Lützerath: Was bleibt von Lützi?
Was bleibt von Lützi? – Seite 1
Lützerath? Längst aus den
Schlagzeilen. Stoff von vorgestern. Gleich mehrere neue Themen haben die
Aufregung um den nordrhein-westfälischen Weiler und seinen Untergrund
verdrängt. Nur hie und da werden leise Nachgedanken dem
lauten Geschehen zwischen Aktivist/inn/en, Polizei, Politik und Konzern RWE
hinterhergeschickt.
Vorbei ist Lützerath in
gleich mehreren Hinsichten nicht. Mühlrose heißt das sächsische Dorf in der
Lausitz, das als Nächstes vom Verschwinden durch Abbaggern bedroht ist. Und
das, wofür Lützerath steht – oder stand –, wirkt weiter, vor allem bei denen,
die dabei waren – als Demonstrierende und Aktivist/inn/en.
Ich bin mit einigen von ihnen
ins Gespräch gekommen, und die Bilder des Klimadorfes, der Räumung lebten noch
einmal auf. “Es ging in der Berichterstattung kaum um das Symbol, das Lützerath
auch ist”, sagt Moritz, 22, Student aus Hamburg. “Ein Symbol auch für ein
kleines Stück gelebte Utopie. Mir hat es Mut gemacht, zu sehen, dass es möglich
ist, sich als Gruppe in einem gemeinsamen Ziel zu finden und zu engagieren,
eine Gemeinschaftsstruktur aufzubauen, mit Austausch, Kunst, in gelebter
Solidarität.” Céline, 25, Studierende in Witten, ging es ähnlich. Sie beschreibt
den tiefen Eindruck, den die Recherchen und Diskussionen der Aktivist/inn/en vor
Ort bei ihr hinterließen: “Sie standen für Klimagerechtigkeit, aber auch für
soziale Gerechtigkeit mit ihrem eigenen Körper ein.”
Studiert man die
Berichterstattung zu Lützerath in den aufgeregten Tagen selbst, fällt auf, dass
solche Töne, solche Gedanken aus meiner Sicht so gut wie nie den Weg in die großen Medien
fanden. Stattdessen waren die Schlagzeilen und Kommentare auffallend oft
hämisch grundiert. Da war die Rede vom “ganz großen Aktivistenkino” und von “Schein-Inszenierung”. “Politik geht anders, liebe Aktivisten”, mahnte die SZ,
und der Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt schimpfte auf die “verwöhnten Bürgerkinder”, die
sich einen “Abenteuerspielplatz” gebaut hätten, und war mit dieser Tonlage nicht allein.
Zwei Sprachen, zwei Wirklichkeiten
– meilenweit auseinander. Weder die Erfahrungen der Lützerath-Aktivist/inn/en
und Demonstrierenden noch das, was Lützerath für sie bedeutete, fanden Eingang
in die Hauptberichterstattung und auch nicht in die Politik. “Lützerath ist
ein falsches Symbol”, sagte der Wirtschaftsminister Robert Habeck und meinte
damit, dass in Lützerath ja “nicht die Welt gerettet” werde.
Dass es in Lützerath
ausgerechnet die grüne Politik war, die RWE den Rücken stärkte, dass
ausgerechnet einem Robert Habeck, der doch als einer der wenigen die Ebene des
Existenziellen im Kopf hat, hier die richtigen Worte und die richtige Ebene
fehlten, spiegelt den Umstand, um wie viel verstörender und komplizierter die
Weltlage in den letzten 40 Jahren geworden ist.
Kann es überhaupt “falsche
Symbole” geben? Immer, wo sich an einem Ort, in einem Menschen, in einem
Kunstwerk etwas so verdichtet, dass viele Menschen sich dadurch auf das
Existenzielle verwiesen sehen, entsteht ein Symbol. Die meist jungen, gegen
übergroße Konzernmacht und Klimazerstörung aufbegehrenden Menschen in Lützerath
haben den Finger in die Wunde der großen unlösbaren Fragen gelegt und damit
einen Ort zum Symbol für etwas existenziell Bedeutsames erklärt, wie seit den
späten Siebzigerjahren Wackersdorf und Gorleben Symbole gegen atomare
Wiederaufbereitung und Endlagerung geworden waren. Aktuell heißt das Symbol für
Hoffnung in Sachen Klima – und also Zukunft – eben Lützerath.
Der Klimawandel folgt einer anderen Zeitrechnung
Denn die Lage ist ja leider
klar. “Wir stehen erst am Anfang der Auswirkungen der Klimaerhitzung”, sagt
Wolfgang Lucht vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, “Die
Wahrscheinlichkeit wächst weiter, dass es zu Extremwetterereignissen wie
Dürren, Stürmen und Überflutungen kommt. Die Ökosysteme der Erde werden noch
weiter aus dem Gleichgewicht gebracht.” Es steige die Gefahr der Kipppunkte,
sagt Lucht, und damit völlig unabsehbarer Szenarien.
Daran, dass wir in den
letzten 50 Jahren seit dem Club-of-Rome-Bericht von 1972 den damals
aufgezeigten “Grenzen des Wachstums” in viel größeren Schritten nahegekommen
sind als erhofft und erwartet, gibt es keinen Zweifel. Die Demonstrierenden von
Lützerath hatten die Vernunft auf ihrer Seite, als sie argumentierten, es wäre
besser, jene 280 Tonnen Kohle im Boden zu lassen, und sogar nötig, um der
Selbstverpflichtung des Pariser Klimaziels, die Erwärmung nicht auf über 1, 5
Grad ansteigen zu lassen, in Deutschland überhaupt annähernd gerecht werden zu
können. Umso mehr, als es im Blick auf das Ende der fossilen Energiegewinnung
in Nordrhein-Westfalen 2030 die Kohle unter Lützerath laut Auskunft von Claudia
Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung nicht mehr braucht.
Argumentativ ist wenig
einzuwenden gegen den zentralen Gedanken, dass sich mit dem Klima nicht
verhandeln lässt. Der Klimawandel folgt einer anderen Zeitrechnung als
Legislaturperioden. Er gibt einen Takt vor, für den die üblichen
parlamentarischen und bürokratischen Verfahrensabläufe zu langsam sind. Endlich
bestätigt wurde dies im Verfassungsgerichtsbeschluss vom 24. März 2021, der mit
Benennung des staatlichen Auftrags, “Leben und Gesundheit vor den Folgen des
Klimawandels zu schützen”, ausdrücklich dem Recht zukünftiger Generationen
einen obersten Rang einräumte – und damit der Ebene des Existenziellen einen Ort
im gültigen Diskurs zuweist. Auch die Richtung, in die künftige Abwägungen
gehen müssen, ist vorgegeben: “Das relative Gewicht des Klimaschutzgebotes
nimmt in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu.” Denn
natürlich werden Politik und Wirtschaft, wie in Lützerath, weiter auch anders gelagerte Interessen jenseits des Klimaschutzes verfolgen. Die junge
Psychologin Céline hat diesen Widerspruch klar benannt: “Um Lützerath herum
passiert etwas Zukunftszerstörendes, und es passiert im Sinne des Rechtsstaates,
der doch eigentlich Menschen und deren Zukunft sichern sollte.”
Kann man hinter diese
entschiedene Neusortierung von Wirklichkeiten noch zurück?
Kann man in einer Zeit, da
sehr konkret Niedersachsen und Bayern als zukünftig am stärksten betroffen von
den Folgen des Klimawandels benannt werden, den Klimaaktivismus jenseits einer
intellektuellen Offenheit noch abkanzeln und unqualifiziert schmähen? Wie
kommen Medienvertreter/innen dazu, “verwöhnte Bürgerkinder” zu sehen, wo man
auch engagierte, um die Zukunft besorgte junge Mitbürger/innen sehen könnte? Es
wäre eine traurige Vision, wenn das verantwortliche gesellschaftliche
Engagement jener (von uns Älteren verwöhnten) Bürgerkinder so aussehen würde,
dass sie aus Enttäuschung zukünftig an der Klimakrise vorbei an ihren Karrieren
basteln und die sich immer regelmäßiger ereignenden Naturkatastrophen ignorieren, bis ihnen ohne Zweifel die Generation ihrer Kinder die noch markant
krassere Bilanz vorlegen wird. Tatsächlich entsteht der Verdacht, dass dort, wo
es sachlich einfach nichts einzuwenden gibt gegen friedliche Selbstorganisation
und den dringlichen Wunsch nach Priorisierung des Klimaschutzes, nur Häme und
Aggression bleiben, anstelle nicht vorhandener Argumente.
“Ich finde es schwach, nicht
konstruktiv zu kritisieren”, sagt Ruth, 21, Studentin aus Zwickau, zu den
Zuschreibungen. Und Moritz greift den hämischen Vorwurf beim Schopf: “Ich bin
genau das, ein privilegiertes Bürgerkind, – und genau weil mir diese
Privilegien bewusst sind, fühle ich mich ja zu Verantwortung verpflichtet.” Sie
höre diese Vorwürfe immer wieder, sagt Céline. “Aber wir sind ja nicht zum Spaß
hier. Auch ich würde viel lieber ganz andere Dinge machen. Ich würde gern älter
werden, ohne von einer Krise in die nächste zu geraten.” Nein, sie habe sich
das nicht freiwillig ausgesucht. “Wir haben einfach große Angst vor den Folgen
der Klimakrise”, sagt Moritz.
Der Dichter Erich Fried war
nicht jung, als er schrieb: “Wer will, dass die Welt bleibt, wie sie ist / der
will nicht, dass sie bleibt.” Er, der auf vielfältigste Weise lebenslang
aktivistisch für eine friedlichere und gerechtere Welt unterwegs war, wird gern
als Träumer und Utopist gesehen. Nachdem ihm als Jude in Wien die Flucht vor
den Nazis nach England gelungen war, gelang es ihm, für rund 70 jüdische Menschen aus
Nazideutschland die rettenden Visa nach England zu beschaffen. Zeitlebens gab
Fried das engagierte Träumen und das politische Streiten nicht auf.
Muss man es nicht ebenfalls
als vernünftiges Träumen und Streiten bezeichnen, wenn die
Lützerath-Demonstrierenden auf ihre Transparente schreiben: “Wir wollen, dass
die Erde bleibt”?