Laura Poitras’ Film „All the Beauty and the Bloodshed“: Eindrückliches Porträt
Letzte Vorbereitungen werden getätigt – „Haben alle ihre Flaschen dabei?“ – , dann betritt die Gruppe den Sackler-Flügel, jenen Anbau des Metropolitan Museum of Art in New York, in dem der römisch-ägyptische Tempel von Dendur untergebracht ist. Auf ein Zeichen startet die aktivistische Intervention: „100.000 Tote, Tempel des Geldes, Tempel der Gier!“, rufen die Aktivist:innen, und dann: „Sacklers lie, thousands die!“ („Die Sacklers lügen, Tausende sterben!“) Andere Besucher:innen des Ausstellungshauses steigen mit ein in die Rufe, viele von ihnen zeichnen gleichzeitig die Aktion von Nan Goldin und Gefährten/Gefährtinnen mit ihren Smartphones auf. „Shame on Sackler“ („Schande über Sackler!“) steht auf einem Banner, Aktivist:innen liegen, stellvertretend für die vielen Opfer der Opioid-Krise in den USA, vor dem Tempel auf dem Boden, Hunderte von neonfarbenen Pillenfläschchen schwimmen auf dem Wasserbecken in der lichtdurchfluteten Halle.
„Prescription Addiction Intervention Now“, kurz P.A.I.N, nennt sich die von der Fotografin Nan Goldin initiierte Gruppe, die gleich zu Beginn von Laura Poitras’ Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed in Aktion zu sehen ist. P.A.I.N wurde gegründet, um aktivistisch gegen die Familie Sackler zu demonstrieren, die als Mäzenatenfamilie Kunstinstitutionen rund um den Globus finanziell unterstützt und die zugleich als Eigentümer des Konzerns Purdue Pharma ganz wesentlich der Opioid-Krise den Weg geebnet hat.
Kapitalistengier
Es ist eine Geschichte aus der Hölle der kapitalistischen Gier: Die Sacklers, vorher bereits im Medikamentenvertrieb aktiv, brachten Mitte der 1990er mit dem 1892 gegründeten Unternehmen Purdue Pharma das stark süchtig machende Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt und bewarben es aggressiv als Wundermittel mit geringem Suchtpotenzial. Ein Aufseher der US-Arzneimittelbehörde FDA wurde gekauft, sodass das nie in Studien getestete Medikament samt Packungsbeilage, die über das Abhängigkeitsrisiko falsch informierte, in nur einem Jahr zugelassen wurde. Das war der Anfang einer seit zwei Jahrzehnten grassierenden Opioid-Epidemie. Mittlerweile sterben in den USA mehr als 100.000 Menschen jährlich an einer Überdosis.
Poitras rekonstruiert diese Ereignisse, die bereits popkulturell in Serien wie Dopesick (eine Produktion für den US-amerikanischen Kabelsender Hulu, hierzulande auf Disney+ zu sehen) verarbeitet wurden, nicht im Detail. Vielmehr konzentriert sie sich in diesem Erzählstrang ihres beim Filmfest in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Films auf den Kampf von P.A.I.N., die die Verquickung des Sackler’schen Mäzenatentums mit Museen und anderen Kulturinstitutionen öffentlich bekannt machen und kritisieren. Nan Goldin gründete die Gruppe 2017, nachdem sie selbst eine Oxycontin-Sucht hinter sich gebracht hatte und fast an einer Überdosis Fentanyl gestorben wäre.
All the Beauty and the Bloodshed begleitet die Gruppe bei Aktionen im Louvre in Paris und im Guggenheim Museum in New York, bei Treffen in Goldins Wohnzimmer in Brooklyn oder bei Gerichtsterminen. Nachhallend ist jene Szene, in der per Video zugeschaltete Mitglieder der Familiendynastie mit Teflon-Mienen dreinblicken, während Oxycontin-Opfer sie mit ihren heftigen Schicksalen konfrontieren.
Großartig macht diesen dichten, geschickt montierten Dokumentarfilm, wie Poitras die dringlichen aktivistischen Aktionen mit einem Porträt der Künstlerin Nan Goldin verwebt. Die Fotografin ist, daran lässt diese zweite Erzählebene keinen Zweifel, eine selbstbewusste Frau, deren Antrieb gegen die Sackler-Familie sich aus ihrer schillernden Biografie manifestiert. Und sie ist eine fantastische und verblüffend offene Erzählerin, wie sie da selbst mit angenehm rauer Stimme durch ihre Geschichte führt, die sich mit jeder Faser am Konventionen-Korsett des amerikanischen Konservatismus gerieben hat.
Echte Erinnerungen seien ihr Antrieb, sagt Goldin. Sie erzählt von der Enge des Lebens in der Vorstadt bei den Eltern, die, so Goldin, im Grunde nie für Kinder gemacht waren und lediglich der Konventionen wegen überhaupt eine Familie gegründet haben. Einschneidend war der Tod der älteren Schwester Barbara, die sich mit 18 Jahren vor einen Zug warf. Bei Barbara wurde eine angebliche Geisteskrankheit diagnostiziert, sie wurde von den Eltern verstoßen. Aus Selbstschutz und auf Empfehlung eines Psychiaters verließ Goldin ihrerseits die Eltern, landete in Pflegefamilien und schließlich bei der Fotografie. „Die Fotografie war immer ein Weg, die Angst zu überwinden“, so Goldin.
Goldin machte sich frei, lebte in der Subkultur Bostons in separatistischen lesbischen Communitys. Sie studierte Fotografie in Boston und später in New York, wo sie mit ihren so poetischen wie schonungslosen Fotografien ihr Leben in und ihre Eindrücke aus der Gegenkultur der 1970er und 1980er Jahre festhielt. Goldins Geschichte und Arbeit ist eng verknüpft mit Themen wie Sexualität, Queerness, Drogen, Gewalt und schließlich auch der grassierenden AIDS-Epidemie, der viele ihrer Wegbegleiter:innen zum Opfer fielen.
Sublimation für Sex
Ihre bekannteste Serie, die mit Musik unterlegte Diashow The Ballad of Sexual Dependency, zeigt Schnappschüsse unterschiedlicher Paare auf Betten, in Bars, Bordellen, Pensionen. In den kleinen Gesten und Blicken der Abgelichteten offenbaren sich (sexuelle) Begehrlichkeiten und Hierarchien. Einmal im Film beschreibt Goldin die Fotografie „als Sublimation für Sex“. The Ballad of Sexual Dependency setzt sich über die Jahre hinweg immer wieder aus neuen Bildern zusammen, und analog dazu inszeniert Poitras Nan Goldins Biografie als atmosphärische und persönliche Diashow.
Ihr Film sei, erklärt die US-amerikanische Dokumentarfilmregisseurin in Interviews, eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen zwei Künstlerinnen. Das trifft es sehr gut, denn Poitras hat das Material der Fotografin, ihren Duktus und ihren rebellischen Vibe in einen vielschichtigen Film übersetzt. In sieben Kapiteln verschweißt All the Beauty and the Bloodshed das subkulturell geprägte Künstlerinnenporträt mit einem Stück amerikanischer Geschichte und erzählt durch Goldins Augen von der Verquickung zwischen Privatem und Öffentlichkeit, von aktivistischer Kunst und künstlerischem Aktivismus.
Auf Goldin und ihre Geschichte aufmerksam wurde Poitras 2019 während eines von der deutschen Künstlerin Hito Steyerl organisierten Frühstücks. Dort erzählte die Fotografin von ihrem Kampf mit P.A.I.N. gegen die Sacklers – und rannte damit bei der Regisseurin, die sich auf investigative dokumentarfilmische Porträts spezialisiert hat, offene Türen ein. Die beiden Künstlerinnen scheinen Schwestern im Geiste. „In dieser Gesellschaft werden die falschen Dinge geheim gehalten. Und das zerstört die Gesellschaft“, sagt Goldin einmal in All the Beauty and the Bloodshed, und die Worte könnten genauso gut aus Poitras’ Mund stammen.
Die Regisseurin widmet sich in ihren filmischen Recherchen brisanten Themen – auch auf die Gefahr hin, selbst Repressionen ausgesetzt zu werden. Infolge ihres zweiten Dokumentarfilms Irak – Mein fremdes Land wurde sie 2006 vom US-Außenministerium auf die Watchlist gesetzt und vom Heimatschutzministerium als „terrorverdächtig“ eingestuft. Der Film blickt während des Versuchs, im US-amerikanisch besetzten Irak Parlamentswahlen abzuhalten, kritisch auf die Repressalien durch verschiedene Akteure aus den US-Reihen. Ihr Kurzfilm The Program handelte vom NSA-Whistleblower William Binney. 2015 gewann sie mit Citizenfour, ihrem Film über den Whistleblower Edward Snowden, den Dokumentarfilm-Oscar. 2016 war sie mit Risk, ihrem Porträt über Julian Assange, in Cannes in der Reihe Quinzaine des réalisateurs zu Gast.
Laura Poitras’ Dokumentarfilme sind künstlerisch-journalistische Interventionen für die Aufklärung. Auch wenn die Regisseurin, wie sie in Interviews sagt, daran zweifelt, dass ein Film Strukturen verändern kann, ist sie sich seiner Macht als Massenmedium sehr bewusst. All the Beauty and the Bloodshed bringt die Sackler-Familie nicht zu Fall, aber er dokumentiert eindrücklich, wie es dazu kam, dass sich heute immer mehr Kultureinrichtungen weltweit von den toxischen Philanthropen abwenden.
All the Beauty and the Bloodshed Laura Poitras USA 2022, 122 Minuten