Armen sollten die Verbesserung ihrer Lage selbst bezahlen. Dass das nicht gehen konnte, war abzusehen. Die Regierung wählte dann einen Kompromiss, indem sie zumindest Erwerbslosen und Wohlfahrtsempfängern die Hauszinssteuer erließ. Ihre Mietbelastungen wurden dadurch etwas erträglicher. Dieser Hauszinssteuererlass für die Armen wurde nun im Zuge der Sparmaßnahmen Mitte 1932 gestrichen.

Die Bewegung nimmt Fahrt auf

Die Lage der proletarischen Mieter*innen wurde unerträglich. In vielen Häusern wählten die Bewohner*innen Mieter*innenräte und forderten die Mietsenkungen, Streichung von Mietschulden, Rücknahme von Exmissionsklagen und vor allem auch Instandsetzung, Renovierung und Verbesserung der sanitären Einrichtungen und hygienischen Verhältnisse. Bei Nichterfüllung drohten sie mit Mietstreik.

Eine weitere Aktionsform war die Verhinderung von Exmissionen. Mieter*innen und Arbeitslose des Wohngebiets sammelten sich zu Gruppen, teils spontan, teils auch organisiert, und verhinderten Exmissionen durch Blockaden und Verhandlungen. War eine Exmission bereits erfolgt, versuchten sie die Möbel wieder in die Wohnung zu bringen und den Mieter*innen wieder Zugang zu verschaffen. Je erfolgreicher die Aktivist*innen bei der Verhinderung von Exmissionen wurden, umso wirkungsvoller wurden folglich die Mietstreiks, denn den Vermietern war damit ihr wirksamstes Gegenmittel genommen, die Streikenden einfach auf die Straße zu setzen.

Am 16. Oktober schreibt die Rote Fahne, die Tageszeitung der KPD: „Jeden Tag schließen sich neue Häuser dem Kampf gegen die hohen Mieten an. In den Amtsgerichten herrscht Hochbetrieb. Eine Räumungsklage jagt die andere. Aber dieser Hochbetrieb wird bei weitem von dem übertroffen, der auf der Straße herrscht, wenn ein erwerbsloser Prolet exmittiert werden soll. In der zweiten Septemberhälfte wurden in Berlin nicht weniger als 300 Exmittierungen infolge des Protests der werktätigen Bewohner zurückgenommen.

Die Bewegung organisierte sich auch über das einzelne Haus hinaus im Wohngebiet, im Stadtbezirk und auch Berlinweite Delegiertenkongresse mit Hunderten, manchmal über Tausend Teilnehmer*innen fanden statt. Diese größeren Versammlungen wurden meist von der KPD organisiert. Die Bewegung dürfte durch sie sehr gestärkt worden sein, boten sie doch die Möglichkeit, sich des Zusammenhalts und der Solidarität der proletarischen Mieter*innen der gesamten Stadt zu versichern Auch boten die Delegiertenkongresse die Möglichkeit des Austauschs mit anderen Häusern über Aktionsformen, Verhalten der Vermieter und rechtliche Zusammenhänge. Einheitlichkeit in Forderungen und konkretem Vorgehen ergab sich daraus jedoch nicht. Die Quellen zeigen, dass in den einzelnen Häusern weitgehend das geschah, was die jeweilige Hausversammlung beschloss oder was sich spontan ergab.

Teilweise traten ganze Straßenzüge in den Streik. Allein am 30.10.32 meldet die Rote Fahne um den Stettiner Bahnhof herum“ „312 Häuser mit 14.615 Mieternim Streik. So waren Ende Oktober Zehntausende Mietparteien im Streik, über 1000 Exmissionen seien durch Blockaden und Verhandlungen verhindert worden. Manchmal gelang es, für exmittierte Familien Wohnungen zu besetzen, in denen sie nach Verhandlungen mit den Eigentümern dauerhaft bleiben konnten.

Den Zusammenhang zwischen erfolgreichen Räumungsverhinderungen und Mietstreiks sah bald auch das Reichsinnenministerium. So heißt es in einem Papier vom 1. November: „… Mit Rücksicht auf das Anwachsen der kommunistischen Mieterbewegung und die andauernden Versuche der Kommunisten, gerichtlich angeordnete Wohnungsräumungen zu verhindern, sind für die Verweigerung der Mietzahlungen immer breitere Kreise zu gewinnen …“

Bis zum Januar 1933 wuchs die Bewegung weiter an. Einige Mietstreiks, so in der Simeon- und in der Huttenstraße, hatten dezidiert auch politischen Inhalt und wendeten sich gegen SA-Lokale und den von diesen besonders seit der Aufhebung des SA-Verbots Mitte 1932 ausgehenden Terror.

Mieter*innenbewegung und Geschlechterverhältnis

Wohnungen sind Lebensorte von Frauen, Männern und Kindern. Wohnungen sind gleichzeitig Arbeitsplätze von Frauen. Viele Quellen belegen, dass Frauen die Mieter*innenbewegung maßgeblich initiiert und getragen haben. Besonders deshalb macht es Sinn der Frage nachzugehen, wie das herrschende Geschlechterverhältnis die Ausgangsbedingungen und Verläufe dieser Kämpfe beeinflusst hat.

Die unterschiedlichen Lebenslagen von Männern und Frauen waren zum einen bedingt durch Lohnunterschiede, zum anderen durch eherechtliche Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches sowie gesellschaftliche Rollenerwartungen. Während alleinstehende Männer auch als Ungelernte mit ihren Löhnen meist ein gutes Auskommen hatten, reichten die Löhne der Frauen nur in seltenen Fällen für den eigenen Lebensunterhalt, zumal Frauen selten eine Ausbildung nach der Schulzeit zugestanden wurde.

Im Unterschied zu den meisten Männern waren Frauen daher keine „freien“ Lohnarbeiterinnen im Marx´schen Sinne. Wie die Männer waren sie zwar frei von Produktionsmitteln. Frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, waren sie nur solange sie unverheiratet waren, denn in der Ehe waren sie von der Zustimmung des Ehemannes abhängig. Und vor allem erfüllten Frauen zu keiner Zeit das dritte Kriterium des „freien“ Lohnarbeiters: Ihr Lohn reichte für ihren Lebensunterhalt nicht aus.

Welche Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, gab es daher für Frauen?Viele junge Frauen gingen nach der Schulzeit zunächst für einige Zeit „in Stellung“, das heißt, sie arbeiteten als „Dienstmädchen“ in wohlhabenden bürgerlichen Haushalten, die oft in den Vorderhäusern der Mietskasernen lebten. Sie erhielten für ihre Arbeit meist nicht viel mehr als ein Taschengeld und hatten im Haushalt ihrer Arbeitgeber*innen oft eine Schlafkammer. Den elterlichen Haushalt hatten sie dann mehr oder weniger verlassen, aber dennoch kein selbständiges Leben. Oft waren sie Zumutungen und Drangsalierungen ihrer Dienstherr*innen ausgesetzt, die ihnen dieses Leben auf längere Sicht verleideten oder unmöglich machten.

Junge Lohnarbeiterinnen der Fabriken oder etwa des Einzelhandels lebten manchmal, besonders wenn die Herkunftsfamilie nicht in Berlin lebte, in einem Wohnheim oder zur Untermiete. In manchen Fällen konnte das eine gute Lösung auf Dauer sein, zum Beispiel wenn eine wohlhabendere Witwe Untermieterinnen aufnahm.

Dass zwei oder mehrere Arbeiterinnen das Geld aufbrachten und für sich eine Wohnung mieteten, kam vor, war aber selten, unüblich und rief Misstrauen hervor. Meist wurde es schon deshalb abgelehnt, weil, zu Recht oder zu Unrecht, unterstellt wurde, die Frauen gingen der Sexarbeit nach.

Die meisten Proletarierinnen waren zwecks Sicherung ihres Lebensunterhalts auf die Ehe mit einem Lohnarbeiter angewiesen. Nicht zufällig entsprach das auch den gängigen Rollenerwartungen, die schon in der Erziehung der Mädchen und Jungen vermittelt wurden. Oft blieben die jungen Frauen bis zur Ehe in der Herkunftsfamilie.

Damit ist das Bild der Bewohner*innenschaft der Mietskasernen schon im wesentlichen gezeichnet. Wir sehen wohlhabende Bürger*innen in den geräumigen Vorderhauswohnungen, manchmal waren es die Haus- oder auch Ladenbesitzer*innen. In den Seitenflügeln und Hinterhäusern überwiegend Familien mit Kindern aller Altersstufen, daneben alte Menschen, oft in den Haushalten ihrer erwachsenen Kinder, daneben eine kleinere Zahl alleinstehender Männer, einige in Wohngemeinschaft lebende Frauen, vielleicht einige in wilder Ehe lebende heterosexueller Paare, dazu Untermieter*innen, Schlafgänger*innen und vorübergehend aufgenommene Verwandte oder Bekannte. Die Menschen lebten dicht zusammen gedrängt, oftmals ganze Familien mit mehreren Kindern in ein bis zwei Zimmern.

In der Ehe lebten die Frauen in einem persönlichen ökonomischen und rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis von ihren Ehemännern. Sowohl nach bürgerlichem Recht als auch nach herrschender Meinung wurde von den Frauen erwartet, dass sie von dem „Kostgeld“, dass der Ehemann ihnen gab, Haushalt, Ernährung und Kinderbetreuung bestritten, darüber hinaus für sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung zu standen und, wenn sie mit dem Geld nicht auskamen, zusätzlich Lohnarbeit annahmen. Umgekehrt hatte der männliche Proletarier auf diese Dienste Anspruch und als Oberhaupt der Familie die Entscheidungsgewalt in allen anstehenden Fragen. Welchen Anteil seines Lohnes er als Kostgeld abgab, entschied der Lohnarbeiter allein. Viele Frauen kannten die Höhe der Löhne ihrer Ehemänner nicht.

Nach bürgerlichem Recht hatten Ehemänner das Recht, ihren Ehefrauen Erwerbsarbeit zu untersagen. Sich prinzipiell gegen „Doppelverdiener“ zu stellen, wie es im Bürgertum üblich war, war in den armen proletarischen Haushalten der Mietskasernen wegen der niedrigen Löhne unrealistisch. Dennoch galt auch hier als Ideal weithin die bürgerliche Familie mit dem Mann als Familienernährer und der Frau als Hausfrau, so dass die Erwerbsarbeit der Ehefrauen als notwendiges Übel betrachtet wurde. Allerdings gab es hier auch deutliche Unterschiede. Wie Erich Fromm in seiner sozialpsychologischen Studie aus dem Jahr 1929 ermittelte, gab es unter den männlichen KPD-Anhängern nur eine knappe Mehrheit gegen das uneingeschränkte Recht der Ehefrauen auf Erwerbsarbeit, unter SPD- Anhängern war diese Mehrheit mit etwa drei Vierteln sehr deutlich, und am düstersten sah es am rechten Rand, bei den Nationalsozialisten, aus, in deren Ideologie es die „natürliche Pflicht“ es Mannes war, die Familie zu versorgen.

Männliche Proletarier favorisierten also mehrheitlich keine gleichberechtigte, kameradschaftliche Ehe, sondern reklamierten deutlich ihre Vorherrschaft, je weiter rechts im politischen Spektrum, umso stärker.

Auch wenn viele Ehen mit guten Vorsätzen kameradschaftlichen Zusammenlebens begonnen haben mögen, so konnte die materielle Abhängigkeit der Ehefrauen schnell mit Herabwürdigungen, Demütigungen, psychischer und auch körperlicher Gewalt einhergehen. So war etwa der Ausdruck Prügelfreitag“ geläufig für das, was sich abspielte, wenn der Lohnarbeiter am Freitag mit dem erhaltenen Wochenlohn zuerst direkt in die Kneipe ging und später mehr oder weniger alkoholisiert nach Hause in die enge Wohnung kam und seine Unzufriedenheit an Frauen und Kindern ausließ. Viele Frauen lebten in einem permanenten Klima der Angst. Da sexuelle Dienstleistungen ohnehin zu den sogenannten „ehelichen Pflichten“ gehörten und Männer sie im Allgemeinen als ihr selbstverständliches Recht ansahen, war Sexualität ohne Einverständnis obligatorisch und der Übergang zur sexualisierten Gewalt fließend.

Dabei war die Gewalt in den Mietskasernen nicht auf die jeweiligen Kernfamilien beschränkt. Etliche Männer betrachteten das gesamte Haus als ihren Herrschaftsbereich. Frauen berichteten von Angst und Gewalt, der sie auch in den Gemeinschaftsräumen wie Waschküchen, Trockenböden und Außentoiletten ausgesetzt waren.

Auf diese Art tief gespalten und klar hierarchisiert, ein Großteil der Frauen durch Gewalt traumatisiert, stand das Proletariat der Mietskasernen dem sie ausbeutenden Immobilienkapital gegenüber. Es fragt sich sofort, welche Erfolge die Bewegung noch hätte haben können, wäre sie einig gewesen.

Große Depression

Mit steigender Arbeitslosigkeit Anfang der 1930er Jahre verringerte sich die Hierarchie zwischen Lohnarbeit und Hausarbeit, Männern und Frauen. Verlor der Mann seine Lohnarbeit, verlor er gleichzeitig einen Teil seines sozialen Umfelds, seine Kolleg*innen und ggf. Gewerkschaftsgenoss*innen. Zudem wurde er dem demütigenden Procedere in Stempelstelle und Wohlfahrtsamt ausgesetzt, mit oft stundenlangen Fußmärschen, gefolgt vom Anstehen in der Schlange bei jedem Wetter, dem Betteln um Sachleistungen wie Winterkleidung für sich und die Kinder, Kartoffeln und Kohlen. Die Identität als Arbeiter, zu der die dominante Rolle in der Familie gehörte, geriet ins Wanken. Als Arbeitslose konnten Männer ihrer Rolle als Familienernährer noch weniger gerecht werden. Die Autorität des Familienvaters, auch gegenüber den Kindern, schwand.

Hierarchie und Achtungsgefälle konnten sich in dieser Situation sogar umkehren. Denn die Frau hatte weiterhin ihre mit Hausarbeit und Kinderbetreuung verbundenen Aktivitäten und Kontakte im Haus und im Wohngebiet und wenn sie selbst noch Lohnarbeit hatte, brachte sie sogar noch Geld nach Hause. Manche Frau konnte so neues Selbstbewusstsein erlangen. Der Mann dagegen konnte sich zu Hause überflüssig vorkommen. So fragt sich Mitte 1931 ein Autor in der „Arbeiter Illustrierten Zeitung“, was der Mann nun mit der vielen Zeit anfangen soll. Jetzt hing viel davon ab, wie sehr die beiden mit ihren hergebrachten Rollen verwachsen waren, oder andersherum, wie gut sie die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen reflektieren und zurückweisen konnten. Gelang es ihnen, die Arbeit auch entgegen der herrschenden Geschlechterordnung neu zu verteilen, oder erstickte die Frau in zusätzlicher Arbeit, die die wachsende Armut mit sich brachte, während der Mann seine Zeit totschlug und angesichts seiner schwindenden Macht zunehmend unzufrieden und aggressiv wurde, so dass der Gehorsam von Frauen und Kindern umso wichtiger wurde, um ihn zu besänftigen.

In dieser Situation konnten die politischen Aktivitäten der Frauen in der Mieter*innenbewegung erst recht die Abwehr der Männer hervorrufen, brachen die Frauen doch damit herrschende Rollenmuster noch weiter auf und trat doch gerade im Mietenkampf offen zu Tage, dass Männer ihrer Rolle als Familienernährer nicht gerecht werden konnten.

Die Motivation der Frauen für den Mietenkampf

Was trieb Frauen an, sich im Kampf um die Wohnung und gegen hohe Mieten so entschieden einzubringen? Frauen hatten das Haushaltsbudget, seine Zusammensetzung und Risiken, tagtäglich direkt vor Augen. Mit dem Kostgeld, das der Mann von seinem Lohn abgab, und dem eigenen Lohn mussten sie die Familie ernähren, kleiden, für eine warme Wohnung sorgen, ggf. Zeitschriften, Bücher, Vereinsbeiträge, bezahlen. Eventuell gab es einen Schrebergarten, der die Ernährung mit sicherte, für den Pacht aufgebracht werden musste. Meist erwartete der Mann für sich eine bessere Ernährung als sie die übrigen Familienmitglieder hatten, vor allem einen höheren Fleischanteil. Ob all dies gelingen konnte, hing vom Lohn und von der Miete ab. Je größer der finanzielle Druck, umso schneller konnte es zu Auseinandersetzungen um die Qualität des Essens, um das Kostgeld und die Freizeitgestaltung des Mannes, um Alkohol oder etwa um die Aufnahme von Untermietern bzw. Schlafgängern, um zusätzliche Lohnarbeit oder Sexarbeit der Frau kommen.

Zum anderen waren die Wohnung und das Haus der Arbeitsplatz der Frau. Durch schlechte bauliche und hygienische Zustände wurde ihre Arbeit erschwert. Reichten Waschküchen und Trockenböden für alle, gab es genügend Wasseranschlüsse, waren die Dächer dicht oder regnete es auf die Wäsche, waren die Räume ausreichend beleuchtet, gab es Ungeziefer – all diese Fragen bestimmten die Arbeit der Hausfrauen mit. Auch defekte Öfen und Herde, feuchte Wände und bröckelnder Putz erschwerten ihre Arbeit. Verschmutztes Trinkwasser, unhygienische Toiletten und Ungezieferbefall konnten zudem insbesondere Gebärenden, Säuglingen und Kleinkindern gesundheitlich gefährlich werden. Daher forderten die streikenden Mieter*innen neben finanzieller Entlastung fast immer auch Instandhaltungs- und Renovierungsmaßnahmen wie die Reparatur von Wasserleitungen, Beseitigung von Ungeziefer, bessere Beleuchtung und den Einbau zusätzlicher Toiletten und Wasseranschlüsse. Ein Motiv, bessere Beleuchtung zu fordern, war zudem der Schutz vor Gewalt.

Was drohende Zwangsräumungen betraf, so ist wichtig zu sehen, dass die Arbeit der Frauen oft in mehr oder weniger gut geknüpften nachbarschaftlichen Netzwerken stattfand, dort abgesichert oder erleichtert war. Dazu gehörte nicht nur, sich ab und zu spontan mit Lebensmitteln oder Utensilien auszuhelfen. Es betraf beispielsweise auch die gegenseitige Unterstützung bei der Kinderbetreuung, besonders wenn die Frauen erwerbstätig waren, Unterstützung und Hilfe bei der Beschaffung der Lebensmittel, denn Frauen wiesen sich gegenseitig auf günstige Bezugsquellen hin, teilten Einkäufe auf, nutzten die Produktivität von Schrebergärten, tauschten ggf. Obst und Gemüse etwa gegen Näharbeiten, Haareschneiden, Kinderbetreuung. Besonders rund um Geburt und Wochenbett war die gegenseitige Unterstützung der Nachbarinnen wichtig. Auch bot ein Kreis solidarischer Nachbarinnen oft einen gewissen Schutz vor häuslicher Gewalt, indem Nachbar*innen aufmerksam waren und eventuell eingreifen konnten. Vertraute Personen in der Nähe, aber außerhalb der Kernfamilie, halfen durch gegenseitigen Rat, ein offenes Ohr, Trost und Zuspruch bei der Bewältigung von Konflikten und bei den Folgen von Gewalt. Auch halfen sich Nachbarinnen bisweilen, indem sie gegenseitig Geld versteckten, etwa Einnahmen aus eigener Erwerbstätigkeit, die Miete eines Schlaf- oder Kostgängers oder ein Rest des Kostgelds oder der Wohlfahrtsunterstützung.

Diese Netzwerke und all diese gegenseitige Unterstützung verloren die Frauen bei einer Exmission meist und mussten sie dann mühsam neu knüpfen.

Aber nicht nur das. Um vorhandene Mietschulden auszugleichen, konnte der Gerichtsvollzieher bei einer Exmission Möbel und Hausrat verkaufen, schlimmstenfalls direkt nach der Exmission auf dem Gehweg vor der Wohnung an Nachbarn und Passanten – ein extrem demütigendes Procedere, das glücklicherweise oft genug die Gegenwehr solidarischer Nachbarschaften auf den Plan rief, die günstigenfalls allein durch ihre lautstarke Anwesenheit den Gerichtsvollzieher vertrieben, die Möbel wieder in die Wohnung trugen und Verhandlungen mit dem Hausbesitzer aufnahmen mit dem Ziel, der Familie die Wohnung zurückzugeben.

Die Bedrohung aber, dass die Familie nach der Exmission buchstäblich vor dem Nichts stehen würde, stand immer im Raum. Wie würde das Leben, ggf. mit Kindern, in einem Asyl oder gar in Obdachlosigkeit weiter gehen, wann und wie könnte eine neue Wohnung gefunden werden? Am neuen Wohnort musste dann nicht nur neuer Hausrat beschafft werden, die Hausfrau musste auch nach günstigen Einkaufsmöglichkeiten suchen, das Vertrauen der Einzelhändler gewinnen, bei denen auch einmal angeschrieben werden konnte. Insgesamt war also eine Exmission ein äußerst bedrohliches Szenario, das besonders die Frauen mit aller Kraft zu verhindern suchten, da es die Grundlagen ihrer Arbeit, also der Versorgung der Familie, zerstörte.

Frauen in der Praxis der Mieter*innenbewegung

Durch die Hausarbeit waren Frauen prädestiniert für die politische Arbeit an der Basis der Mieter*innenbewegung, denn sie konnten ihre alltäglichenKontakte und Netzwerke in Nachbarschaft und Wohngebiet dafür nutzen. In der Waschküche, auf dem Trockenboden, im Treppenhaus, beim Einkaufen, in der Markthalle konnten Forderungen und Vorgehen diskutiert, Meinungen ausgetauscht, Infos, Flugblätter und Aufrufe verteilt werden. So konnte vieles geklärt werden, ohne dass der Hauseigentümer es mitbekam. Wurde sich dann im Hof oder auf dem Dachboden zur Versammlung getroffen, um im großen Kreis über Forderungen und Vorgehen abzustimmen, blieb das meist nicht unbeobachtet, aber dann war bestenfalls vieles schon geklärt.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Frauen meist diejenigen waren, die dem Vermieter monatlich die Mieten übergeben mussten bzw. sich weigern mussten, wenn der Vermieter versuchte, die Miete einzutreiben. Dass sie zu diesem persönlichen Kontakt gezwungen waren, hatte immerhin den Vorteil, dass sie die Lage sondieren konnten und den Vermieter evt. beeinflussen konnten.

Das größte Hindernis für die Aktivistinnen der Mieter*innenbewegung dürfte der Sexismus gewesen sein. Zum einen die Verunsicherung durch eventuell jahrelang erlebte Gewalt, aber auch die fortgesetzte Bedrohung, zum anderen Herabwürdigungen und Infragestellungen ihrer politischen Arbeit selbst. Für den gemeinsamen solidarischen Kampf gegen das Immobilienkapital war diese tiefe Spaltung des Proletariats eine denkbar schlechte Voraussetzung, galt es doch, an einem Strang zu ziehen und sich gegenseitig zu stärken. Die Hierarchie zwischen Lohnarbeit und unentlohnter Care-Arbeit erschwerte also auch hier, ebenso wie in der Lohnarbeit, den gemeinsamen Kampf des Proletariats gegen das Kapital.

Über das einzelne Haus hinaus

Die Vernetzung der Mieter*innenbewegung von Haus zu Haus und von Wohngebiet zu Wohngebiet war offenbar maßgeblich Sache der Frauen. So fand beispielsweise Anfang Juli 1932 in der Wilhelmstraße am Halleschen Tor eine Versammlung von 125 Aktivist*innen statt, von der die Rote Fahne schreibt: „sehr viele Versammlungsbesucher waren Frauen“. Es wurde beschlossen, sich an dem weiteren Aufbau der Bewegung im Wohngebiet zu beteiligen. In jedem Haus sollten Versammlungen stattfinden und Räte gewählt werden. Zu diesem Zweck wurde ein Ausschuss gewählt, der aus 5 Personen bestand, darunter 3 Frauen. 3 Ausschuss-Mitglieder waren parteilos, 2 waren KPD-Mitglieder.

Ähnliche Zusammensetzungen finden sich immer wieder: Frauen und Parteilose dominieren die Versammlungen. Unter den Parteimitgliedern sind die KPDler*innen klar in der Mehrheit, manchmal sind einzelne Nazis zugegen und auch einige Sozialdemokrat*innen.

Die Rote Fahne berichtete auch von Delegationen, die überwiegend aus Frauen bestanden, die zwecks Austausch und Information aus dem eigenen Wohngebiet in andere gingen und dort streikende Häuser besuchten.

Anders als die Häuser und Höfe, Waschküchen, Dachböden, Läden und Märkte waren die Kneipen, in denen sich die Basis der KPD in Erwerbslosengruppen, Wohngebietsgruppen und Straßenzellen traf, meist Terrain der Männer.

Obwohl die Parteispitze für die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an Basisgruppen warb, wurden Frauen dort oft als störend empfunden und auch massiv abgewertet und ausgegrenzt. Ging es nun um die Zusammenarbeit von männlichen Parteiaktivisten mit den Aktivist*innen der Häuser, dann gab es zwei Hindernisse: Erstens kamen Parteiaktivisten, die nicht selbst im Haus wohnten, als „Fremde“ in die halbprivate Atmosphäre eines Hauses. Zweitens bauten männliche Parteiaktivisten mit ihrer Haltung gegenüber Frauen oft zusätzliche Hürden für die gemeinsame politische Arbeit auf.

Es ist möglich, dass die Ausgangsbedingungen gut waren, wenn Parteiaktivisten selbst im Haus wohnten. Besonders die Frauen in der KPD könnten am ehesten eine Brücke aus den Häusern zu den Parteigruppierungen geschlagen haben. In jedem Fall hing es von der Bereitschaft zu respektvoller Zusammenarbeit ab, wie die Aktivist*innen in ihrem Kampf auch von Parteistrukturen und -aktivitäten Unterstützung erfahren konnten.

Es ist es fatal, dass es diese Hemmnisse gegeben hat, die mit der Spaltung des Proletariats nach Geschlecht verbunden waren. Wieviel mehr eventuell möglich gewesen wäre, hätte es diese nicht gegeben, lässt sich nur erahnen.

Die KPD hat zwischen Juni 1932 und Februar 1933 vier Gesamtberliner Mietenkongresse organisiert, an denen jeweils mehrere Hundert oder sogar über Tausend Delegierte der streikenden Häuser teilnahmen. Diese, und auch die Pressearbeit der KPD, v.a. in der Roten Fahne, waren sicher sehr wertvoll für die Bewegung. Allerdings ist auch hier einschränkend zu sagen dass alle diese Kongresse von Männern geleitet wurden. Dass die Zusammenarbeit mit den Frauen in den Häusern und Wohngebieten durch ein sexistisches Klima gelitten hat, ist naheliegend. Welches Zerrbild innerhalb der Funktionärsebene vorherrschte und von ihr verbreitet wurde, zeigt beispielhaft die Titelseite einer im Jahr 1932 von und für Parteifunktionäre im Jahr 1932 erstellten Broschüre:

Der Mietstreik in der Paul-Singer-Straße

Im Oktober 1932 organisierten sich auch die Mieter*innen eines Hauses in der Paul-Singer-Straße in Friedrichshain. Mit 20 Mietparteien war dieses Haus im Vergleich zu mancher Mietskaserne mit mehreren Hinterhöfen klein. Ich habe diesen Fall für diesen Text herausgegriffen, weil die Auseinandersetzung um den Mietstreik hier auch juristisch ausgetragen wurde, was ungewöhnlich war. Eventuell war die Intention der Vermieter*innen, in diesem Haus, wo sie nicht viel Gegenwehr vermuteten, einen Musterprozess zu führen.

Aber der Reihe nach: Die Vollversammlung der Mieter*innen wählte einen dreiköpfigen Mieter*innenrat, bestehend aus Elisabeth Heinrich, Elsa Breitschuh und Karl Göricke. Ihre Forderungen waren Forderungen 40%ige Mietsenkung, Niederschlagung aller Mietschulden, Instandsetzung der Toiletten, der Waschküche, des Trockenbodens, der Öfen und Kochmaschinen, Beseitigung des Ungeziefers und Einbau zusätzlicher Toiletten. Alle 20 Mietparteien unterschrieben die Forderungen. Auf der Unterschriftenliste stehen zwölf Frauen- und sechs Männernamen, zwei der Vornamen sind nicht zu entziffern. Offenbar waren also auch in diesem Mietstreik die Frauen besonders aktiv. Da die Forderungen nicht erfüllt wurden, traten die Mieter*innen zum 1. November geschlossen in den Mietstreik.

Der Vermieter wollte nun mit einem Antrag auf einstweilige Verfügung beim Landgericht erreichen, dass dem dreiköpfigen Mieter*innenrat bei Androhung einer Haftstrafe untersagt werde, die anderen Mieter*innen des Hauses zum Mietstreik aufzurufen. Interessant ist die Begründung des Vermieters, versucht er doch, sein Privatinteresse als Interesse am „Staatswohl“ hinzustellen, was einerseits als Übertreibung, andererseits aber auch als Beleg der Bedrohlichkeit der Mieter*innenbewegung für das bürgerlich-kapitalistische System und daher als Erfolg der Mieter*innenbewegung gelesen werden kann: „In dem Hause Paul-Singerstr. […] ist der jetzt sehr beliebte und für den Hauseigentümer wirtschaftlich katastrophale Mieterstreik ausgebrochen. Die Rädelsführer dieses Mieterstreiks sind die Antragsbeklagten. []Solchem, das ganze Wirtschaftsleben in den Grundfesten aufwühlenden und erschütternden Verhalten müssen die Gerichte mit der größten Energie entgegentreten. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als den Rädelsführern eines derartigen wirtschaftlichen Putsches zu Gemüte zu führen, dass sie nicht das Recht haben, durch solche wohl überlegte Handlungen am letzten Ende das Staatswohl zu gefährden. Viele kleine Erschütterungen, viele Mieterstreiks können den Realkredit und damit die gesamte Wirtschaft zum Erliegen bringen; deshalb muss energisch vorgegangen werden und dem Hauseigentümer hier der ihm durch das Gesetz zustehende Schutz gewährt werden.

Die Mieter*innen nahmen sich einen Anwalt. Mancher Leser*in wird der Name bekannt sein: Botho Laserstein. Wenn nicht, wir lernen ihn im Laufe dieses Textes noch näher kennen. Er legte Widerspruch ein. An dem Verfahren sind zwei Punkte besonders interessant:

Zum einen war in der Weimarer Republik gesetzlich festgeschrieben, dass Mieter*innen eines Hauses berechtigt waren, „einen oder mehrere von ihnen mit ihrer Vertretung in Mietangelegenheiten zu beauftragen (Mietervertretung, Vertrauensmann der Mieter, Mieterausschuß)“. Das heißt, so argumentierte Laserstein, zunächst einmal war die Wahl von Elisabeth Heinrich, Elsa Breitschuh und Karl Göricke zum Mieter*innenrat vom Reichsmietengesetz gedeckt. Plausibel erscheint es, daraus nun auch zu folgern, dass es auf dem Boden des Gesetzes stattfand, wenn auf Versammlungen, die der Mieter*innenrat einberief, über Forderungen der Mieter*innen abgestimmt wurde und der Mieter*innenrat diese dem Vermieter gegenüber vertrat. Aber weit gefehlt. Das Gericht erklärte, die Mieter*innenvertretungen laut Gesetz seien nicht für eine kollektive Vertretung gedacht, sondern nur, um „im Einzelfall“ tätig werden. In diesen Einzelfällen sollten sie „gütliches Einvernehmen“ zwischen Mieter*in und Vermieter*in herstellen. Also nicht etwa kollektiv und auch nicht zu konfrontativ. Der grundsätzliche Interessensgegensatz zwischen Immobilienkapital und Mieter*innen war nicht als Gegenstand der Auseinandersetzung vorgesehen.

Ein kollektiver Mietstreik sei, so das Gericht, anders als ein Streik im Arbeitskampf, weder von der Verfassung noch vom BGB noch vom Mieterschutzgesetz gedeckt. So machte das Gericht noch einmal allen Optimist*innen unmissverständlich klar, dass soziale Kämpfe um bezahlbare Wohnungen nicht auf dem Boden des Mietrechts stattfanden, das Recht der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft also nicht auf Seiten notleidender Menschen stand.

Aber gerade im Hinblick auf das kollektive Vorgehen der Mieter*innen wurde der Prozess dennoch zum Erfolg: Elisabeth Heinrich, Elsa Breitschuh und Karl Göricke konnten dem Gericht durch eine Unterschriftenliste der Mieter*innen des Hauses nachweisen, dass sie die Mieter*innen nicht „aufgewiegelt“ hatten, also keine „Rädelsführer“*innen waren, sondern dass der Entschluss zum Mietstreik von jeder Mieter*in eigenständig und einstimmig auf der Mieter*innenversammlung gefasst worden war. Ein Sieg der Solidarität der Mieter*innen, der die drei Aktivist*innen vor dem Gefängnis bewahrte!

Nachdem das Urteil am 7. Januar 1933 gefällt war, wollte Rechtsanwalt Botho Laserstein in Berufung gehen. Es dauerte einige Zeit, bis er alle Unterlagen beisammen hatte. Da kam den Streikenden und ihrem Anwalt das wohl bedeutendste und folgenreichste Ereignis der deutschen Geschichte dazwischen: Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Franz von Papen wurde Vizekanzler, Hermann Göring Reichskommissar in Preußen und übernahm damit die Polizeigewalt.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten

Unmittelbar danach eskalierte der Terror der SA. Unzählige Gegner*innen der Nationalsozialisten wurden in die im gesamten Stadtgebiet entstehenden wilden KZs verschleppt, gefoltert und viele von ihnen ermordet. Bis jetzt konnte ich nicht herausfinden, ob auch Elisabeth Heinrich, Elsa Breitschuh, Karl Göricke oder andere Aktivist*innen aus der Paul-Singer-Straße betroffen waren. Ihre Spur verliert sich hier zunächst, aber ich werde die Suche noch fortsetzen.

In einer Regierungserklärung vom 1. Februar schrieb Hitler: „[…] Wir Männer dieser Regierung fühlen uns vor der Deutschen Geschichte verantwortlich für die Wiederherstellung eines geordneten Volkskörpers und damit für die endgültige Überwindung des Klassenwahnsinns und Klassenkampfes. […]“ Am 4. Februar erließ Hindenburg eine Notverordnung, mit der die Presse- und Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt wurden.

Trotz Terror und Repression ließ sich die Mieter*innenbewegung zunächst nicht vollständig einschüchtern oder gewaltsam unterdrücken. Der für den 5. Februar angesetzte 4. Gesamtberliner Mieter*innenkongress in Kliems Festsälen in der Hasenheide fand wie geplant statt. Ob auch Delegierte aus der Paul-Singer-Straße teilnahmen? Informationen zu diesem Kongress liefert der Bericht eines polizeilichen Beobachters. Danach kamen immerhin noch etwa 700 Delegierte streikender Häuser, wovon etwa 320 KPD-Mitglieder, 230 SPD-Anhänger, 125 Parteilose, 10 Zentrumsmitglieder, 10 NSDAP-Anhänger gewesen seien. Insgesamt sind das etwa 300 Teilnehmer*innen weniger als beim vorherigen Kongress. Die SPD wäre mit dieser Zahl im Vergleich zu vorherigen Versammlungen deutlich überrepräsentiert. Die SPD setzte ja nicht auf Mietstreiks und direkte Aktionen, sondern allein auf parlamentarische Interventionen. Die Parteilosen wären dagegen deutlich unterrepräsentiert, sie stellten bei früheren Versammlungen meist eine deutliche Mehrheit. Möglich ist, dass sich der Polizeispitzel in der Zuordnung geirrt hat. Insgesamt lassen diese Zahlen den Schluss zu, dass v.a. KPDler*innen und Parteilose dem Kongress ferngeblieben sind. Entweder waren sie schon verhaftet oder aus Angst vor dem Terror der SA.

Geleitet wurde der Kongress, wie bereits Vorherige, von dem KPD-Funktionär und Kommunalpolitiker Georg Kautz. Dem Polizeibericht zufolge wurde zu Beginn ein „Präsidium“ gewählt, bestehend aus 3 Frauen, 4 Männern und je eines/r Bezirksdelegierten. Insgesamt macht der Bericht den Eindruck, die Organisationsstrukturen und Aktionsformen der Bewegung hätten sich seit dem Herbst 1932 noch weiter gefestigt. Laut polizeilichem Beobachter habe ein Redner berichtet, die Berliner Mieter*innenbewegung habe mehr als 100.000 Mitglieder. Zur Verhinderung von Exmissionen gäbe es „Mieterschutzstaffeln“, die „bis zu 90%“ erfolgreich seien und noch ausgebaut werden sollten. Die Mietstreiks würden „konsequent durchgeführt“. Auch Botho Laserstein nahm an dem Kongress als Redner teil. Er hielt ein Referat zu mietrechtlichen Fragen, die er auch in einer Broschüre, „Das Mieter ABC“, zusammen gefasst hatte, die den Delegierten zur Verfügung gestellt wurde. Anhand des Polizeiberichts entsteht insgesamt der Eindruck einer zwar angespannten, aber angesichts der Stärke der Bewegung konstruktiven, kämpferischen und zuversichtlichen Atmosphäre. Obwohl das Verbot der KPD offenbar schon angekündigt war, versicherte ein Vertreter der Partei der Mieter*innenbewegung noch einmal die volle Unterstützung.

Einiges deutet darauf hin, dass tatsächlich auch Mietstreiks über den 30.Januar hinaus weitergeführt wurden. So berichtet die Rote Fahne am 9. Februar von dem Streik im Meyerhof mit seinen etwa 1000 Bewohner*innen. Der Eigentümer biete Kompromisse an, versuche, die Mieter*innen durch Einzelgespräche zu spalten und drohe Exmissionen an. Die Mieter*innen ließen sich jedoch auf keine Diskussionen ein und setzten den Streik fort.

In der zweiten Februarhälfte erhielten SA, SS und Stahlhelm durch einen Erlass Hermann Görings Polizeifunktion, waren damit also offiziell ermächtigt, mit Razzien und gewalttätigen Übergriffen gegen Organisationen und Versammlungen vorzugehen.

Am 27. Februar 1933, brannte das Reichstagsgebäude. Die Nationalsozialisten behaupteten, bei der Brandstiftung habe es sich um den Auftakt eines kommunistischen Aufstands gehandelt und verschärften die Verfolgung schlagartig. Zehntausende Oppositionelle wurden in den darauffolgenden Tagen und Wochen verhaftet und in improvisierte Konzentrationslager verschleppt. Dies traf mehrheitlich Mitglieder der KPD, aber auch andere Oppositionelle und missliebige Personen. Auch viele der in den Häusern, Mieter*innenräten, Versammlungen und Delegiertenräten Aktiven dürften darunter gewesen sein. So wurde Georg Kautz zusammen mit Franz Wisnewski, Fraktionsvorsitzender der KPD in der Berliner Stadtverordnetenversammlung und Redner auf der Berliner Mieter*innenkonferenz am 30.6.32, bereits am Tag nach dem Reichstagsbrand verhaftet und in das KZ Sonnenburg verschleppt, wo beide bis Ende September 1933 in sogenannter „Schutzhaft“ gehalten wurden.

Ebenfalls bereits einen Tag nach dem Reichstagsbrand wurde die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, auch „Reichstagsbrandverordnung“ genannt, erlassen. Durch diese Verordnung „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erhielt die Regierung diktatorische Vollmachten, sie ermöglichte einen permanenten Ausnahmezustand. Grundrechte wie persönliche Freiheit, Meinungs- Vereins-, Versammlungs-, Pressefreiheit, Briefgeheimnis waren außer Kraft gesetzt, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen jederzeit möglich.

Die Reichstagsbrandverordnung nutzten nun auch Vermieter, um sich der Kampfmittel der Mieter*innen, der Mietstreiks und Exmissionsverhinderungen, endgültig zu entledigen. Das Organ der organisierten Vermieter, die Zeitschrift „Das Grundeigentum“, rief Vermieter dazu auf, sich im Falle einer Organisierung der Mieter*innen auf die Verordnung zu berufen. Ebenso wie einige Monate zuvor der Vermieter in der Paul-Singer-Straße, wurde argumentiert, die Ziele der organisierten Mieter*innen seien „kommunistisch und staatsgefährdend“. Nun hatten Vermieter freie Bahn. Die Polizei zu rufen „kostet den Hauseigentümer nichts und führt schneller zum Erfolg als der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch das Gericht.“ Was also auf rechtsstaatlichem Wege nicht erreicht worden war, die Unterbindung der kollektiven Interessenvertretung der Mieter*innen, wurde den Vermietern nun durch die Diktatur ermöglicht. Damit traf man die Aktiven an der Basis, in den Häusern und Wohngebieten, so sie zuvor, zumal als Parteilose, noch unbehelligt geblieben sein mögen. Versammlungen, Aushänge, Flugblätter und Rundschreiben dürften spätestens ab März 1933 kaum noch möglich gewesen sein.

Nach alldem ist davon auszugehen, dass die Mieter*innenbewegung, die Zehntausende, wahrscheinlich Hunderttausend Aktivist*innen während der Weimarer Zeit mit Leben erfüllt hatten, in die sicher noch ein Mehrfaches an proletarischen Mieter*innen Hoffnungen gesetzt hatten, die zum Experimentierfeld für feministischen proletarischen Kollektivismus und Kampf geworden war, im Verlauf des Frühjahrs 1933 innerhalb von wenigen Wochen vollständig zerschlagen und unterdrückt wurde.

Rechtsanwalt Botho Laserstein war jüdischer Abstammung. Er hatte sich zeitlebens nicht nur für soziale Bewegungen, sondern auch für die Rechte Homosexueller eingesetzt. Wie es für ihn und andere missliebige Jurist*innen in den Tagen und Wochen nach dem Reichstagsbrand weiter ging, lässt sich erahnen anhand Sebastian Haffners Beschreibung der Vorgänge am Berliner Kammergericht am 1. April 1933, die er 1939 im Exil verfasste:

Ich ging aufs Kammergericht. Es stand grau, kühl und gelassen wie immer, vornehm abgerückt von der Straße, hinter Rasenflächen und Bäumen. Durch seine weiten Gänge und Hallen huschten wie immer eilig und fledermausartig in ihren wehenden schwarzen Seidentogen die Anwälte, Aktentaschen unter dem Arm, mit gesammelten und korrekten Gesichtern. Ich ging in die Bibliothek, als wäre dies ein Tag wie alle Tage … Keine Luft kam von außen. Hier gab es keine Revolution. War das das erste auffällige Geräusch? Ein Türenschlagen? Irgendein schriller unartikulierter Ruf, ein Kommando? Auf einmal saß alles aufgeschreckt da, mit dem Ausdruck gespannten Horchens. Immer noch herrschte vollkommene Stille ….

Draußen der Lärm wurde stärker. Einer sagte in die vorhaltende Stille hinein: ,SA‘. Darauf sagte ein anderer, mit nicht besonders erhobener Stimme: ,Die schmeißen die Juden raus‘, und zwei oder drei Leute lachten dazu. Dieses Lachen war im Augenblick erschreckender als der Vorgang selbst: es ließ blitzhaft daran denken, dass ja auch in diesem Raum, wie sonderbar, Nazis saßen. Allmählich wurde die Unruhe sichtbar – zuerst war sie nur fühlbar gewesen. Die Arbeitenden standen auf, versuchten irgend etwas zueinander zu sagen und gingen langsam und sinnlos hin und her. Ein offenbar jüdischer Herr schlug schweigend seine Bücher zu, stellte sie sorgfältig in die Regale zurück, verstaute seine Akten und ging hinaus. Kurz darauf erschien jemand am Eingang, vielleicht eine Art Oberwachtmeister, und lief laut, aber mit besonnener Stimme, in den Raum: ,Die SA ist im Haus. Die jüdischen Herren tun besser, für heute das Haus zu verlassen.‘ Zugleich hörte man von draußen, wie zur Illustration, rufen: ,Juden raus!‘ Eine Stimme antwortete: ,Sind schon raus‘, und wieder hörte ich die zwei oder drei Lacher von vorhin kurz und fröhlich aufglucksen. Ich sah sie jetzt. Es waren Referendare wie ich …. Viele packten ihre Mappen und gingen … Andere ließen ihre Sachen hier und gingen ins Gebäude, zu sehen, was es dort gab … Keine Gräuelberichte, oh durchaus nicht. Es war alles überaus glatt gegangen. Die Sitzungen waren offenbar größtenteils aufgehoben worden. Die Richter hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem Haus gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten SA Leuten. Nur im Anwaltszimmer war es etwas wild zugegangen. Ein jüdischer Anwalt hatte ,Menkenke gemacht‘ und war verprügelt worden. Später hörte ich auch, wer es war: ein Mann, der im Kriege nicht nur fünfmal verwundet worden war und ein Auge verloren hatte, sondern damals auch Hauptmann geworden war; er mochte, zu seinem Schaden, noch die Geste im Instinkt gehabt haben, mit der man Meuterer zur Raison bringt. Inzwischen erschienen die Eindringlinge auch bei uns. Die Tür wurde aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme: ,Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!‘ Es fiel mir auf, dass er den gewählten Ausdruck ,Nichtarier‘ und den höchst ungewählten Ausdruck ,Lokal‘ verwendete. Wieder antwortete einer, offenbar derselbe wie vorhin: ,Sind schon raus.‘ … Indem kam eine braune Uniform auf mich zu und machte Front vor mir: ,Sind Sie arisch?‘ Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: ,Ja.‘

Ein prüfender Blick auf meine Nase – und er retirierte. Mir aber schoss das Blut ins Gesicht. Ich empfand, einen Augenblick zu spät, die Blamage, die Niederlage …. Versagt in der ersten Prüfung! Ich hätte mich ohrfeigen können. Als ich das Kammergericht verließ, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer, … Man sah ihm keineswegs an, dass es soeben als Institution zusammengebrochen war.“…

Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und seiner Ausweitung u.a. auf Rechtsanwält*innen im April 1933 verlor Botho Laserstein seine Zulassung. Er emigrierte erst in die Tschechoslowakei, dann nach Frankreich. 1936 wurden ihm seine deutsche Staatsbürgerschaft und sein Doktortitel aberkannt. Seine Schriften, unter anderem „Du und dein Recht“ und das Mietrechts-ABC“ wurden verboten. Seine ganze Familie, Ehefrau, Tochter, Geschwister und Eltern wurden in Konzentrationslagern ermordet. Er selbst kehrte 1951 zurück in die BRD. Nach anfänglicher Zurückweisung bekam er zunächst eine Stelle als Staatsanwalt in Düsseldorf, wurde jedoch, nachdem er sich gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe eingesetzt hatte, als Hilfsrichter nach Essen versetzt. Auch seinen Einsatz für die Rechte Homosexueller nahm er wieder auf. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift „Strichjunge Karl“ wurde er 1955 aus dem Staatsdienst entlassen. Er sah für sich keinen Ausweg mehr und beging Suizid.

Wie ging es in der NS-Zeit für proletarische Mieter*innen weiter?

Eines der hartnäckigsten Gerüchte über die NS-Zeit lautet, die Nazis hätten den Wohnungsbau angekurbelt, so dass die Wohnungsnot der Weimarer Zeit beendet worden sei. Ein nüchterner Blick auf Zahlen und Fakten zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl das Gesamtvolumen des Wohnungsbaus als auch der öffentlich geförderte Wohnungsbau wurden im Nationalsozialismus drastisch zurückgefahren. Während in den Jahren 1924 bis 1932 insgesamt 173.000 Wohnungen gebaut wurden, davon 102.000 öffentlich gefördert, waren es in den Jahren 1933 bis 1940 nur insgesamt 96.000 Wohnungen, davon nur ca.57.000 bis 61.000 öffentlich gefördert. Das ist ein Rückgang von über 35%.

Dies, obwohl verschiedenste NS-Funktionsträger immer wieder anerkannten, dass die Wohnungsnot anhaltend groß war. Bspw sprach die „Deutsche Bauzeitung“ 1935 von einem „ausgesprochenen Wohnungselend“. Der Wohnungspolitiker Bruno Schwan schrieb 1935 von andauernder Überbelegung der kleinen Altbauwohnungen und ebenfalls andauerndem Leerstand der großen Altbauwohnungen und der Neubauwohnungen. Sozial wäre es gewesen, die in den kleinen Altbauwohnungen und in Asylen und Notunterkünften zusammengedrängten Familien mit den zahlreichen leerstehenden großen Altbauwohnungen zu versorgen. Ende der 30er Jahre nannten verschiedene offizielle Quellen zwischen 100.000 und 400.000 allein in Berlin fehlende Wohnungen. Ganz offensichtlich versorgte der nationalsozialistische Staat die Bevölkerung nicht mit Wohnungen.

Schauen wir noch genauer hin: Nicht nur die Anzahl der gebauten „Volkswohnungen“, sondern auch ihre Standards, was Wohnflächen und Ausstattung angeht, blieben hinter denen der Weimarer Republik weit zurück. Nur äußerlich ähneln die in der NS-Zeit errichteten Siedlungen oft dem Stil der Weimarer Zeit und auch der 1950erJahre. Ein Erlass von 1935 forderte die „Errichtung billigster Mietwohnungen […], die hinsichtlich Wohnraum und Ausstattung äußerste Beschränkung aufweisen”

Und dann die Frage: An wen wurden die „Volkswohnungen“ vergeben? Dienten sie der sozialen Wohnraumversorgung? Welche Zielgruppe wurde angesprochen?

Wie Baade ermittelte, waren die Mieten der „Volkswohnungen“ so hoch, dass sie für etwa ein Drittel der Bevölkerung nicht bezahlbar waren. „Dieser Einkommensgruppe wurde unabhängig von der grassierenden Wohnungsnot prinzipiell die Hoffnung auf eine eigene Wohnung genommen.“ Ebenso wie in der Weimarer Republik wurden also auch im Nationalsozialismus mit dem öffentlich geförderten Wohnungsneubau nicht arme Bevölkerungsschichten, die unter extremer Wohnungsnot litten, mit Wohnraum versorgt, sondern vielmehr die Mittelschicht.

Abgesehen vom Einkommen war die Zielgruppe des nationalsozialistischen Wohnungsbaus völkisch bestimmt. So waren Jüdinnen und Juden von der Vermietung ausgeschlossen. Die Erinnerung an den anfangs schleichenden Prozess der Zerstörung jüdischer Existenz ist angesichts des Horrors der späteren Deportationen und Ermordungen oftmals verblasst. Dieser Prozess begann jedoch unmittelbar 1933. Zwischen Mitte 1933 und Mitte 1939 sank die Zahl der Jüdinnen und Juden in der Stadt Berlin von ca. 161.000 auf ca. 75.000. Der nationalsozialistische Staat betrachtete die Wohnungen, in denen Jüdinnen und Juden wohnten, als ausbeutbare Ressource.

Der nationalsozialistische Wohnungsbau richtete sich generell ausschließlich an die „Deutsche Familie“. Alleinstehende oder Wohngemeinschaften von Menschen, die nicht der Heteronormativität entsprachen, unabhängig von ihrer Identität oder davon, in welcher persönlichen Beziehung sie zueinander standen, hatten darin keine Existenzberechtigung.

Aber auch bei verheirateten Paaren wurde zusätzlich geprüft, ob sie „erbgesund“ und „würdig“ seien, der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ anzugehören. „Minderwertige“, auch als „asozial“ oder „gemeinschaftsfremd“ bezeichnet, wurden ausgesondert.

Dabei war die Kategorie „asozial“ im Nationalsozialismus nie eindeutig definiert, bot in der Praxis also jede Gelegenheit für Willkür, Denunziation und Bereicherung. Als „asozial“ konnte eingestuft werden, wer häufiger oder länger arbeitslos war und dabei abhängig von Wohlfahrtsamt oder Fürsorge, wer viele Kinder hatte, die womöglich schlechte Schulleistungen vorwiesen, wer mit dem Gesetz in Konflikt kam, wer obdachlos oder wohnungslos war. Schnell konnten Menschen, die etwa krank, durch Krieg, geschlechtsspezifische oder familiäre Gewalt traumatisiert waren, oder Frauen, die vermeintlich oder tatsächlich heteronormative Rollenmuster nicht erfüllten, ins Visier der Verfolger geraten. „Asozialität“ wurde dabei als erblich angesehen. Zu „Asozialität“ gehörte auch der „moralische Schwachsinn“, der auch die sogenannte „mangelnde Lebensbewährung“ einschloss. Wer sich im Leben nicht „bewährte“, also etwa arm, arbeitslos oder obdachlos war, geriet daher in Gefahr, als erblich „asozial“ eingestuft und nicht nur keine öffentlich geförderte Wohnung zu bekommen, sondern, nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Juli 1933, zwangssterilisiert zu werden.

Die Ausschlüsse bei der Vergabe staatlich geförderter Wohnungen beschränkten sich nicht auf die während des Nationalsozialismus neu gebauten Wohnungen. In den bestehenden Siedlungen der Weimarer Zeit wurden zunächst jüdische und politisch missliebige Mitarbeiter*innen entlassen. Bei der Vermietung wurden dann dieselben Kriterien angelegt wie bei den nationalsozialistischen Neubauten.

Jüdische Mieter*innen wurden aus dem gesamten Berliner Wohnungsbestand zunächst nach und nach mit fadenscheinigen Begründungen verdrängt. So empfahl der „Reichsbund der Haus- und Grundbesitzer e.V.“ seinen Mitgliedern, sich bei Vermietungen die „Deutschblütigkeit“ bestätigen zu lassen. Im September 1938 bestätigte erstmals ein Amtsgericht das Jüdischsein einer Mieterin als rechtmäßigen Kündigungsgrund. Im April 1939 wurde dies mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ auch gesetzlich festgeschrieben.

Schauen wir noch einmal in die Altbauten, in denen während der Weimarer Republik so viele Menschen für bessere Bedingungen gekämpft hatten

Die Schutzwirkung des Mietrechts, wie sie zu Beginn der Weimarer Republik etabliert worden war, bestehend aus Kündigungsschutz, Ersatzraumvorbehalt, Mietenbegrenzung und kommunaler Wohnungsbelegung, war ja bereits vor 1933 weitgehend abgebaut worden. Die Nationalsozialisten setzten diese Entwicklung fort.

Vermieterkreise stellten sich im Februar 1933 gar auf den Standpunkt, „dass ein Bedürfnis für die Beibehaltung des Mieterschutzes in irgend einer Form nicht mehr besteht“. Vielmehr müsse der „Grundsatz der Vertragsfreiheit“ und der „freien Preisbildung“ im Mietrecht wiederhergestellt werden

Faktisch wurde die gesetzliche Festlegung der Miethöhen nach und nach zurückgefahren. Schließlich wurde die Kompetenz für die Festsetzung der Miethöhen im Jahr 1936 dem Reichsarbeitsministerium übertragen. Im neuen Gesetz hieß es, die Miete sei „so festzusetzen, dass sie […] eine angemessene Verzinsung des Fremd- und Eigenkapitals ermöglicht“. Das heißt, eine Rendite für den Vermieter wurde explizit gesetzlich vorgesehen. Die Wohnung hatte nach nationalsozialistischer Gesetzgebung Renditeobjekt für den Vermieter zu sein, während die soziale Lage, die Lebenshaltung der Mieter*innen, die Wohnung als Lebensmittelpunkt und Basis eines würdevollen Lebens, im Gesetz keine Erwähnung fand. Von einer „Wohlfahrtsdiktatur“, wie heute einige den NS-Staat sehen, kann also keine Rede sein, eher von einer „Renditediktatur“.

Was den Schutz vor Obdachlosigkeit angeht, so bestand der Ersatzraumvorbehalt bei Kündigungen schon Anfang 1933 praktisch nicht mehr und wurde auch nach 1933 nicht wieder eingeführt. Propagandistisch versuchte man die zunehmende Unsicherheit abzuschwächen, indem man bei Kündigungen vorsah, „dem Mieter eine den Umständen nach angemessene Räumungsfrist zu gewähren“ Zu weit dürfe der Schutz vor Zwangsräumungen aber nicht gehen, so der Deutsche Städtetag am 7. März 1933, denn: Kommt man also an einer Stelle zu einem einschneidenden Vollstreckungsschutz, so besteht die Gefahr, dass dieser sich zu einem allgemeinen Moratorium entwickelt. Und ein solches Moratorium bedeutet doch schwerste Gefährdung unserer gesamten Wirtschaft, da dann immer weitere Kreise – Handwerker, Kaufleute usw. – nicht mehr befriedigt werden und auch wiederum ihre Gläubiger nicht mehr befriedigen können.“ Also auch hier ganz klar: Es geht nicht um eine soziale Absicherung der Mieter*innen, sondern im Gegenteil um die Aufrechterhaltung und Absicherung der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsform und der mit ihr verbundenen Ressourcenverteilung zu Ungunsten des verarmten Proletariats.

Dieses drückte man im Gegenteil noch weiter in die Not. Arbeitslose, die von der „Wohlfahrt“ abhängig waren, wurden zunehmend Sanktionen unterworfen. Zwar war dies rechtlich schon in der Weimarer Republik möglich, war aber selten angewandt worden. Ab 1933 gab es laufend Verschärfungen, so dass das Risiko wuchs, die Wohnung aufgrund einer Sanktion zu verlieren. Als „asozial“ eingestuften „Fürsorge“empfänger*innen wurde die Unterstützung sogar dauerhaft gekürzt, so dass sich diese Menschen noch schneller unter den zahllosen Obdachlosen wiederfanden. Wurde gar ihnen „Arbeitsverweigerung“ bescheinigt, konnten „Fürsorge“empfänger*innen in geschlossene Anstalten gesperrt werden. Auch wenn dies befristet war, dürfte die Wohnung dann weg gewesen sein.

Die Bettlerrazzien ab September 1933

Im Sommer 1933 startete der NS-Staat eine großangelegte Presse- und Öffentlichkeitskampagne gegen Bettler*innen und Obdachlose. Diese mündete Ende September in reichsweite Razzien. Polizei, SA, SS und Stahlhelm nahmen nicht nur auf Straßen und Plätzen alle ergreifbaren Obdachlosen und Bettler*innen fest, sondern sie durchsuchten auch Nachtasyle, Notunterkünfte und Herbergen. Die Festgenommenen wurden in Arbeitshäuser und Gefängnisse gesperrt oder in Konzentrationslager verschleppt. Die Arbeitshäuser, die in der Weimarer Republik kaum genutzt worden waren, und die Gefängnisse, die ja bereits mit politischen Gefangenen belegt waren, waren nun überfüllt. Aus bayerischen Städten kamen Menschen in das Konzentrationslager Dachau. In Meseritz in Posen und in Elmshorn entstanden Konzentrationslager für Bettler. „Unter den Millionen hungernden Arbeitslosen waren die Wohnungslosen die schwächsten und ungeschütztesten. An den Ärmsten der Armen exekutierte der nationalsozialistische Staat den Auftakt eines umfassenden Angriffs auf „Asoziale““ schreibt Wolfgang Ayaß.

Die meisten der Festgenommenen wurden nach einigen Wochen wieder entlassen. Sie mussten sich fortan möglichst unsichtbar machen, um nicht wieder in das Verfolgungssystem zu geraten.

Die Vossische Zeitung meldete am 21.Oktober 1933, die Razzia habe eine fühlbare Änderung der Verhältnisse gebracht. Der Straßenbettel sei so gut wie verschwunden, und auch das Musizieren und Hausieren in Häusern und Hinterhöfen habe merklich nachgelassen. Dieselbe Zeitung schrieb Mitte Dezember in einem ausführlichen „Bericht von der Säuberung Berlins“: „Die Maßnahmen der Berliner Polizei und ihre Ergebnisse werden die Billigung aller finden. Die Reichshauptstadt ist innerhalb weniger Monate von einem Übel befreit worden, dessen Ausbreitung eine unerträgliche Belästigung der Berliner und der Besucher ihrer Stadt gebracht hat.“

In den Folgejahren fanden regional immer wieder ähnliche Razzien statt.

Indem er arme Menschen massiv bedrohte und in Anstalten, Arbeits- und Konzentrationslager abschob und viele von ihnen ermordete, gaukelte der NS-Staat die soziale Versorgung und wirtschaftliche Besserstellung der Armen vor, während er gleichzeitig die Wohnungsbauförderung und den gesetzlichen Mieter*innenschutz zusammenstrich und privaten Vermietern die Rendite sicherte.

Die auch heute noch häufig verbreitete Annahme, die Armen der Weimarer Republik hätten im NS-Staat Arbeit und Auskommen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Rüstungsindustrie gefunden oder hätten sich Posten im Verfolgungsapparat gesichert und dadurch seien soziale Probleme gelöst worden, ist bestenfalls ein kleiner Teil der Wahrheit und verschweigt auf perfide Weise den Umgang des NS-Staates mit denen, die er aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgrenzte und brutal verfolgte.

NIE WIEDER FASCHISMUS!