Lauterbach die elektronische Patientenakte vorantreiben

Röntgenbilder auf CD, Arztbriefe auf Papier, Befunde per Fax – im Gesundheitswesen scheint die Digitalisierung bisher nicht angekommen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will das ändern und treibt die elektronische Patientenakte voran. Jeder Krankenversicherte soll demnach im nächsten Jahr eine elektronische Patientenakte erhalten. Sie bietet viele Vorteile. Sie könnte etwa gefährliche Wechselwirkungen bei Medikamenten verhindern. Aber es gibt auch Risiken, etwa beim Datenschutz.

Wie ist der Status Quo?

Seit Anfang 2021 können alle 74 Millionen gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) ihrer Krankenkasse erhalten. Es gilt die sogenannte Opt-in-Regelung, das heißt, die Nutzung ist freiwillig. Die Versicherten entscheiden selbst, ob und wie sie die Akte nutzen. Das wurde im Terminservice- und Versorgungsgesetz festgelegt, das noch der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eingeführt hatte. Niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser müssen demnach mit allen erforderlichen Komponenten ausgestattet sein, um die elektronische Patientenakte zu nutzen und zu befüllen.

Für Patientinnen und Patienten heißt das: Sie müssen sich selbst kümmern, wenn sie die ePA nutzen möchten. Dafür müssen sie eine App ihrer Krankenkasse herunterladen und sich für die Nutzung bei ihrer Krankenversicherung registrieren. Anschließend muss die Patientenakte freigeschaltet werden, zum Beispiel mit der elektronischen Gesundheitskarte und einem PIN. Dann können in der Akte Dokumente wie Arztbriefe, Laborwerte und Befunde abgespeichert werden. Wenn sie noch nicht digitalisiert sind, heißt das allerdings: einscannen und hochladen.

Woran hapert es bisher?

Derzeit nutzen weniger als ein Prozent der Patienten die elektronische Patientenakte. Viele wissen nichts davon, anderen ist die Registrierung und Anwendung zu aufwendig. Zudem steht die Ausgestaltung in der Kritik. Ärzte sprechen von einem Sammelsurium an pdf-Dateien ohne Struktur. Laut Stiftung Warentest läuft beim Einrichten, Navigieren und Verwalten von Dokumenten nicht alles reibungslos. Dafür wurden drei ePA-Apps von drei Krankenkassen getestet. Das Fazit: Der Weg zur digitalen Akte ist „noch holprig und fordert viel Geduld“.

Bisher ist die elektronische Patientenakte also keine Erfolgsgeschichte. Das verdeutlicht auch der schleppende Prozess bis zur Einführung. Denn die Idee ist schon 20 Jahre alt. Bereits im Jahr 2003 hatte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eine elektronische Gesundheitskarte auf den Weg gebracht. Die Gründe für die jahrelangen Verzögerungen sind vielfältig. Zunächst hatten Verbände von Ärzten, Krankenkassen, Apothekern und Kliniken den Auftrag, das Projekt voranzubringen. Doch in der eigens dafür gegründeten Gesellschaft „Gematik“ häuften sich Konflikte und Blockaden. Dazu kamen technische Probleme und Diskussionen über die Datensicherheit.

Was plant Lauterbach?

Der Bundesgesundheitsminister will das Verfahren grundlegend ändern. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ kündigte Lauterbach für Ende 2024 ein neues, verbindlicheres Verfahren an, das sogenannte Opt-out-Verfahren. Jeder, der nicht ausdrücklich widerspreche, solle automatisch dabei sein. Auch bei den Patienten, die sich selbst nicht mit der Einrichtung der elektronischen Akte beschäftigen möchten, solle sie zur Verfügung stehen. Ärzte könnten die Akte dann zum Beispiel zum Austausch von Informationen nutzen. Selbst wenn die Versicherten sich keine entsprechende App herunterladen und der Nutzung nicht aktiv zustimmen. Auf dieses Vorgehen hatten sich SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag verständigt.

Zudem will Lauterbach die Nutzung von Gesundheitsdaten für die medizinische Forschung erleichtern. Ansonsten spiele Deutschland in der pharmazeutischen Forschung bald keine Rolle mehr. Es gebe zwar jetzt schon eine Menge Daten, die aber getrennt voneinander liegen würden, etwa in den Krankenhäusern, bei den Krankenkassen und dem Krebsregister. Diese Daten sollen in pseudonymisierter Form für Forschungszwecke kombiniert werden können. Pseudonymisiert bedeutet, dass der Name und andere Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen ersetzt werden.

Auch Janosch Dahmen, der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, sieht darin einen Vorteil. Dadurch werde die konkrete Identität versteckt. Trotzdem würde auf diese Weise ermöglicht, Forschung für bestimmte Gruppen, zum Beispiel Geschlechter oder Kinder zu betreiben.

Wie würden Patienten profitieren?

Der Vorteil liegt für Mediziner auf der Hand. Eine funktionierende elektronische Patientenakte würde schnell Aufschluss darüber geben, welche Medikamente eine Patientin oder ein Patient einnimmt, welche Vorerkrankungen vorliegen, welche Untersuchungen im Vorfeld durchgeführt wurden und wie frühere Behandlungen verlaufen sind. Viele dieser Informationen liegen derzeit verteilt in den verschiedenen Arztpraxen und Krankenhäusern.

Dabei könnten sie im Notfall lebensentscheidend sein, etwa wenn Ärzte in der Notaufnahme einfach digital auf die Krankengeschichte des Patienten zurückgreifen könnten, sagt Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv- und Notfallmedizin. Um das Vertrauen in die Akte zu stärken, spricht sich Gesundheitspolitiker Dahmen dafür aus, dass sensible Gesundheitsinformationen nur abgestuft eingesehen werden können. Eine „Verschattung“ von ePA-Inhalten hätte zur Folge, dass bestimmte Informationen also nur ausgewählten behandelnden Ärzten zur Verfügung stünden.

Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hält es für sinnvoll, den Versicherten eine solche Abstufung zu ermöglichen. Der Rat hatte sich bereits 2021 für das Opt-out-Verfahren ausgesprochen. Für jede Person solle mit der Geburt eine elektronische Patientenakte eingerichtet werden. Der Rat argumentiert: Daten teilen, heiße besser heilen. Die Experten versprechen sich zum einen eine zielgenauere Therapie für die Patienten. Zum anderen Vorteile für die Forschung. Sie empfehlen, die Behandlungsdaten pseudonymisiert an eine zentrale „Sammelstelle“, ein Forschungsdatenzentrum weiterzuleiten, das diese Daten verwaltet, sichert und für Forschungszwecke zur Verfügung stellt.

Welche Bedenken gibt es?

Es besteht die Gefahr, dass die Daten in falsche Hände geraten und dies bei unsachgemäßer Verwendung gravierende Folgen haben könnte. Zum Beispiel soziale Stigmatisierung oder Diskriminierung für die betroffenen Personen etwa auf dem Arbeits- und Versicherungsmarkt.

Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer forderte deshalb kürzlich geeignete Transparenz- und Aufsichtsstrukturen, welche die Datensicherheit und die Einhaltung ethischer Standards sichern. Die Einführung einer Opt-out-Lösung müsse in jedem Fall von einer breiten gesellschaftlichen Debatte und einer umfassenden Information der Bevölkerung begleitet werden.

Dass Patienten gemäß Lauterbachs Plänen der Nutzung ihrer Daten nicht mehr aktiv zustimmen müssten, geht der Deutschen Stiftung Patientenschutz prinzipiell zu weit. „Die elektronische Patientenakte ist sinnvoll und richtig“, sagt Eugen Brysch von der Stiftung. Die Akte dürfe aber die Patientenrechte nicht aushebeln. Schweigen sei niemals Zustimmung, das gelte bei den Daten genauso wie bei medizinischen Eingriffen. Datenschutzrechtlich möglich wäre die Opt-out-Regelung aber wohl je nach Ausgestaltung. Die Bundesärztekammer verweist auf die Datenschutz-Grundverordnung. Der zufolge ist die Verarbeitung besonders sensibler personenbezogener Daten wie Gesundheitsdaten nur auf Grundlage einer Einwilligung der betroffenen Person zulässig oder aufgrund eines Gesetzes. Ein solches Gesetz müsste Lauterbach noch auf den Weg bringen.

Was sagt der Bundesdatenschutzbeauftragte dazu?

Bislang wenig. Ulrich Kelber hält sich in der Debatte zurück. Auf Anfrage aus dem ARD-Hauptstadtstudio lässt Kelber mitteilen, dass er aktuell nicht für ein Interview zu dieser Thematik zur Verfügung stehe. Ob dies auf Differenzen mit den Plänen des Ministers hindeutet oder Kelber die genaue rechtliche Ausgestaltung des Vorhabens abwarten will, ist unklar. Zuletzt hatte sich der Bundesdatenschutzbeauftragte kritisch zu dem angestrebten Verfahren geäußert, auf die Akte nur zu verzichten, wenn Patientinnen oder Patienten aktiv widersprechen.

Dem Berliner „Tagesspiegel“ hatte Kelber im November 2022 gesagt, dass man datenschutzpolitisch nicht gut beraten sei, auf Opt-out umzusatteln, wenn man das Vertrauen der Bevölkerung möchte. Er bemängelte, dass ganz viele Anwendungsbereiche noch fehlten, insbesondere strukturierte Daten, Notfallakte und Medikamentenplan und am Anfang auch grundlegende Funktionalitäten zum Schutz der Daten. Das Vertrauen in die Digitalisierung des Gesundheitssektors stärke man so nicht.

In der sogenannten Petersberger Erklärung zur datenschutzkonformen Verarbeitung von Gesundheitsdaten in der wissenschaftlichen Forschung forderten die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern im November 2022 eine gesetzliche Grundlage. Als grundlegende Garantien und Maßnahmen wurden Verschlüsselung, die Pseudonymisierung durch eine Vertrauensstelle oder die frühestmögliche Anonymisierung der Daten genannt. Zudem müssten weitere Anforderungen an das Verfahren und die Durchführung der Forschung gestellt werden.

Tagesschau