Literatur und Klassismus: Die Pommes-Kinder

Die sogenannte Klassenliteratur steht an einem kritischen
Punkt. Denn wer sich für die ungleiche Verteilung von Geld, Bildung oder
sozialen Kontakten in unserer Gesellschaft interessiert, hat vermutlich zuletzt
Fundamentales dazu gelesen, von Daniela Dröschers literarischer Biografie Zeige deine Klasse bis Francis Seecks erzählendem Sachbuch Zugang
verwehrt
. Das alte Quartett der von Pierre Bourdieu einst unterschiedenen
Sorten von Kapital
(soziales, ökonomisches, kulturelles, symbolisches) hat es
aus den Sozialwissenschaften zu politisch engagierten Kanälen auf Social Media
geschafft – und mindestens ein Panel zu „Literatur & Herkunft“ ist schon
seit Jahren ein Muss für jede Buchmesse. 

Neu ist der Diskurs um
Klassenverhältnisse also weder außerhalb noch innerhalb des Buchmarkts. Und wer
das Debattenschicksal autofiktionaler Literatur verfolgt hat, weiß, was nun
auch der Literatur zur sozialen Herkunft droht: die Vorhersage ihres baldigen
Endes. Denn ob es Veränderungen bei der Verteilung des Kapitals in allen oben genannten Kapital-Bereichen gibt oder ob wirklich alles zum Thema Klassismus gesagt wäre, stört die Diskurskonjunktur im Literaturbetrieb nicht, der schließlich auch davon lebt, das Thema zu wechseln.

Dabei gibt es vier aktuelle und mitunter sogar sehr neue Bücher, die zur Ehrenrettung des uneigentlichen Genres Klassenliteratur etwas
Neues beizutragen haben: Migrantenmutti von Elina Penner (2023), Die
Verdunstung in der Randzone
von Ilija Matusko
(2023), Dümpeln von Pola
Schneemelcher (2024) und – das neueste Mitglied im Klassen-Club – Pleasure
von Jovana Reisinger (2024). Dieses Vierergespann zeigt, was es wie zum Thema
sozialer Herkunft nach Jahren des Diskurses noch zu erzählen gilt – und zwar mit
einer ganzen Menge Dampf. Frittierdampf, um genau zu sein.
Denn diese Klassentexte lassen sich schon allein deshalb so gut gemeinsam
lesen, weil in allen vier die Pommes (oder aber deren Herstellungsprozess)
inszeniert wird. Auf ihren Buchcovern ebenso wie in ihren Erzählungen.


Elina Penner Migrantenmutti Aufbau

Kinder, Essen ist fertig! Das Coverfoto von Elina Penners Buch „Migrantenmutti“

Elina Penners Migrantenmutti ist gewissermaßen die
Klatsche von unten für bürgerliche deutsche Wohlstandsfamilien und auch für
bürgerliche deutsche Mutterschaftstexte. Wo die einen fragen, wie man die
perfekte Schultüte aus nachhaltigen Materialien bastelt, fragt sich Penner: wofür eigentlich der ganze Stress? Für die Kinder, die sich vor allem für die
Schokolade in der Tüte interessieren, wohl kaum. 

Und auch sonst kann sie mit
den Erziehungs-Olympiaden bei Elternabenden wenig anfangen. Außer, um daraus
einen scharfen Witz zu drehen. Denn bei ihren Ausführungen zu „Einschulung“,
„Fleiß“ oder „Erziehung“ hält die Autorin, die selbst
mennonitisch-plautdietsche Deutsche ist, der nicht-migrantischen Mehrheits- und
Wohlstandsgesellschaft ziemlich gnadenlos den Spiegel vor. In deren
Perfektionsgesten rund um Bildung, Essen oder Medienkonsum sieht Penner unter
anderem den panischen Versuch, sich von einer finanziell schlechter gestellten
und in Serien wie Frauentausch karikierten Mutterschaft abzuheben, die nicht
nur als weniger gebildet dargestellt wird, sondern insbesondere durch ihre
Ernährungsgewohnheiten zum comic relief für die sich auch da bessergestellt
wissenden Zuschauer wird. Stichwort Erdbeerkäse. Oder: (Tiefkühl-)Pommes.
Vermeintliches Unterschichtsessen eben. 

Gleichzeitig kritisiert die Autorin die
Perfektionsgesten innerhalb der aufklärerischen Klassismus-Bubble auf Social Media, in der Gerechtigkeitsdiskurse immer wieder durch Fingerzeigen zum
Selbstzweck verkommen. Etwa, wenn der Begriff Intersektionalität wie ein
Kampfbegriff eingesetzt wird, um die Lücken beim Posting eines anderen
aufzuzeigen. Oder als es auffallend viele finanziell gut gestellte
Aktivistinnen mit Partner waren, die sich gegen die Einkommensgrenzen des
Basiselterngelds im Namen von Mutterschaftsdiskriminierung und Klassismus stark
machten. 

Penners Sprache liest sich dabei wie das literarische
Äquivalent zu den Social-Media-Videos, in denen darüber gescherzt wird, dass
migrantische Kinder bei nicht-migrantischen Familien früher oft im Nebenzimmer
warten mussten, während zu Abend gegessen wurde. Und ja, in diesem hitzigen
Schreiben, das dauernd die nächste Pointe jagt, geht in Penners
Gesellschaftsanalyse auch mal die Präzision flöten. Etwa, wenn sich die Autorin
hier und da den Zusatz „bildungsbürgerlich“ spart und schlicht von „den Deutschen“
schreibt. Oder wenn sie behauptet, dass es in deutschen Familien stärkeres
„Food Shaming“ gebe als in migrantischen. 

Ungenauigkeit erlaubt sich die
Autorin ebenso wie Widersprüchlichkeiten. Denn wer hat in einer
Klassismusdebatte, die schon so lange läuft, noch die Geduld, ständig ein
versöhnliches „Ja, ja nicht alle Deutschen“ anzufügen und dem Leser zu
erklären, dass migrantische oder ökonomisch schlechter gestellte Personen
tatsächlich nicht alle gleich sind. Surprise, Surprise.


Ilija Matuskos Die Verdunstung in der Randzone Suhrkamp

Da wird ein Leben frittiert: Ilija Matusko, „Die Verdunstung in der Randzone“

Ilija Matuskos Die Verdunstung in der Randzone ist dagegen
sehr viel zurückhaltender, wenn es darum geht, Dinge in oben, unten, bürgerlich
oder nicht bürgerlich einzuordnen. Matusko hat eine essayistische Erzählung
geschrieben, die sich weniger für das Aufzeigen von Klassenklischees
interessiert als für die konkreten Momente, in der Klasse auch für die
vermeintlich Aufgestiegenen immer wieder sichtbar, tastbar oder riechbar
wird. So wie Matusko der Pommes-Geruch aus der elterlichen Gaststätte schon als
Kind mit in die Schule begleitete und dort als Anderen riechbar machte. Im
Theater angemeckert zu werden, weil man sich in der Sitzreihe mit der
„falschen“ Körperseite zu seinem Platz quetscht. Nach einer Schreibresidenz
gelobt zu werden, wie sauber man sein Zimmer verlassen hat.

Matusko
dekonstruiert Klassenklischees nicht, indem er sie ausstellt, sondern indem er
widerstandsfähig an ihnen vorbei erzählt. Etwa als er zwischen der Gaststätte
ohne Ruhetage und seinem Frust im Museumsminijob von seinen Stunden auf dem
Tennisplatz schreibt. Man könnte mit Penners Vokabular sagen, bei dem
„Bürgi-Sport“ schlechthin.

Eintauchen, herausnehmen, eintauchen

Matuskos eingängiges Sinnbild, das den Leser auch auf dem
Cover begrüßt, ist nicht wie bei Penner die Pommes selbst, sondern die
Fritteuse. Analog ist es auch der Vorgang des Frittierens – „Eintauchen,
herausnehmen, eintauchen“ –, der in Matuskos Erzählung zum poetischen Bild für
den nie wirklich abgeschlossenen Klassenwechsel wird. Passend zur Bewegung bei
der Fritteuse hieß eine frühere Fassung des Textes
„Herkunft_Aufstieg_Entfremdung.docx“. 

Der Grundgedanke dabei ist nicht neu,
schließlich begegnen wir dem Klassenübergänger, der im Niemandsland zwischen
Herkunfts- und Aufstiegsklasse, in der trans classe, festhängt, schon bei
Christian Baron, Annie Ernaux, Didier Eribon, Édouard Louis und anderen
einschlägigen Klassen-Erzählenden. Und doch gelingt Matusko ein genuin
sinnlicher Zugang zu dem, wie ein Klassenaufstieg permanent Distanz produziert:
Am Ende bleibt nach dem Frittierbad zwischen oben und unten eine Kruste. 


Pola Schneemelcher Dümpeln Almost

Auch im Fritteusen-Business: Pola Schneemelcher, „Dümpeln“

Die namenlose Protagonistin in Pola Schneemelchers Roman
dagegen pendelt nicht zwischen den Klassen, sie „dümpelt“ in ihrer, wie bereits
der Titel verrät. Denn sie hat viel Zeit und kann sich das Abbiegen im
Lebenslauf leisten. Abbiegen für eine Sinnsuche nach Vietnam. Was sie dort
arbeitet, ist ihr eigentlich egal – nur ihrer Tante nicht, von der das Geld für
den Trip kommt. Der muss sie irgendeinen gefälschten Business-Plan vorlegen, um
die finanzielle Unterstützung zu bekommen. Die Nichte entscheidet sich für den
Verkauf von Fritteusen. Doch in Vietnam ist sie eigentlich, um zu sich und ins
Schreiben zu kommen. Schneemelcher zeigt den Klassismus unserer Gegenwart so
einmal nicht aus der Sicht der Klassenaufgestiegenen, sondern mit Blick auf
diejenigen, die schon immer mit den viel beschworenen Privilegien im Gepäck
unterwegs sind. Wortwörtlich.