Lars Eidinger: Letztes Lamm auf der Schlachtbank

In der Reihe „Die Pflichtverteidigung“ ergreifen wir das Wort für Personen, Tiere, Dinge oder Gewohnheiten, die von vielen kritisiert und abgelehnt werden. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 11/2023.

Lars Eidinger ist ein Lutscher, da sind
sich alle einig, das findet sogar sein alter Schauspiellehrer. In einer Szene aus
dem neuen Dokumentarfilm Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein (kleiner
ging’s natürlich nicht) erzählt dieser Schauspiellehrer, wie sein Schüler einmal
Schiller spielen wollte, Die Räuber, Franz Moor, typischer Schauspielschulenmonolog.
Statt aber irgendwie den Text aufzusagen, sei Eidinger auf die Idee gekommen,
das Vergrübelte von Franz Moor wortlos darzustellen, durch Gesten und Mienen, ein
Lutschbonbon in seinem Mund und einen Berg aus Lutschbonbonpapier vor seinen
Füßen. Voller Bewunderung sagt der Schauspiellehrer also: „Der Lars hat
sich die Figur erlutscht.“

Nächste Woche kommt Sein oder nicht Sein ins Kino, dann wird es noch mehr solche Eidinger-Geschichten geben. Juliette
Binoche und Isabelle Huppert singen in dem Film von Reiner Holzemer Loblieder
auf den Schauspieler, der Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier spricht über
seine daddy issues mit Eidinger, und Eidinger selbst sieht man probend
und wütend, kleinlaut und suchend, immer wieder weinend, mit verschmiertem Theatergesicht
und einem veritablen Ausraster, den der Regisseur einer Jedermann-Inszenierung
in Salzburg
abbekommt. Es geht in Sein oder nicht Sein um eine
Künstlerseele, aus der Schaffenskraft und Schöpfungsgeist, Genie und Empfindsamkeit nur so heraustränen. Es ist
also ein Film für die Hater von Lars Eidinger geworden.

Menschen, die diesen Schauspieler nicht mögen, gibt
es unter Twitter-Usern und FAZ-Abonnentinnen, Kulturbetriebsmenschen und ganz normalen
Steuerzahlerinnen. Zunächst hatte deren Abneigung wohl eher kunstverwandte Gründe, sie mochten
vielleicht keine deutschen Filme oder Schauspieler, in deren Gesichtern zwei
Dinge gleichzeitig passieren. Der Vorwurf an Eidinger: Ganz egal, ob er das
kronloyale Riesenbaby in Babylon Berlin gibt oder all die
durchgeknallten Shakespeare-Könige am Theater – letztlich spielt er doch
immer nur sich selbst. Andere Schauspieler werden in ihren Rollen zu anderen
Menschen, wie sich das gehört. Lars Eidinger aber wird in seinen Rollen noch
mehr zu Lars Eidinger, als er eh schon Lars Eidinger zu sein scheint.

Jeder Auftritt des Künstlers ist ein Einfamilienhaus,
alles, was er tut, nimmt zu viel Platz weg, verbraucht zu viel Energie und kreist
in unzeitgemäßer Weise um sich selbst. Wenn Eidinger sündteure Alditüten designt und sich
damit vor Obdachlose stellt, denkt er nicht an die Mitgefangenen und -gehangenen.
Wenn ihm die Tränen kommen bei Pressekonferenzen, dann zeichnet seine hochsensible Art auch
etwas Ultratrampeliges aus. Eidinger fühlt alles ganz arg, scheint daraus aber
kein Gefühl für die Implikationen des eigenen Schaffens zu entwickeln. Das nervt
die Leute dann offenbar, und das ist auch okay so.

Lars Eidinger nervt aber nicht nur, weil
er Lars Eidinger ist. Sondern auch, weil nicht jeder Lars Eidinger sein kann.
Als Schauspieler fehlt ihm das Dienstleisterische, das irgendwann aus deutschen
Drehbüchern auf die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen abgefärbt hat. Als
Aktionskünstler zeichnet ihn eine Bereitschaft zu Aktionskünstlerdingen aus,
die im normalen Berufsleben mit Abmahnungen und Sensibilisierungskursen sanktioniert
werden: Entgrenzung, Entblödung, Entblößung. Dass Eidinger dabei vollkommen
ungefährlich bleibt, ist vielleicht sogar sein größtes Vergehen. Immer performt
er über den Sicherheitsnetzen des hiesigen Kulturbetriebs und jedes Mal finden
sich ein paar Empörte, die ihm dieses Netz gern wegzögen.

Eidinger greift also nach den Sternen in
einem Land, in dem schon der Griff zum etwas länger gereiften Gruyère an der
Käsetheke als verwegen gilt. Er ist tatsächlich ein Künstler, umgeben von Beamten,
das letzte Lamm auf der Schlachtbank, ein Bündel voll offener Nervenenden unter
lauter Menschen, die nur dann mit ihren Gefühlen in Kontakt kommen, wenn der HSV
mal wieder die Relegationsspiele verliert. Und das ist noch nicht mal das
Problem. Das Problem ist, wie wenig Eidinger tun muss für die Abneigung,
die ihm entgegenschlägt. Wie ungewöhnlich blass er eigentlich bleibt in der Rolle
des Exzentrikers und Provokateurs und wie viel schräger er den Leuten damit
reinfährt als mit jedem seiner Shakespeare-Auftritte.

„Ich steh‘ über gar nichts“,
sagt Lars Eidinger einmal in Sein oder nicht Sein, kurz bevor er sich
den Franz Moor erlutscht. „Ich möchte, dass mich alles trifft, bewegt und berührt.“ Wahrscheinlich ist er genau der Schauspieler, den wir verdient haben. Ganz sicher sind wir nicht das Publikum, das er verdient hätte.