Laura Poitras: „In den USA ist der investigative Journalismus nach 9/11 kollabiert“
Laura Poitras gehört zu den wichtigsten Filmemacherinnen der Gegenwart. Mit den Waffen der Kunst erzählt ihre neue Dokumentation vom Kampf gegen die Opioidkrise der USA.
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Laura Poitras
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„In den USA ist der investigative Journalismus nach 9/11 kollabiert“ – Seite 1
„All the Beauty and the Bloodshed“
heißt die neue Dokumentation von Laura Poitras. Die oscarprämierte Regisseurin,
die mit politischen Filmen über Edward Snowden und Julian Assange bekannt
wurde, zeichnet darin ein überraschend intimes Porträt der Fotokünstlerin Nan
Goldin. Zugleich verknüpft sie Goldins Geschichte mit dem Kampf gegen die
Opioidkrise in den USA. Im Interview spricht Poitras über die Verantwortung des
Pharmakonzerns Pfizer für diese Krise, über den Zustand des investigativen
Journalismus und ihren Anspruch, Gegennarrative zu offiziellen Darstellungen zu
schaffen.
ZEIT ONLINE: Laura Poitras, in ihren Filmen Citizenfour (2014) und Risk (2016) haben Sie sich mit Whistleblowern beschäftigt,
beide Arbeiten sind im Grenzgebiet zwischen Dokumentation und investigativem
Journalismus angesiedelt. Inwiefern knüpft ihr neuer Film All the Beauty and
the Bloodshed über die Fotografin Nan Goldin daran an?
Laura Poitras: Ich interessiere mich immer für Machtstrukturen
und die Art und Weise, wie sie missbraucht werden. In All the Beauty and the
Bloodshed geht es ja nicht nur um Nan Goldin als Künstlerin, sondern auch
um ihren Kampf gegen die mächtige Sackler-Familie, die mit ihrem Pharmakonzern
Pfizer und dem Schmerzmittel Oxycontin für den Tod von Hunderttausenden
Menschen verantwortlich ist. Weder die US-Regierung hat die Sacklers zur Rechenschaft
gezogen noch irgendein anderes Land, das die Einführung des Opioids erlaubt
hatte. Als das Ausmaß der Katastrophe längst bekannt war, ließen sich noch
immer Museen überall auf der Welt ganze Gebäudeflügel von den Sacklers sponsern.
ZEIT ONLINE: Goldin gründete die Organisation
P.A.I.N. (Prescription
Addiction Intervention Now), mit der sie erfolgreich gegen das
Sponsoring der Sacklers in Kunstkreisen vorging.
Poitras: Als Künstlerin und Aktivistin macht
sie natürlich etwas anderes als ein Whistleblower wie Snowden. Aber auch Nan
ist eine Kämpferin, die nicht tatenlos zusehen kann, wenn schlimmstes Unrecht
geschieht. Sie hat viel aufs Spiel gesetzt, ihre eigene Karriere, und sich mit
mächtigen Gegnern angelegt.
ZEIT ONLINE: Für Goldin als Künstlerin haben Sie
sich nur in zweiter Linie interessiert?
Poitras: Das würde ich so nicht sagen. Ich
verfolge ihr Schaffen seit den Achtzigerjahren und gerade so schonungslose und
mutige Arbeiten wie ihre Fotoshow The Ballad of Sexual Dependency haben mich
beeinflusst. Ich hatte für All the Beauty and the Bloodshed aber
nie eine konventionelle Künstlerinnenbiografie im Sinn. Wir haben uns über Umwege kennengelernt,
und irgendwann erzählte sie mir, dass sie damit begonnen habe, die Aktionen und
Treffen von P.A.I.N. zu filmen. Sie wollte den Kampf gegen die Sacklers und die
Opioidkrise dokumentieren, und das weckte natürlich mein Interesse.
ZEIT ONLINE: Im fertigen Film ist Goldin nun
doch sehr präsent …
Poitras: … was sicherlich nicht ihre Absicht
war. Aber es ist immer so, dass sich die ersten Ideen zu einem Film vom
Endergebnis unterscheiden. Ich merkte sehr früh, dass viele Aspekte von Nans
Aktivismus auch in ihrer Kunst präsent sind. 1989 organisierte sie zum Beispiel
in New York die Ausstellung Witnesses: Against Our Vanishing, eine Reaktion
auf die damalige Aidskrise. Das musste unbedingt in All the Beauty and the
Bloodshed vorkommen, schon deshalb, weil Nan selbst sagte, dass ihr damals
eine ganze Generation von Freundinnen und Weggefährten weggestorben sei. Natürlich
möchte sie verhindern, dass dies mit der Opioidkrise noch einmal passiert.
ZEIT ONLINE: Die Interviews, die Sie für All
the Beauty and the Bloodshed mit Goldin geführt haben, sind im Film nur zu
hören, aber nicht zu sehen. Warum?
Poitras: Ich wollte mit diesen
Gesprächen größtmögliche Intimität herstellen. Jede weitere Person im Raum
hätte gestört, erst recht mit einer Kamera. Schon in unseren Vorgesprächen hatte
Nan so offen über die dunkelsten Momente in ihrem Leben berichtet, dass ich an
dieser Dynamik auf keinen Fall rütteln wollte.
ZEIT ONLINE: Im Film erfährt man,
dass Goldin selbst Heroin und später auch Oxycontin genommen hat. Gab es Dinge,
über die sie nicht mit Ihnen sprechen wollte?
„Der Krieg wurde praktisch überall bejubelt“
Poitras: Nein, sie ist da
ziemlich schonungslos, auch sich selbst gegenüber. Und es ist bei solchen
Gesprächen immer so, dass ich genauso viel Intimes von mir preisgebe wie die
Person, die ich interviewe. Das trägt zur Vertrauensbildung bei. Außerdem gab
es eine Vereinbarung zwischen uns, eine Art Sicherheitsnetz. Durch dieses Netz
konnte nichts hindurchfallen, was nicht in den fertigen Film gehört hätte.
ZEIT ONLINE: Dass die Protagonistin
eines Dokumentarfilms über verwendete Zitate mitentscheiden kann und ein
Vetorecht hat, ist üblich. Aber hatte Goldin, weil sie selbst Künstlerin ist, besonders
starke Meinungen zur Umsetzung Ihres Films?
Poitras: Zum Vetorecht ist mir
wichtig zu betonen, dass ich den Protagonisten meiner Filme die fertigen Versionen
nicht vorab zeige. Niemand kann nachträglich seine Eitelkeiten pflegen oder
wahllos Gesagtes zurückziehen. Bei meinem Film über Edward Snowden war aber ebenso
wichtig, dass nichts darin vorkommt, was ihn in Gefahr hätte bringen können.
Schon winzige unbedachte Details hätten Aufschluss über seinen Aufenthaltsort
geben können, irgendein Gegenstand im Bildhintergrund oder das Geräusch einer
bestimmten Tastatur. In den Nachgesprächen mit Nan ging es um andere Dinge.
ZEIT ONLINE: Worum denn?
Poitras: Ich wollte, dass sich
Nan nicht nur inhaltlich, sondern auch künstlerisch in dem Film wiederfindet. Sie
hatte Anregungen und Ideen, nicht zuletzt, was die Musik angeht. Das letzte
Wort blieb zwar mir als Regisseurin, doch eine echte Kooperation mit Nan war
diesmal unumgänglich. Das ist wohl der große Unterschied zwischen All the
Beauty and the Bloodshed und meinen anderen Filmen.
ZEIT ONLINE: Beim International
Documentary Film Festival sagten Sie letztes Jahr, dass es Ihnen mit Ihrer
Arbeit vor allem darum gehe, den Mythos des US-amerikanischen Exzeptionalismus
zu entzaubern. Gab es für diese Triebfeder einen konkreten Auslöser?
Poitras: Sicherlich 9/11. Mein
ganzer Werdegang als Regisseurin fällt in dieses dunkle Kapitel
US-amerikanischer Geschichte, das mit den Anschlägen auf das World Trade Center
begann. Das Gefängnis auf Guantanamo Bay, das bis heute weiterbetrieben wird, Abu
Ghraib und die Foltermemos der CIA, den Krieg im Irak, der ohne Legitimation
geführt wurde – all das habe ich mit meiner Arbeit dokumentiert, immer mit dem
Ziel, ein Gegennarrativ zur offiziellen Darstellung der Lage zu erschaffen. Kritischer
und investigativer Journalismus sind in den USA in der Zeit nach 9/11 kollabiert.
Der Krieg wurde praktisch überall bejubelt, die wichtigen Fragen wurden nicht
gestellt. In der New York Times wurde nicht einmal das Wort „Folter“ verwendet, wenn es um die Methoden der CIA ging. Zehn Jahre
lang schrieb die Zeitung von „harschen Befragungstaktiken der
Regierung“.
ZEIT ONLINE: Hat sich der
US-Journalismus erholt?
Poitras: WikiLeaks und die
Enthüllungen von Edward Snowden haben den investigativen Journalismus zumindest
in gewisser Weise wiederbelebt. Und Dokumentarfilme wie meine können diese Form
des Journalismus zwar nicht ersetzen, aber ergänzen. Es gab ja Gründe dafür,
dass Snowden damals zu mir kam und nicht zur New York Times. Dort hätte
er befürchten müssen, dass seine Enthüllungen nicht veröffentlicht werden.
ZEIT ONLINE: Haben Sie noch Kontakt zu
Snowden?
Poitras: Ja, natürlich. Auch zu Julian Assange, dessen Lage als politischer Gefangener unverändert schlimm ist. Sollte
er tatsächlich von Großbritannien an die USA ausgeliefert und dort vor Gericht
gestellt werden, wäre das eine Katastrophe. Es würde Tür und Tor für
Verfolgungen öffnen. Ich könnte die nächste sein, und kein Journalist wäre mehr
sicher. Nach wie vor schockiert mich, wie wenig Aufruhr der Fall Assange
international auslöst. Er ist ein Journalist, der Kriegsverbrechen der
US-Regierung öffentlich gemacht hat. Dass Großbritannien oder Australien so
jemanden nicht vor politischer Verfolgung beschützen können, ist furchtbar.
„All the Beauty and
the Bloodshed“ läuft in deutschen Kinos.