Literatur | Sachbücher in der DDR: Zwischen Zensur und Wissensvermittlung

Vor vierzig Jahren kam Vom Sinn des Lebens heraus, das Buch, das man bis zum Ende der DDR zur Jugendweihe überreicht bekam. Es war Nachfolger von Der Sozialismus, Deine Welt. Das hatte 1975 Weltall Erde Mensch abgelöst, das seit 1954 in zahlreichen überarbeiteten Auflagen mit insgesamt vier Millionen Exemplaren ein veritabler Sachbuch-Bestseller war. Mutmaßlich eins der ungelesensten, aber ein Leben lang aufbewahrten Bücher. In einem 2007 veröffentlichten Kanon von 50 klassischen deutschen Sachbüchern fanden es sich als ein von gerade mal zweien aus der DDR. Das andere war Siegfried Schnabls Mann und Frau intim (1969). Ebenfalls ein Bestseller, auch er weniger gelesen, dafür oft angesehen. So sollen damals Soldaten von ihren Offizieren Sonderurlaub bekommen haben, um Exemplare zu besorgen.
„Verwendung fanden die Bücher in der Kaserne zweifellos nicht als Erbauungslektüre, sondern als Pornographiesurrogat.“ – so lapidar die Germanistin Kerstin Stüssel. Sie alle waren nach Lesart der DDR gar keine Sachbücher, sondern „populärwissenschaftliche Literatur“. Ihre Intention: massenhafte wissenschaftliche Kenntnisvermittlung gepaart mit politischer Indoktrinierung. Sachbuch hingegen war ein geradezu tabuisierter Begriff, wie Christoph Links, Verleger eines der bedeutendsten Sachbuchverlage seit den Wendejahren, gezeigt hat: Hardlinern galt das Sachbuch als imperialistische Erfindung zur Massenverdummung – ein Gebräu aus Halbwissen und Sensationismus.
Was man für sich selbst reklamierte, war gediegene Wissensvermittlung in allgemeinverständlicher Form. Und die, darüber war man sich einig, musste erheblich ausgeweitet werden. Prädestiniert dafür erschienen Wissenschaftler und Fachleute. Das brachte allerdings massive Probleme mit sich. Denn nur selten genügten die den Anforderungen an eine popularisierende Aufbereitung, stellten die Lektorate immer wieder vor schier unlösbare Probleme. Fanden sich einerseits zu wenige Wissenschaftler als brauchbare Autoren, blieb wiederum denen, deren Metier die allgemeinverständliche Aufbereitung war, den Journalisten, der Zugang verwehrt.
Während in der Bundesrepublik Sachbuchautoren den VS geradezu dominierten, wurde Journalisten, die Sachbücher schreiben wollten, die Aufnahme in den Schriftstellerverband der DDR verwehrt. Das bedeutete, sie durften sich nicht als freie Autoren betätigen. Die Reportageliteratur wiederum, die aus sozialistischer Tradition, Orientierung an der Sowjetunion und aus Vorstellungen von der Mobilisierung schreibender Arbeiter gefordert und gefördert wurde, konnte die Bedarfslücke nicht füllen. So wurden im letzten Jahrzehnt der DDR lediglich 10 bis 12 Prozent der Buchproduktion dem Sachbuchsektor zugerechnet, während es in der Bundesrepublik an die 40 Prozent waren.
Robert Havemanns Artikel über Atom war noch stramm sozialistisch ausgerichtet
Da das aufwendig gemachte Weltall Erde Mensch von vornherein als Summe des Wissens, von Archäologie bis Atomkraft, Städtebau bis Landwirtschaft, konzipiert war, gipfelnd im wissenschaftlichen Sozialismus („Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit“), war es genuin Domäne von Wissenschaftlern. Hier gab es freilich andere als nur Darstellungsprobleme. So, wenn etwa Robert Havemann, dessen Artikel über das Atom noch stramm stalinistisch ausgerichtet war, politisch in Ungnade fiel und er als Autor ersetzt werden musste. So, wenn man vorsichtig den zunächst offensiven Antiklerikalismus aus taktischen Erwägungen zurückfuhr. So, wenn man dummerweise nicht das Gesamtmanuskript eine der aktualisierten Auflagen Ulbricht zur Prüfung geschickt hatte, worauf die Auflage gestoppt wurde, Verlagsleiter und Chefredakteur entlassen.
Das Ganze kostete 200 Tonnen zusätzliches Papier und 280.000 Mark. Naturgemäß gab es bei all‘ den populärwissenschaftlichen Büchern Zensurprobleme. Darunter äußerst kuriose Fälle, wie Siegfried Lokatis eruiert hat. So wurden auf einen Ratgeber zum Bau von Modelleisenbahnen ganze sieben Spezialisten angesetzt, um unter anderem zu gewährleisten, dass die aktuelle Beschilderung der Reichsbahn berücksichtigt wurde. Ähnliches bei Angel- oder Viehzuchtratgebern. Einem Gartenbaubuch, das immerhin dann bis 2003 die 25. Auflage erlebte, war 1956 zunächst zum Verhängnis geworden, dass es zu viele Gartengeräte aus westdeutscher Produktion abgebildet hatte. Nun waren solche Abstrusitäten nicht einfach nur bornierten Zensoren zu verdanken, sondern auch ein Ergebnis bürokratisierter Garantie wissenschaftlicher und technischer Solidität.
Es waren Ratgeber, die neben Lexika oder kunstgeschichtlichen Bildbänden erfolgreiche Exportartikel der devisensüchtigen DDR wurden, nicht nur in Richtung „sozialistischer Bruderländer“, sondern gerade auch in die Bundesrepublik. Das waren zwar dort oft DKP-nahe Verlage, aber auch große Publikumsverlage. So kam Schnabls Mann und Frau intim noch im Erscheinungsjahr 1969 in leicht gekürzter Form und mit verändertem Untertitel bei Bertelsmann heraus. Überhaupt wurden im Westen wegen ihrer fachlichen Solidität und herstellerischen Sorgfalt von Layout bis Bindung die Sachbücher aus Verlagen wie Urania, Neumann, Ziemsen, Edition Leipzig, Prisma Transpress, Neues Leben, Volk und Welt, Hintsdorff sehr geschätzt. Was diesen ob der eingeworbenen Devisen wiederum gewisse Spielräume bescherte. Das betraf Lexika, Hobbyliteratur oder Ratgeber, doch auch Sachbücher für Kinder. Das größte Problem blieb für Verlage und Autoren freilich das, was im Westen oft Bestsellergarantie hatte: das erzählende Sachbuch. Schlichtweg, weil es Journalisten eben aufgrund der institutionellen Unzuständigkeiten und dem Misstrauen gegen das erzählende Sachbuch nicht möglich war, als freie Autoren zu arbeiten.
Ein für DDR-Verhältnisse ausgesprochener Bestseller als packend erzähltes Sachbuch war der 1986 erschienene Bernsteinzimmer-Report von Paul Enke, ein Buch über die Suche nach dem verschollenen, von den Nazis aus der Sowjetunion unbekannt verbrachten Bernsteinzimmer des Zaren. Ein Buch, von dem sein Lektor Peter M. Fritsch sagte, dass ihm daran das Erfolgsgeheimnis des Sachbuchs klar geworden sei. „Der Autor musste ‚dabei‘ gewesen sein, Tatsachen lebendig schildern können, um die Leser zu fesseln.“ Auch dieser Autor war kein freier, sondern Mitarbeiter des MfS, dessen Aufgabe just die Suche nach möglichen Orten des Bernsteinzimmers in der DDR gewesen war.