Lira-Krise droht sich mit Erdogans Wiederwahl zu verschärfen
Als Sahap Kavcioglu am 20. März 2021 über Nacht zum türkischen Notenbankgouverneur ernannt wurde, war die Irritation groß. Und das weniger, weil Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit Naci Agbal den dritten Notenbankpräsidenten innerhalb von zwei Jahren entlassen hatte, sondern weil der Neue weniger als Geldpolitiker denn als Kolumnist regierungsnaher Zeitungen von sich reden gemacht hatte. Darin hatte das AKP-Mitglied – auf der Linie seines Parteiführers und Präsidenten – Zinserhöhungen zur Bekämpfung der Inflation gegeißelt.
Im März 2021 waren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie nicht ausgestanden, und die türkische Notenbank kommandierte ein geldpolitischer Nobody. „Ein Debakel für die Notenbank der Türkei“ schrieb der „Economist“. Und es ist schlimmer gekommen, als es die größten Bedenkenträger erwartet hatten.
Zwei Jahre später bleibt festzuhalten: Kavcioglu, der frühere Banker, Politiker und Universitätslehrer, hat sich länger als seine Vorgänger im Amt gehalten, die de jure, aber nicht de facto unabhängige Notenbank stramm auf den Kurs des Präsidentenpalastes gebracht und die Zinsen weisungsgemäß gesenkt. Daran wird sich wohl wenig ändern. Erdogan schickt sich an, die Stichwahl um das Präsidentenamt am Sonntag gegen Kemal Kilicdaroglu zu gewinnen. Er hat schon angekündigt, die Zinsen weiter zu senken – auch wenn Ökonomen angesichts der hohen Inflation Zinssätze bis zu 40 Prozent für nötig halten. So war es keine Überraschung, dass die Notenbankführung am Donnerstag den Leitzins ließ, wo er seit Februar liegt, bei 8,5 Prozent. Ein wiedergewählter Erdogan dürfte keinen Grund haben, den Notenbankchef auszutauschen.
Auch nach eigenen Maßstäben gescheitert
Dennoch ist Kavcioglu gescheitert, und zwar auch nach seinen eigenen Maßstäben. Bei Amtsantritt hatte er versprochen, die Inflation dauerhaft zu senken, die makroökonomische Stabilität zu erhöhen, das Leistungsbilanzdefizit zu senken und so den Lira-Kurs zu stabilisieren. Passiert ist das Gegenteil.
Für einen Dollar zahlte man bei Amtsantritt Kavcioglus 7,50 Lira, heute sind es 20. Die Verbraucherpreise stiegen um 15 Prozent, heute liegt die Inflation bei 43 Prozent, nachdem sie in der Spitze auf mehr als 85 Prozent hochgeschossen war. (Die Notenbank strebt 5 Prozent an.) Die Leitzinsen wiederum hat der Geldentwerter Kavcioglu um mehr als die Hälfte gekürzt: Von 19 Prozent, die seinem Vorgänger zum Verhängnis geworden waren, auf 8,5 Prozent. Kavcioglu hat dem Zins seine Steuerungsfunktion genommen und einer ineffizienten Ressourcenverwendung Tür und Tor geöffnet.
Die innere und äußere Stabilität des Wertes der Lira ist dahin, das Vertrauen der Bürger und der internationalen Investoren gering. Dafür hat Kavcioglu die türkische Wirtschaft mit Geld geflutet, den Konsum und Importe angeheizt und das Wirtschaftswachstum am Laufen gehalten. Der Geld- und Kapitalmarkt wird mit vielerlei regulatorischen Disziplinierungen manipuliert. Das hat den rapiden Wertverfall der Lira seit einem Jahr zwar gedämpft, dürfte deren gravierende Schwäche aber nur übertünchen.
Williger Vollstrecker Erdogans Niedrigzinspolitik
Festzuhalten bleibt: Das bedingungslose Vollstrecken der Vorgaben des Präsidenten, der Zinsen als Teufelswerk bezeichnet, hat wohl der Wirtschaft geschadet und die Lebensumstände von Millionen Menschen verschlechtert – aber Erdogan nicht die vielfach erwartete Niederlage zugefügt. Im Parlament gibt seine AKP bei kleinen Verlusten weiterhin den Ton an, im Rennen um das Präsidentenamt hat er die Nase vorn.
Notenbankgouverneur Sahap Kavcioglu hat seinen Anteil daran. Aber wer ist dieser vor 56 Jahren in Bayburt, einem 80.000-Einwohner-Städtchen in der nordostanatolischen Provinz, geborene Verfechter einer gegen alle Lehrbuchweisheiten (und Erfahrungen) gerichteten Geldpolitik, dessen Kurzhaarschnitt und dichtgewachsene Oberlippenbart Strenge und Autorität vermitteln?
Kavcioglu studierte Wirtschaftswissenschaft in Izmir. In Istanbul erwarb er einen Abschluss als Wirtschaftsprüfer, später seinen Master und Doktortitel am Institut für Bank- und Versicherungswesen an der dortigen Marmara-Universität, wo er als Professor für Makroökonomie Lehrverpflichtungen wahrnahm.
Als seinen einzigen – undatierten – Auslandsaufenthalt geben Lebensläufe einen Studienaufenthalt am englischen Hastings-College an. Das überrascht, weisen doch Manager in Toppositionen der türkischen Wirtschaft vielfach mehrjährige Studien- oder Arbeitsaufenthalte im Ausland auf – oft in Amerika.
Banker, Politiker, Professor
Kavcioglu blieb weitgehend im Land. Der Karriere des verheirateten Vaters dreier Kinder hat das nicht geschadet. Nach dem Studium zog es ihn ins Bankfach. Er arbeitete sich vor bis zum stellvertretenden Generaldirektor der staatlichen Halkbank. Von dort unternahm er einen Ausflug in die Politik. Im November 2015 wurde Kavcioglu für die AKP als Abgeordneter seiner Heimatstadt Bayburt ins Parlament gewählt, wo er während der Jahre um den Putschversuch und der politischen Restaurierung von Erdogans Präsidialherrschaft im Planungs- und Haushaltsausschuss tätig war.
Das war ein Sprungbrett, um im Jahr 2018 stellvertretender Vorstandsvorsitzender der zweitgrößten staatlichen Bank, der Vakifbank, zu werden, bevor er im Jahr 2021 als 25. Mann an die Spitze der 1931 gegründeten Notenbank berufen wurde.
Seine politische Leistung dürfte darin bestanden haben, die Lira trotz der widrigen Geldpolitik zuletzt halbwegs stabil gehalten zu haben. Nur wenige wissen, wie viele Milliarden an Devisen die Notenbank dafür verbrannt hat.
Feinmaschige Kapitalmarktregulierung
Um an diese Devisen zu kommen, hat sie ein immer feinmaschigeres Netz von Kapitalmarktregulierungen über die türkische Wirtschaft geworfen. Sie schreibt Unternehmen vor, wann sie Devisen in Lira tauschen müssen, bestraft Banken wenn sie ausländisches Geld halten, mit hohen Kosten, lockt Haushalte mit einer staatlichen Versicherung gegen Währungsverfall, ihre Euro- und Dollarbestände in Lira zu tauschen. Von Dollar-Einlagen und Krediten aus Russland, den Golfstaaten und aus Asien in zweistelliger Milliardenhöhe wird berichtet.
Wer den Lira-Kurs verfolge, kenne das Phänomen, schrieb Commerzbank-Volkswirt Ulrich Leuchtmann dieser Tage: Kurze Sprünge des Dollar-Lira-Kurses nach oben würden in kürzester Zeit korrigiert. Es sei klar, „dass die Lira-Kurse, die wir am Bildschirm sehen, künstlich sind und nicht das Ergebnis von Marktprozessen, und dass dieser künstliche Einfluss das Einzige ist, was eine deutlich schwächere Lira verhindert.“ Bis Sonntag werde sich die Zentralbank alle Mühe geben, einen Lira-Absturz zu verhindern. Nicht nur Leuchtmann hält ein Szenario für möglich, „in dem die Dämme brechen und die Lira einen deutlichen Abwertungssprung hinlegt“.
Ökonomen rätseln darüber, wie lange der wirtschafts- und finanzpolitische Kurs noch durchzuhalten ist, mit einem historisch großen Leistungsbilanzdefizit und marginalisierten Finanzreserven. Dass Moskau Ankara schon Kosten für Gaslieferungen von mehr als einer halben Milliarde Dollar stundet, ist nur ein Nebenaspekt in dem ganzen Finanzdrama.
Wachsende Währungskrise, tiefere Zahlungsbilanzprobleme
Die neue Regierung werde, „immer noch mit einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld konfrontiert sein, das durch eine aufgestaute Devisennachfrage und Druck auf die Lira, ein breites Leistungsbilanzdefizit, sinkende internationale Reserven und eine hohe Inflation gekennzeichnet ist“, urteilt die Ratingagentur Fitch.
Ein Verbleib Erdogans an der Macht werde „höchstwahrscheinlich zu politischer Kontinuität und anhaltender Unsicherheit“ führen, mutmaßt Thomas Gillet, Direktor bei der Ratingagentur Scope. Eine lockere Geldpolitik, immer komplexere Vorschriften und eine expansive Haushaltspolitik würden „die Wirtschaft dauerhaft einer ungeordneten Anpassung durch eine wachsende Währungskrise und tiefere Zahlungsbilanzprobleme aussetzen.“ Die wahre Bewährungsprobe könnte Sahap Kavcioglu also erst noch bevorstehen.